Alligatoah – Rotz und Wasser (2022)
Alligatoah ist jetzt Ü30
Auf Schlaftabletten & Rotwein V folgt Rotz und Wasser: Der singende Schauspielrapper Lukas Strobel a.k.a. Alligatoah beglückt uns wieder einmal mit eingängigen Melodien, klugem Wortwitz, überraschend viel Gefühlsduselei und natürlich wie immer: wenig Meinung.
Rund dreieinhalb Jahre sind vergangen, seit Alligatoah Schlaftabletten und Rotwein V veröffentlichte, das uns um Geniestreiche wie „Wo kann man das kaufen?“ oder „Wie Zuhause“ bereicherte und seinen Ruf als vielseitiges Rap- und Gesangstalent festigte. Mit Rotz & Wasser bringt er nun ein vergleichsweise kompaktes Album mit 12 Tracks, wenig Albernheiten und vielen „reifen“ Themen wie Trennung, Vaterschaft und sogar psychischen Belastungen auf den Markt.
Das halbe Album vorab veröffentlicht – warum!?
Alligatoah hat ein Standing innerhalb seiner Fanbase das vermutlich nur mit den Ärzten vergleichbar ist, und so kann er es sich herausnehmen, auf einige Gepflogenheiten der Szene zu verzichten. Interviews zur Promo? Kaum, Aligatoah antwortet nur auf selbst gestellte Fragen, wie in diesem lustigen Schülerreferat mitsamt Overheadprojektor. CDs bei Amazon? Das einzige physisch erhältliche Format ist ein Vinylbundle mit Shirt im eigenhändig erwählten Shop. Social Media? Alligatoah hat sich verabschiedet und kommuniziert künftig wieder via Homepage und Newsletter.
Umso erstaunlicher ist es da, dass er sich einem der widerwärtigsten Trends moderner Popmusik hingibt: Das halbe Album scheibchenweise vorab zu veröffentlichen. Los ging es bereits 2021 mit dem Esther-Graf-Feature „Mit Dir schlafen“, dem fünf weitere Auskopplungen folgten, wobei nur bei den letzten beiden überhaupt klar war, dass diese Teil eines neuen Albums sein werden. Mein lieber Herr ga Toah: Es gibt Leute, die möchten ein Album am Stück hören, wenn es neu ist, und vorher keinen Song kennen. Wenn neue Veröffentlichungen Teil eines künftigen Albums sein werden, sagen Sie es doch einfach.
Das Material: Irgendwie dünn
An den zahlreichen Vorabveröffentlichungen mag es auch liegen, dass einem das ganze Album irgendwie sparsam erscheint; es fehlt auch der übliche Dreiteiler wie „Mama, kannst Du mich abholen“ oder die Detektivgeschichte „Die grüne Regenrinne“; dennoch verdient der Longplayer mit seinen 43 Minuten zweifellos seinen Namen, zumal es Bands gibt, die zehn Lieder mit 28 Minuten Spielzeit „Album“ nennen. Und die Vergangenheit lehrt: Da könnte noch was kommen. Das Vorgängeralbum wurde in einer späteren Deluxeedition einfach mal um vier Tracks erweitert und zudem wurde das grandiose „Nicht Wecken“ außerhalb des Albums in dreifacher, dreifacher (ja, dreifacher!) Ausführung auf YouTube released.
Möglicherweise sind die Schwerpunkte inzwischen aber auch anders gelegt. Die Musikvideos zu den Tracks, von Strobel erdacht und dirigiert, werden von mal zu mal aufwändiger und auch die Inszenierung der Liveaufführung „Friends of Alligatoah“ (u.a. mit Sido, Esther Graf und Felix Kummer) wurde sicher nicht über Nacht erdacht. Bisher jedoch existiert nur der kleine Bonustrack „Merch“, auf dem Alligatoah mit markanter Kopfstimme protzt.
Holpriger Start …
Rotz & Wasser startet mit „Feinstaub“, einem Rachesong eines Verlassenen voll politischer Metaphern. Weder musikalisch noch textlich erschließt sich, warum dies ein guter Auftakt für ein Album sein soll, wo doch Alligatoah-Alben in der Regel selbstreferenziell und melodisch beginnen? „Mit Dir schlafen“ feat. Esther Graf ist da schon repräsentativer: Hier wird aus voller Brust gesungen, wie auf dem gesamten Werk mehr Gesang als Rap gepflegt wird.
„Hart Vermissen“ ist das Highlight der ersten Albumhälfte: Ein Verliebter lässt seine bessere Hälfte in die weite Welt ziehen, obwohl er doch zugeben muss, sie „hart vermissen“ zu werden. Authentischer Text, schön gesungen.
… kurioser Mittelteil …
Er möchte keine Vollidioten mehr parodieren – was doch stets sein Markenkern war – so Alligatoah im Diffus-Interview. In den Tracks fünf bis sieben tut er es dann doch. Während „Fuck Rock’n’Roll“ über einen faulen, Ausreden suchenden Künstler zumindest noch lustig daherkommt, wirken „Unter Freunden“ und „Ich hänge“ dann vollkommen deplatziert. Letzteres ist eine Persiflage des hochintelligenten Nerds ohne soziale Kompetenzen, über die in dieser überzeichneten Form wohl nur Hardcore-Fans von The Big Bang Theory lachen können.
…. fulminantes Ende!
Doch dann geht es zurück zu den Erwachsenenthemen. „Nebenjob“ als Sozialkritik über die Arbeitsbedingungen von Paketzustellern ist das erste und schlechteste Lied des Albumfinales, welches nur durch die sympathische #gibtrinkgeld-Aktion bei Veröffentlichung aufgewertet wird. Die minimalistische Musik (auf dem ohnehin musikalisch minimalistischen Album!) und ein weitgehend schwacher Text sind aber leider nur langweilig.
Anders bei „Nachbeben“: Dramatische Töne und ein niederschmetternder Text über die psychischen Spätfolgen dessen, was wir uns über den Tag so zumuten; „pass’ auf Deine Seele auf – Nachbeben!“ Handelt die erste Strophe noch unspektakulär von Video-Content im Netz, geht es ferner um streitbarere Situationen im Berufsleben: Nur weil wir die Schweinereien, wie wir uns und anderen im Arbeitsalltag zumuten, mit Bullshitvokabeln wie „Professionalität“ belegen, verkraftet sie unser Gewissen eben doch nicht besser. Wenn man so will, ist „Nebenjob“ die Kapitalismuskritik für Altruisten und „Nachbeben“ die Kapitalismuskritik für Egoisten; Willst Du, dass es Dir gut geht? Dann sei nett.
Überhaupt sind die letzten vier Tracks weitgehend ironiefrei. Man bekommt den Eindruck, der öffentlich stets meinungsfrei auftretende Alligatoah greift nun Themen auf, die ihm am Herzen liegen (ja, gibt es denn sowas?). „Stay in Touch“ ist die perfekte Gesangseinlage für die kommenden Konzerte. Gefühlvoll singt Alligatoah über zwei Menschen, die sich bis auf den letzten Sabberfaden weigern, voneinander getrennt zu werden. Ganz toll ist übrigens die Version mit Mine bei „Friends of Alligatoah“ inklusive Bonusstrophe. „Verloren“ entlässt ein frisch verliebtes Pärchen aus dem Freundeskreis – um ihm augenzwinkernd anzubieten, wieder aufgenommen zu werden, wenn sie sich doch in sieben Jahren sowieso trennen werden. Begleitet wird das sanfte Lied am Klavier von Sebel. Ein würdiges Semifinale.
Der obligatorische Genius-Track zum Schluss: „Nicht adoptiert“
Spätestens seit Triebwerke (2013) endet ein Alligatoah-Album mit einem Knaller: Ob das „Trauerfeier-Lied“, in dem sich der Künstler seine eigene Grabrede geschrieben hat, das zynisch-geniale „Musik ist keine Lösung“ oder die Individualtouristensatire „Wie Zuhause“: Textliche Qualität und Quantität der schließenden Alligatoah-Lieder stehen weit über dem Rest der jeweiligen Alben, was vermutlich auch den Produktionsaufwand betrifft.
„Nicht adoptiert“ reiht sich nahtlos in diese Tradition ein. Es handelt sich um einen Begrüßungssong für das noch ungeborene Kind, in dem der junge Vater versichert, im Rahmen seiner (sehr bescheidenen) Möglichkeiten für sein Kind zu sorgen. Der Titel „Nicht adoptiert“ zielt auf die Pointe ab, dass das arme Kind leider tatsächlich von Papa stammt:Findest du dein Erbgut schlecht, sind das Papas Gene/Doch du bist mein Update, du kannst die Bugs beheben
Die zahlreichen Wortwitze dieses Songs – derer es in den acht(!) achtzeiligen Strophen unzählige gibt – verdecken jedoch nie den Fakt, dass es sich um eine ernste Liebeserklärung handelt. Verstärkt durch einen melodisch gesungenen Refrain hat sich Alligatoah also das Beste mal wieder für den Schluss aufgespart:Wir müssen da jetzt durch, Blut ist dicker als Bier/Sorry, du bist nicht adoptiert
Ob es Zufall ist, dass die erste Single „Mit Dir schlafen“ am 26.06.2021 veröffentlicht wurde und das Album auf den Tag genau 9 Monate später – wie hier von einem aufmerksamen Hörer bemerkt – sei dahingestellt.
Fazit: Ein Drittel Licht folgt auf zwei Drittel Schatten
Wer die sechs bereits veröffentlichten Tracks bereits kannte, muss sich das ganze Album Rotz & Wasser eigentlich nicht mehr kaufen. Einzig „Hart Vermissen“ stellt noch eine starke Bereicherung dar. In den ersten Tracks finden sich zu wenig lose Verse, die kaum zu einem sinnvollen Lied zusammenschmelzen. Man kann Lukas Strobel durchaus vorwerfen, sich häufig mehr um die einzelne Punchline zu bemühen als um das ganze Lied und dessen Aussage. Natürlich sind die meisten Verse sprachlich große Klasse – wie auch Felix Kummer bekennt, ihn um einige Zeilen zu „beneiden“11 – aber wenn man sich dann am Ende fragt, warum das jeweilige Thema nun überhaupt einen Song wert sein soll, verliert sich die viele Qualität im Nichts.
Das letzte Drittel von Rotz & Wasser weiß aber für Vieles zu entschädigen: Emotionale, bedeutsame Lieder unterstützt von der ganzen Kraft und dem Talent seiner Stimme rechtfertigen für sich genommen schon fast den Kauf des Albums. Ein unfassbar textlastiger, aber dennoch leicht verdaulicher Schlusstrack verstärkt diesen Eindruck.
3,5 von 5 Fischen im Pott.
- So geäußert im Interview zu „Friends of Alligatoah“. Alligatoah zeigt sich daraufhin geschmeichelt, weist aber daraufhin, dass nicht sein Intellekt, sondern einzig die viele Zeit, die er in seine Arbeit steckt, zu klugen Worten führen. ↩