’71 – Hinter feindlichen Linien
Regisseur Yann Demange legt mit ’71 – Hinter feindlichen Linien einen Film über den Nordirlandkonflikt vor. Dieser Bürgerkrieg zwischen Protestanten und Katholiken hat im Zeitraum von 1969-1998 mehr als 3.500 Menschenleben gekostet, mehrheitlich Zivilisten. Erst das Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 beendete dieses Kapitel der Britisch-Irischen Geschichte. Inzwischen wird der Konflikt nur mehr als „Trouble“ heruntergespielt.
’71 will allerdings gar nicht den Anspruch erheben, diesen Bürgerkrieg zu erklären oder dem Zuseher ein wenig unbequemen Geschichtsunterricht vermitteln (wie bei Filmen wie Carlos – Der Schakal, München oder Der Baader-Meinhof-Komplex, welche auf durchaus unterhaltsame Weise ernste Themen mit ein mehr oder weniger fiktionaler Aufbauschung in die heimischen Wohnzimmer bringen). In ’71 geht es vielmehr um das Schicksal des jungen Soldaten Gary Hook (überzeugend: Jack O’Connell), der irgendwann im Jahr 1971 von seiner Einheit in Belfast getrennt wird und zwischen den Fronten um sein Überleben kämpfen muss.
Wenn jetzt der falsche Regisseur an dieses Thema herangeht könnte aus dem Film eine ziemliche Gurke voller übertriebener Aktion, übermenschlich stilisierten Heldenfiguren und überzogener Gewalt gemischt mit einer ordentlichen Prise Pathos und womöglich einer Liebesgeschichte werden. Zum Glück ist Yann Demange hier eher ein goldrichtiger Regisseur denn ein untalentierter Stümper (hab ich Namen genannt? Nein, Mr. Bay, würde ich doch nie!).
Der Film beginnt dann auch mit den restlichen Tagen der Militärausbildung irgendwo in der Pampa und der darauf folgenden Versetzung nach Belfast. Dort soll das Militär die örtliche Polizei bei Hausdurchsuchungen unterstützen und gegen die immer höher drehende Gewaltspirale vorgehen. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Es stürmen immer mehr aggressive Zivilisten auf die Straßensperren, einem Soldat wird das Gewehr durch ein Kind entrissen, bei der Verfolgung dieses Kindes durch zwei Soldaten wird einer erschossen und der andere kann gerade so entkommen und wartet in einer dunklen Ecke hinter einen Gebäude, bis es Nacht wird. Dieser Jemand ist Gary Hook.
Was folgt ist ein sehr intensiver Trip in ein absolut feindliches Gebiet. Letztlich weiß weder Gary noch der Zuschauer, wie man aus so einer Bredouille halbwegs wieder herauskommen kann, wem man trauen kann, wo man hingehen kann und wie man es aus Belfast heraus zurück zur Militärbasis (einer umfunktionierten Halle) kommt. Der Film ist dabei äußerst bedrückend inszeniert. Wenn Demonstranten die Soldaten umzingeln, die ersten Steine fliegen, Parolen gebrüllt werden hab ich mich immer unwohler gefühlt. Man merkte der Situation an, dass es kaum einen Ausweg gibt, dass man zur falschen Zeit am falschen Ort ist und das auch sein muss, da man sonst auch nichts an der Gesamtsituation ändern kann (Schutz der Zivilisten, Suche nach Waffenverstecken, Aushebung von IRA-Zellen).
Der Film stellt Belfast dabei fast als tote Stadt dar. Es gibt ziviles Leben, es gibt Pubs, Frauen mit Kinderwagen, Leben auf den Straßen. Es gibt aber auch Mobs die nachts durch die Straßen ziehen und Steine oder Brandsätze werfen, oft Kinder die bei der Sache mitmachen, Autos die einzeln durch die Gegend fahren, Angst als Kollaborateur gebrandmarkt zu werden – in einem Konflikt der zumindest für mich so gar nicht nachvollziehbar ist. Wie es schon im Song „Race War“ der US-Hardcore-Band Carnivore so schön heißt: „Muslims against Christians – And the Arabs versus Jews – The Catholics and Protestants – No one wins, we all lose“
Gary will allerdings einfach nur überleben. Seine Odyssee führt ihn dabei von einer Scheiße in die nächste, jede tiefer als die vorherige. Die Kamera ist immer dabei, die Bilder ungeschönt und realistisch, die Musik oft zurückhaltend eingesetzt, unterstützt von einem sehr dunklen und bedrohlichen Basswummern im Untergrund.
Nebenbei erleben wir auch die jungen Fanatiker der IRA, die auf Teufel komm raus den Soldaten finden und töten wollen, die Armee, die ihren Kameraden zurückholen will und die MRF (Military Reaction Force), die als eine Art Militärgeheimdienst Spitzel bei der IRA haben und ihre Leute nicht auffliegen lassen wollen. Und Kinder und Jugendliche, die fanatisiert ihr Leben für die Sache einsetzen ohne diese Sache so richtig zu begreifen.
Ich habe hier die Handlung extra ein wenig kurz beschrieben, es gibt ein paar Szenen, die mich völlig unvorbereitet getroffen haben und die auch Euch als potentielle Zuschauer völlig unvorbereitet treffen sollen. Ich würde empfehlen, einen Bogen um Trailer oder zu gründliche Reviews zu machen und den Film einfach mal anzuschauen.
’71 macht seine Sache als bedrückender und hochspannender Thriller mit Polithintergrund ohne moralische Wertung sehr gut. Die Ereignisse gehen ihren Weg und das unaufhaltsam. Wer einen spannenden Film sucht sollte „71 auf die Liste setzen, fernab der Einheitskost der Multiplexkinos wird hier die Spannungsschraube nach und nach immer fester angezogen.
Der Film hat eine Goldene Athena (Hauptpreis des Athener internationalen Filmfestivals) und 6 weitere Preise (u.a. British Interdependent Film Award 2014, Dublin Film Critics Circle Award 2014) gewonnen. Der Film erschien am 18. August 2015 auf DVD und Blu-Ray, englischer und deutscher Ton sowie deutsche Untertitel sind an Bord. Laufzeit ist 96 (DVD) bzw. 100 (Blu-Ray) Minuten. Die Bildqualität ist einwandfrei, wenn es nachts im Bild rauscht liegt das an der realistischen Beleuchtung und nicht am Mastering. Der Ton der Blu-Ray ist als knackiges DTS-HD Master Audio 5.1 an Bord und überzeugt auf ganzer Linie. Geschaut habe ich auf englisch, der Film ist ungeschnitten ab 16 freigegeben.
Disclaimer: Ein Rezensionsexemplar der Blu-ray wurde uns von Ascot Elite Home Entertainment zur Verfügung gestellt.
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