Albion (1995)
Albion ist ein nach allen gängigen Maßstäben schlechtes Rollenspiel. Taktische Kämpfe in veralteter Grafik auf einem Schachbrettfeld mit recycleten Gegnern ohne austarierten Schwierigkeitsgrad? Check. Und doch ist Albion verdammt geil. Lest hier, warum.
Warum kennt das keine Sau?
Man kann Albion nicht gut googeln. Allein die Begriffsklärung auf Wikipedia verweist auf circa 100 Einträge, auf die „Albion“ verweisen könnte,1 und das hier behandelte Rollenspiel ist bei Weitem nicht der populärste. Dabei ist Albion lediglich der Planet, auf dem die Handlung spielt. Allein schon zum Zwecke der Vermarktung hätte man sich besser einen anderen Namen ausgedacht als ein antikes Wort für Großbritannien.
Das gilt auch für die Vermarktung als „Sci-Fi-Rollenspiel“; zwar spielt Albion im Jahre 2227 und man startet als Pilot Tom Driscoll an Bord der Toronto, einem riesigen Raumschiff, von dem eine Erkundungsmission zum (bis dahin noch unbenannten) Planeten Albion geflogen werden soll; ein Planet, von dem angenommen wird, er sei unbewohnt, unbewohnbar und in jeder Hinsicht eine öde Marslandschaft. (Weit gefehlt!) Doch ist man einmal auf dem Planeten angekommen, war’s das mit Science-Fiction: Nix mit Laser-Rumgeballer, sondern Magie, Schwerter, Rüstungen und Gold. Viel Gold. Mehr als man tragen kann. Klassisches RPG-Einmaleins! Mit besserem Marketing hätte Albion auch bei klassischen Rollenspielern Anklang finden können. So ist die Fanbase dieses Spiels zwar klein, aber enthusiastisch.2
Was macht man da?
Einmal auf Albion angelangt – das heißt abgestürzt – stellt das Zweimannerkundungsteam um Pilot Driscoll und dem Biologen Rainer Hofstedt fest, dass Albion sehr wohl bewohnt ist – und wie! Man lernt die indigene Bevölkerung, die Iskai, kennen (groß, dünn, jung) und bemerkt schnell, wenn auch unter unangenehmen Umständen – Achtung, Spoiler! – dass auf Albion auch Menschen leben, Menschen keltischer Abstammung. Anfangs sind die Hauptcharaktere nur darauf bedacht, einen Rückweg zur Erde zu finden, freunden sich ab er dann mit dem fremden Land und seinen Bewohnern an und lernen schließlich noch – Achtung, Spoiler! – dass man auf der Erde weit mehr mit Albion vorhat als ihn nur harmlos zu „erkunden“. Heißt: Die Story des Spiels bleibt nicht nur durch interessante Seitenstränge – und derer gibt es zuhauf – spannend, sondern auch durch die sich immer mal wieder drehende Hauptgeschichte.
Wie ist das so?
Die Mechanik des Spiels schwankt dabei zwischen ungewöhnlich, abwechslungsreich und völlig bescheuert. Ungewöhnlich deshalb, weil man nicht einfach von einem Ort zum anderen wandert und dazwischen jeweils einen Dungeon durchquert; Städte und Dungeons finden sich eher unregelmäßig und in sehr variabler Größe, so dass man nie weiß, welche Herausforderungen man eigentlich gerade zu bewältigen hat (deshalb immer großzügig bevorraten!). Abwechslungsreich deshalb, weil es keine kohärente Spiellogik gibt; die Story ist eher als Spielfilm aufgezogen und so muss man sich an jedes Rätsel mit neuen Überlegungen herantasten; einige (Side-)Quests sind meiner Meinung nach ohne Komplettlösung sogar unlösbar.3
Und bescheuert deshalb, weil der eigentlich typische Rollenspielkram – kämpfen und sammeln – völlig unausgegoren ist. Man kämpft auf einem mäßig interessanten Schachfeld gegen Gegner, die beispielsweise Tier 1, Tier 2 oder Tier 3 heißen,4 die entweder sehr leicht zu besiegen sind oder einen ständig per KO-Schlag plattmachen. Einige Zauber sind so stark, dass man sich wie der letzte Cheater fühlt, einige Charaktere sind im Kampfe so nutzlos, dass man sie ständig flüchten lässt! (Echt, Rainer, wozu warst Du nochmal da?) Und die 3D-Ansicht der Dungeons ist zwar eine ganz nette Abwechslung, sieht aber schon ziemlich scheiße aus. Und es kann einem bei längerem Spielen übel werden.
Und das macht trotzdem Spaß?
Dennoch frohlockt man, wenn man einmal so eine richtig geile Waffe gefunden hat. Lugh’s Dolch und Danu’s Licht sind schon ziemlich klasse. Oder wenn man Schränke durchwühlt. Bei Albion kann nämlich überall etwas Interessantes sein! Es ist kein Loot-Game wie Diablo, aber dennoch wird man für fleißiges Suchen belohnt. So manche unscheinbare Höhle erweist sich als wahre Schatzgrube.
Und vor allem frohlockt man, wenn man weiterkommt: Denn dann entstehen neue Wendungen, neue Wege und vor allem neue Dialoge. Albion enthält allen in allem etwa 850.000 Wörter (glaube ich, mal irgendwo gelesen zu haben) und keines davon ist einfach so dahingerotzt. Nicht jedes Wort ist zielführend, aber jedes Wort ist interessant.
Eines noch: Die Grafik mag alt sein, das heißt aber nicht, dass die Welt Albions nicht dennoch schön gestaltet ist, vor allem die Farbgebung macht einiges her. Wer über technische Unzulänglichkeiten hinwegsehen kann, dem verspreche ich, dass er Albion in sein Herz schließen wird.
[Albion kann frei heruntergeladen werden: https://www.abandonwaredos.com/abandonware-game.php?abandonware=Albion&gid=1611 ]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Albion_(Begriffskl%C3%A4rung) ↩
- z.B. https://albionworld.fandom.com/wiki/Timeline ; https://albionweb.miraheze.org/wiki/Hauptseite; für einen Pen&Paper-Remake-Versuch des Spiels siehe http://albion2.gratogel.de/ und http://www.gratogel.de/index2.htm . ↩
- Stichwort: „Attentat“. Kenner werden wissen, was ich meine. ↩
- Andere Gegner heißen u.a. Furcht, Bandit oder Pest (1,2,3). ↩