250 Jahre Beethoven
Ein Stadtspaziergang mit Manfred Görgens
„Geliehen ist uns alles, was wir lieben“
„Die Leber schien auf die Hälfte ihres Volumens zusammengeschrumpft, lederartig fest, grünlichblau gefärbt und an ihrer höckerichten Oberfläche, so wie an ihrer Substanz mit bohnengroßen Knoten durchwebt.“ Am 26. März 1827 starb Ludwig van Beethoven. Der Befund des obduzierenden Arztes deutete auf eine Leberzirrhose, die oftmals von eifrigem Alkoholkonsum verursacht wird.
Allzu leichtfertig werden aber aus dem Offenkundigen die falschen Schlüsse gezogen. Noch am Sterbebett hatte Dr. Malfatti dem Komponisten Wein gegen die körperlichen und seelischen Schmerzen verordnet. Es waren Qualen, deren Anfänge schon den jungen Beethoven nach eigener Bekundung an die Schwelle des Todes geführt hatten. „Mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens“, schrieb er 1802 in seinem Heiligenstädter Testament, doch fand er nach wenigen Zeilen zu einem herzzerreißenden Kontrapunkt: „Es fehlte wenig und ich endigte selbst mein Leben. Nur sie, die Kunst, sie hielt mich zurück.“ Acht Jahre später komponierte er eine Bagatelle in a-Moll, die zur Liebeshymne schlechthin wurde. Beethovens Biograph Ludwig Nohl entzifferte die Widmung als „Für Elise“. Da es keine Elise im Leben des Komponisten gegeben hat, die Handschrift aber verschollen ist, lässt sich nur vermuten, dass in Wahrheit die Klavierschülerin „Therese“ notiert war, Nichte eben jenes Malfatti, der später arglos schädliche Arznei verabreichte.
Die vielschichtigen Windungen und Schleier im Leben des Musikers haben aus manchem Biographen einen Therapeuten gemacht, der posthum ein Leiden zu kurieren sucht. Auch in diesem Phänomen lebt der Mythos einer unfassbaren Person weiter, den Beethoven selbst aufbauen half. Wahr bleiben letztlich nur seine Noten mit noch seltsameren Mysterien: Gerade wenn der Chor in der 9. Sinfonie das Wort „Freude“ anstimmt, befällt den empfindsamen Zuhörer Todestrauer.
„Heitert dennoch euren Schmerz“
„Wie geht es dir in Wien? Kann ich mal zu dir kommen?“ Die Briefe und Gästebücher im Bonner Beethoven-Haus quellen über vor Liebesbekundungen aus Ländern rund um den Globus. Die einen versuchen sich in Poesie, andere schürfen tiefe Gedanken oder werden einsilbig: „Cool!“ Doch sie alle sind offenkundig vom gleichen Gefühl der Dankbarkeit bewegt, denn ohne diese Musik würde der Welt ein großes Stück ihrer Farben fehlen.
Wäre es nach dem Willen der Stadt Bonn gegangen, so würde der Welt auch das Geburtshaus Beethovens fehlen. 1889 konnte nur ein eigens gegründeter Verein den Abriss des maroden Gebäudes verhindern, während andere Häuser, in denen die Familie wohnte, längst nicht mehr stehen. Immerhin hatte Ludwig van Beethoven schon 1792 seine Heimat Bonn verlassen und war nach Wien gezogen, damals Europas Musikhauptstadt neben Paris und London. 20 000 Menschen begleiteten dort den toten Komponisten von seinem letzten Wohnsitz zum Friedhof Währing und vernahmen Franz Grillparzers Grabrede: „Wir stehen weinend an den zerrissenen Saiten eines verklungenen Spiels.“ Hatte Beethoven schon zu Lebzeiten so viele Umzüge hinter sich gebracht, so wurden selbst die Gebeine noch einmal umgebettet. Ihre letzte Ruhe fanden sie 1888 auf einem Ehrengrab des Wiener Zentralfriedhofs.
„Zwar schuf das Glück hienieden mich weder reich noch groß“
Seit 1982 ist die Aufführung von Beethovens Neunter für die japanische Stadt Naruto ein obligatorisches Ritual. Mit Kriegsgefangenen war die „Ode an die Freude“ im Ersten Weltkrieg nach Japan gelangt und hat den Taumel entfacht. Inzwischen sind wahre Heerscharen aus Asien an den Rhein geströmt, um sich fürs Familienalbum vor dem Haus Bonngasse 20 ablichten zu lassen.
Allerdings trügt die barocke Fassade, denn sie verstellt den Blick auf das bescheidene Hinterhaus, in dem die Familie wohnte und Ludwig das Licht der Welt erblickte. Ein Taufschein vom 17. Dezember 1770 gibt den einzigen Hinweis auf das genaue Datum. Bei der hohen Kindersterblichkeit war es üblich, neue Erdenbürger noch am Tag der Geburt, spätestens am folgenden Tag in die christliche Gemeinschaft aufzunehmen, damit der Tod sie wenigstens nicht als Heiden ereile. Vier Geschwister Ludwigs starben tatsächlich als Kleinstkinder, außer ihm wurden nur seine Brüder Kaspar Karl (1774—1815) und Nikolaus Johann (1776—1848) erwachsen. Zeitlebens vertrat der Komponist die Auffassung, der Taufschein sei seinem älteren, längst toten Bruder Ludwig Maria zuzuordnen und er selbst erst im Dezember 1772 geboren. Der Vater hat zu dieser Ansicht beigetragen, indem er das Alter seines „Wunderkindes“ gelegentlich bewusst niedriger ansetzte.
Den Namen Ludwig trug bereits der Großvater, auch er Musiker, der aus dem flämischen Mecheln stammte. Dessen Sohn Johann, der um 1740 zur Welt kam, heiratete im November 1767 die damals 20 Jahre alte Maria Magdalena Keverich aus Ehrenbreitstein. Mit ihr zog er in die erste Etage eben jenes winzigen Hinterhauses. Bei aller Enge spiegeln die Räume nicht den Zustand im 18. Jahrhundert wider, denn damals existierte keine Verbindung zum Vorderhaus, und im Erdgeschoss befanden sich Ställe und Lager. Mit nur fünf mal drei Metern bot das Wohnzimmer, heute Raum 2 des Museums, noch den meisten Platz. In Raum 4, dem Musikzimmer des Vaters, liegt in einer Vitrine Ludwigs Taufhäubchen. Das Geburtszimmer hingegen ist leer bis auf eine Büste des reifen Beethoven. Anfang und Ende, Leere und höchste Erfüllung treffen sich an einem unscheinbaren Ort und verweisen darauf, dass in jedem neuen Leben der Keim für das Großartige so sehr wie für das Nichtige steckt.
„Nun treibt mich oft Sehnsucht hinaus auf die Höh‘n“
Die Gedrängtheit im Beethoven-Haus scheint wie ein Aufruf, in die Natur hinauszuziehen und dabei auch die Fesseln niederer Herkunft hinter sich zu lassen. Nur die ersten Lebensjahre verbrachte Ludwig im Hinterhaus an der Bonngasse, dann begannen die Umzüge, die den späteren Komponisten offenbar so sehr prägten, dass er immer wieder den Wohnort wechselte. Von der Bonngasse zog die junge Familie 1774 zum Dreieck, von dort in die Rheingasse, wo zuvor schon der Großvater bei der Bäckerfamilie Fischer gewohnt hatte, weiter in die Rathausgasse, zurück in die Rheingasse, 1785 in die Wenzelgasse. Es wäre müßig, der Familie auf ihrem rastlosen Weg durch Bonn zu folgen, denn längst haben Abriss und Krieg die sichtbaren Spuren verwischt. Das Haus Rheingasse 24 etwa wurde 1944 Opfer von Bomben. An seiner Stelle steht ein schmuckloses Haus mit einer Gaststätte im Erdgeschoss, daneben ein Hotel, das den Namen Beethoven bewahrt hat.
Ebenfalls verschwunden ist am Markt 11 die Gaststätte „Im Zehrgarten“, die mit ihrem Wein und der Wirtshaustochter zum Magneten für die Bonner Männerwelt wurde. Ein besonders berüchtigter Zecher war Vater Johann, der sich oftmals nur unter lautem Getöse vom Schanktisch wegzerren ließ. Über sein Leben ist im übrigen nicht viel bekannt. Er war Musiker mit bescheidenem Erfolg, der aber genügend Gespür besaß, um das außergewöhnliche Talent seines Sohnes Ludwig zu erkennen. Der Knabe war erst elf Jahre alt, da nahm Johann ihn von der Schule und ließ ihm fortan nur noch Musikunterricht zukommen. Ludwig spielte Klavier, Violine und Orgel, hatte aber bis zum Lebensende Schwierigkeiten, einfache Rechnungen durchzuführen.
Johann sorgte auch dafür, dass einflussreiche Leute in sein Haus kamen und Ludwig früh Konzerte geben konnte. Gerade mal sieben Jahre alt, trat er als Pianist in Köln auf. Im Alter von zehn Jahren spielte er in der Minoritenkirche (heute St. Remigius) regelmäßig die Orgel. In dem Gotteshaus steht der Taufstein der ursprünglichen, später abgerissenen Kirche St. Remigius, über dem Beethoven getauft wurde. Die Orgel wurde Opfer des Zweiten Weltkriegs, nur der Spieltisch entkam den Flammen, weil man ihn schon zuvor dem Beethoven-Haus überlassen hatte. Er ist dort neben einem Vorkriegsfoto des einst imposanten Instruments zu sehen.
Ludwig machte vielversprechende Fortschritte. 1783 schrieb Christian Gottlieb Neefe, der ihm Unterricht an der Orgel der Bonner Schlosskirche erteilte, Beethoven spiele bereits „größtentheils das wohltemperirte Clavier von Sebastian Bach“. Aber der Lehrer holte noch weiter aus: „Dieses junge Genie (…) würde gewiss ein zweyter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen.“ Ludwigs erste Veröffentlichung, neun Klaviervariationen über einen Marsch von Ernst Christoph Dressler, erschien, als er erst elf Jahre alt war. 1784 ernannte ihn der soeben zum Kurfürsten von Köln gewählte Maximilian Franz zum 2. Hoforganisten. Der Jugendliche stand damit im Sold und in einer Verantwortung, die gewiss schwer auf dem 14-Jährigen lastete. Auch in jüngeren Jahren hatte sich die Musik mit manchem Leid verbunden. Der frühere Lehrer Tobias Pfeiffer pflegte ihn, nachdem er mit Vater Johann im Wirtshaus gebechert hatte, nachts aus dem Bett zu zerren und zum Üben zu zwingen. Wie dem auch sei, Beethoven schritt bald nicht mehr so fort, „wie er angefangen“, sondern vernachlässigte ab 1785 das Komponieren.
„Wenn, längst verhallt, geliebte Stimmen schweigen“
Ernst Moritz von Arndt, Clara und Robert Schumann, Adele Schopenhauer, Friedrich von Schillers Ehefrau Charlotte – auf dem Alten Friedhof an der Bornheimer Straße ruhen die prominenten Bürger Bonns. 1715 hatte Kurfürst Joseph Clemens das Gräberfeld außerhalb der damaligen Stadtgrenze „vor gemeine Einwöhner, Paßanten und Soldaten“ eröffnet. Betuchte Kreisen durften weiterhin ihre Toten auf dem Friedhof bei St. Remigius beisetzen, bis Kurfürst Maximilian Franz am 5. April 1787 sämtliche Beerdigungen im Stadtzentrum untersagte.
Zweifellos hätte die Familie van Beethoven auch vor der Verfügung nicht zu den Privilegierten gezählt, selbst wenn Ludwig ein begabter Musiker war. Ebenfalls im April 1787 beurlaubte ihn der Kurfürst, damit er zu Studienzwecken nach Wien reisen konnte. Aus dem geplanten Unterricht bei Mozart wurde nichts, möglicherweise kam es nicht einmal zu einem Treffen. Schon nach wenigen Wochen musste Ludwig van Beethoven heimkehren, weil seine Mutter schwer erkrankt war. Maria Magdalena starb am 17. Juli 1787 und wurde auf dem Alten Friedhof beigesetzt.
Ludwig selbst lebte noch, da veräußerte die Stadt Bonn 1826 das Grab seiner Mutter erneut. Nachdem die genaue Lage erst 1932 rekonstruiert werden konnte, stiftete das Beethoven-Haus einen neuen Gedenkstein mit einem Satz aus dem ersten erhaltenen Brief des Komponisten: „Sie war mir eine so gute liebenswerte Mutter, meine beste Freundin.“
Da der Vater zunehmend dem Alkohol verfiel, stand Ludwig nach dem Tod der Mutter fast allein in der Verantwortung für die Familie. Rückhalt und Fürsorge fand er bei Helene, der Witwe des Hofrates von Breuning, deren Kinder, vor allem Stephan, seine Freunde wurden. Abermals ist es nur eine Plakette, die am heutigen Kaufhof daran erinnert, dass dort einst das Wohnhaus der Breunings stand.
Würdige Kulisse für das Beethoven-Denkmal auf dem Münsterplatz wurde dann auch das barocke Palais, das inzwischen von der Post genutzt wird. Scharen von Touristen versammeln sich dort Tag für Tag zum Gruppenbild mit dem steinernen, vom Dresdner Bildhauer Ernst Julius Hähnel entworfenen Komponisten. Am 22. August 1845 eingeweiht, war dies das erste Denkmal, das die Stadt Bonn seinem berühmten Sohn widmete. Zugleich veranstaltete sie zur Einweihung das erste Beethoven-Fest, das sich mittlerweile von einer dreitägigen Feier zur einmonatigen Großveranstaltung mit diversen Vorkonzerten entwickelt hat.
„Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein“
Ein zweiter Mozart, ein Wunderknabe, wurde Ludwig van Beethoven nicht. Vielmehr entwickelte er seine wahre Größe erst mit fortschreitendem Alter. Bedeutende Grundlage für die eigentliche Entfaltung war, dass er sich immer mehr mit geisteswissenschaftlichen Fragen, eben mit den Gedanken der Aufklärung beschäftigte. Seine Heimatstadt bot dafür das geeignetere Feld als etwa der Nachbar Köln. Schon 1777 hatte der Kurfürst in Bonn die Kurkölnische Akademie gegründet. 1786 stieg sie zur Universität auf, um freilich unter französischer Herrschaft vorübergehend wieder aufgelöst zu werden. Am 14. Mai 1789, zwei Monate vor dem epochalen Sturm auf die Bastille, schrieb sich Beethoven in der jungen Bonner Lehrstätte ein.
Das kritische Denken, das ihn so stark bewegte, sollte ihn weit über Mozart und Haydn hinaus führen, die als gefügige Untertanen des Adels wenig von allgemeiner Bildung in sich aufnahmen. Beethoven hingegen war ein Mensch des aufstrebenden Bürgertums. Zwar finanziell abhängig vom Adel, beobachtete er doch dessen Dünkel und Gehabe distanziert und entwickelte den Gönnern wie schließlich auch Freunden gegenüber ein launisches, aufsässiges Wesen. Rechtfertigung dafür sah er offenbar in seiner Auffassung, dass einem Genie, als das er sich bald feiern ließ, eine soziale Sonderstellung zustehe.
1792 gewährte der Kurfürst seinem Hofmusiker ein Stipendium für eine zweite Wien-Reise. Im Sommer hatte Joseph Haydn auf seinem Weg von London Station in Bonn gemacht, um Beethoven im Konzertsaal der Redoute in Bad Godesberg zu hören. Der österreichische Komponist war hinreichend angetan, um den jungen Bonner Kollegen als Schüler zu akzeptieren. Zur Abreise aus Bonn am 2. November 1792 schrieb Ferdinand Graf Waldstein in Beethovens Stammbuch: „Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydns Händen.“ Sechs Wochen später starb Johann van Beethoven. Ludwigs Brüder folgten nach Wien, womit sich die Spuren der Familie in Bonn verlieren. Nach der Besetzung des Rheinlandes durch die Franzosen (1794) gab es keinen Hof mehr, an den der Musiker hätte zurückkehren können.
„Aber, lieber Beethoven, was haben Sie denn da wieder gemacht.“
Das Knarren und Quietschen der Holzdielen begleitet den Besucher durchs Beethoven-Haus und ruft in Erinnerung, dass dem Menschen ein Hör-Sinn gegeben ist. Umso gespenstischer gestaltet sich der Augenblick, da die Schritte vor einer Vitrine mit Beethovens Hörrohren verhallen. Groß wie ein Suppentopf ist eines dieser Geräte, als lasse sich der Schall einfangen wie ein Schmetterling. Viel Tinte wurde darüber vergossen, dass alle zur Verfügung stehende Hilfe ausgerechnet bei Beethoven versagte.
„Wollte ich auch zuweilen mich einmal über alles das hinaussetzen, o wie hart wurde ich durch die verdoppelte traurige Erfahrung meines schlechten Gehörs dann zurückgestoßen, und doch wars mir noch nicht möglich, den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub.“ Das Heiligenstädter Testament von 1802 nimmt den Zustand der Taubheit bereits zu einem Zeitpunkt vorweg, da allenfalls von beginnender Schwerhörigkeit die Rede sein kann. Die Anfänge des Gebrechens zeigten sich in den frühen Wiener Jahren am Beginn von Beethovens kometenhaftem Aufstieg. „Ganz allein fast, nur so viel, als es die höchste Notwendigkeit fordert, darf ich mich in Gesellschaft einlassen“, so schreibt er und kann einen solchen Rückzug doch nicht schlüssig genug erklären. Für die Nachwelt bleibt der Verdacht, dass Beethoven die Schwerhörigkeit auch zum Vorwand nahm, der Gesellschaft immer dann zu enteilen, wenn er die Einsamkeit brauchte. Er suchte das Leiden, das Leiden suchte ihn, wobei ihm die Natur den niemals enttäuschenden Fluchtpunkt vor der Konversation bot. Mindestens 25 Umzüge innerhalb Wiens bekunden ebenso den Drang, sich nicht auf allzu Menschliches einzulassen.
Die Nachwelt muss aber zugleich bedenken, dass derlei psychologische Deutungsversuche nicht zum Repertoire der Zeit zählten. Selbst wenn eine Wahrheit in ihnen steckt, so wird Beethoven sein Leiden dennoch als eine Geißel empfunden haben, die ihn willkürlich traf. Er wird sich in Gedanken an Hilfe, Auswege und Fluchten zermartert haben. Das depressive Verhaltensmuster, das man heute diagnostizieren und therapieren würde, nahm ihn in den Würgegriff und zwang ihm so manche Absonderlichkeit auf, vor der die Mitmenschen fassungslos verstummten. Das unkonventionelle Wesen aber gab ihm ebenso die Kraft, so konsequent mit starren musikalischen Regeln zu brechen.
„Weil er so häßlich war, und halb verrückt“, so begründete die Bonner Sängerin Magdalena Willmann, warum sie Beethovens Heiratsantrag abwies. Lisette Bernhard tadelte weiter: „Dabei sprach er sehr im Dialect und in einer etwas gewöhnlichen Ausdrucksweise, wie überhaupt sein Wesen nichts von äußerer Bildung verrieth, vielmehr unmanierlich in seinem ganzen Gebahren und Benehmen war.“ In diesem Urteil spiegelt sich nicht zuletzt der Geist einer Gesellschaft, die den Genius zwar wegen seiner Kunst verehrte, ihn aber gerade in seiner „halben Verrücktheit“ nicht bedingungslos in ihren Reihen aufnehmen mochte. Selbst Goethe schrieb über ihn nach einem kurzen Treffen: „Er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht Unrecht hat, wenn sie die Welt destestabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andere genussreicher macht.“
„Nimm sie hin denn, diese Lieder“
Beethoven sollte an mehreren Frauen scheitern, so auch 1810 an jener Therese („Elise“?) Malfatti. Zwei Jahre später schrieb er an eine „unsterbliche Geliebte“, nur um einer herkömmlichen Liebeserfüllung bald zu entsagen. Zum Launischen und Narzisstischen seines Wesens gesellte sich zunehmend die äußere Verwahrlosung. Mit dem Tod seines Bruders Karl Kaspar 1815 begann eine düstere, beruflich nicht sonderlich produktive Zeit, in der er mit Schwägerin Johanna um das Sorgerecht für den Neffen Karl stritt und seine Ansprüche schließlich gerichtlich geltend machen konnte. Dass ausgerechnet in diesen Jahren die Schwerhörigkeit zur Taubheit voranschritt, fordert ein weiteres Mal zu psychologischer Deutung heraus. Jedenfalls bediente sich Beethoven etwa ab der Zeit, als Karl bei ihm einzog (1818), der „Konversationshefte“, in denen Besucher ihre Anliegen niederschrieben.
Das despotische Auftreten gegenüber dem Neffen wurde Thema eines Films, der im Untertitel Die ganze Wahrheit verspricht. Mit der Hoffnung auf eine solche Aufdeckung sollte man sich allerdings nicht tragen, denn die Gestalt des großen Musikers bleibt in vielen Zügen rätselhaft. Die reaktionären Beschlüsse des Wiener Kongresses (1814/15) enttäuschten Beethovens Idealismus und trugen dazu bei, dass er sich in familiäres Geplänkel einließ. Manches deutet darauf hin, dass er zur Schwägerin, die er so oft als unwürdige Person beschimpft hatte, schließlich sogar eine Liebesbeziehung aufbaute.
Ausgerechnet in dieser merkwürdigen Gefühlslage, zudem als endgültig tauber Mensch, komponierte er sein grandioses Spätwerk. 1821 erkrankte Beethoven an einer „Gelbsucht“, womit freilich ein Symptom und keine Ursache des Leberleidens beschrieben wird. Sechs Jahre später versagte das Organ seinen Dienst. Josef Danhauser fertigte von dem Verstorbenen eine ergreifende Totenmaske. Wenig später öffneten Ärzte Beethovens Schädel, doch das erhoffte Indiz für die Taubheit fanden sie nicht. Neuere Untersuchungen an Knochen und Haaren verwiesen auf eine Bleivergiftung, die zumindest die Leberzirrhose erklären könnte. Damals wurde Wein mit Bleizucker gesüßt, Trinkwasser durch Bleirohre geleitet und selbst bei Kuren bewusst bleihaltiges Wasser verwendet.