Alligatoah – StRw V (Schlaftabletten & Rotwein V)
Eigentlich mag ich keine Künstler, die jünger sind als ich. Bisher habe ich mich immer darauf berufen, dass man ja sowas wie Lebenserfahrung und Bildung braucht, um kreativ zu sein. Mittlerweile bin ich aber zu alt, um dieses Argument noch rational durchzuhalten, deshalb lehne ich die Jungspunde halt einfach ohne Begründung ab. Dennoch gibt es den ein oder anderen Knirps, der einfach zu gut ist, um ihn zu ignorieren.
Lukas Strobel alias Alligatoah (alias Die Terroristen alias Kaliba 69 alias DJ Deagle) wird heute 29 Jahre alt und ist spätestens seit seinem Album „Triebwerke“ (2013) bundesweit bekannt. Weniger bekannt sind biographische Details, außer, dass er seine Stücke selbst einspielt (mit Ausnahme einiger Schlagzeugparts), zu fast jedem Lied ein eigenes Video arrangiert und deren Liveaufführungen wie ein Theaterstück inszeniert.
Ist das noch HipHop?
Alligatoah ist nach eigener Aussage vom Battlerap beeinflusst, bedient sich des Sprechgesangs und kollaboriert fast ausschließlich innerhalb der HipHop-Szene. Andererseits singt er nicht nur, sondern das auch noch gut, wie er in seinem Superhit „Willst Du?“, „Denk an die Kinder“ oder „Du bist schön“ wunderbar demonstriert und auch live beweisen kann. Viele Songs sind Ohrwürmer. Und auch sonst sind die Abgrenzungen zur Punk-, Rock- und Popmusik eher fließend. Aber das sind sie bei Kraftklub oder auf der anderen Seite der Mauer ja bei Die Ärzte auch. Apropos Kraftklub: Frontmann Felix Brummer ist auf Schlaftabletten & Rotwein V ebenfalls mit zwei kleineren Passagen vertreten.
StRw V ist retro in spe
Schlaftabletten & Rotwein V enthält auf über einer Stunde 16 Songs (plus einige Cover wie „Duality“ von Slipknot oder „Rosenrot“ von Rammstein in einer erweiterten Box), die abwechslungsreich, zumeist eingängig und voller herrlicher Wortspiele sind – es gibt kein einziges Lied, in dem sich kein guter Vers wiederfindet. Einige davon sind so absurd, dass man geneigt ist, im Booklet nachzusehen, ob da nicht doch Deichkind mitgewirkt haben. Und auch wenn (oder weil) dem Album kein inhaltliches Konzept zugrunde liegt, dürfte es aufgrund allzu knackiger Catchphrases durchaus zeitlos sein. Und es beginnt („Alli-Alligatoah“) und endet („Wie Zuhause“) mit Refrains, die sowohl zu Hause als auch live zum Mitsingen einladen.
Vielleicht sein persönlichstes Album – vielleicht auch nicht
Gesangs- und Rap-Passagen wechseln sich wie gewohnt ab, wobei das Album doch etwas text- und raplastiger geworden ist als der Vorgänger „Musik ist keine Lösung“. Ein roter Faden durchzieht sich dabei wie gesagt nicht durch die Lieder, aber gängige Alligatoah-Topoi trifft man sehr wohl:
Da gibt es den klassischen Dreiteiler (wie in „Mama, kannst Du mich abholen“), also ein Fortsetzungslied, das an drei getrennten Positionen des Albums einsetzt: In diesem Fall „Die grüne Regenrinne“, eine Detektivgeschichte im Hangover-Stil, in der „Inspektor Gatoah“ (oder „Inspektor ga Toah“?) sein nächtliches Treiben zu rekonstruieren versucht.
Da gibt es auch die ironische Gesellschaftskritik, die sich an denjenigen abarbeitet, die ihr hedonistisches Treiben als politisches Rebellentum stilisieren wollen; in „Freie Liebe“ heißt es da:
„Wir machen nichts, was die Gesellschaft will / ein Rebell macht sich frei /
Ich bums‘ ’ne andere / und dann hab’n wa’s der Gesellschaft gezeigt!“
Das erinnert stark an den Geniestreich „Musik ist keine Lösung“ (den ich in Anlehnung an den Ärzteklassiker gerne den „modernen Grotesksong“ nenne), führt aber unweigerlich zur grundlegendsten aller Alligatoah-Kritiken: Wenn er sich so gerne über Haltungen lustig macht, hat er denn selbst überhaupt eine?
Meinungsfrei
Tatsächlich finden sich (auch) auf StrW V keine Lieder, die ein fest umrissenes Thema oder gar eine stringente Haltung aufwiesen; am ehesten wäre das wohl noch bei „Füttern verboten“ der Fall, wo aus der Perspektive eines Zoobesuchers über Flüchtlinge gesprochen wird, als wenn es sich bei diesen um exotische Tiere handelt („Psst, da, im Gebüsch lauert ein Triebtäter / Seine Beute hat blondes Fell und ist siebzehn Jahr“) – doch auch hier unterbricht sich das lyrische Ich und klatscht sich für seine Sozialkritik selbst ironischen Beifall („den Finger genau in die Wunde gelegt – klasse! Vielleicht noch’n Merkel-Ferkel-Witz, hm?“). Negativ könnte man wenden: Kommt es doch einmal zu einer klaren Aussage, wird sofort ein ironischer Schritt zurück gemacht, um sich auch ja nicht festnageln zu lassen. Man könnte aber auch sagen, dass Alligatoah ironische Distanz zu seiner oft bemäkelten ironischen Distanz bewahrt und die Kritik zumindest nicht ausspart.
Es geht sogar noch weiter, denn der bemäkelten Haltungslosigkeit ist sogar ein eigenes Lied gewidmet: „Meinungsfrei“, (ironischerweise) genau in der Mitte des Albums platziert. Das lyrische Ich ist hier ein überspitzt Unparteiischer, der „beide Seiten versteht“ und dabei in die Identitätslosigkeit abdriftet. Der Song steckt voller lustiger Übertreibungen, wie man es mit der Friedfertigkeit übertreiben kann und im Refrain heißt es: „Schreib auf mein Schild, wenn ich bei Aufständen demonstrier: ‚Keine Umstände wegen mir‘.“ Also nicht nur haltungslos, sondern das auch noch bewusst und gerne?
Der Vorwurf des unpolitischen Versteckspiels hinter dem Deckmantel der künstlerischen Freiheit ist sicher nicht völlig von der Hand zu weisen. Bei genauerem Hinhören wird jedoch klar, dass sich sehr wohl klare Aussagen finden lassen: Jedoch anders als bei klassisch-politischen Songs nicht als stringenter Songtext, sondern in einzelnen Versen. Schon in „Du bist schön“ lieferte Alligatoah ja die gewerkschaftliche Steilvorlage:
„Kleider machen Leute / Doch die Leute, die die Kleider machen /
leisten sich bis heute / leider weniger Designerjacken“.
Stärken
Und auch auf StRw V sind die stärksten Lieder zugleich diejenigen, die nicht nur unterhalten, sondern auch zum Reflektieren, Nachdenken (und, ja, auch zum Nachplappern) anregen: „Wo kann man das kaufen?“ ist zwar einerseits satirisches Herumkaspern, aber auch teils deutliche Kapitalismus- und speziell Werbekritik („Du ziehst Dich aus – ich seh‘ nur ungenutzte Werbefläche“). „Beinebrechen“ verbindet die Kritik an moderner Unverbindlichkeit (gerne als „Spontaneität“ getarnt) mit nervigem Smombietum1 und sieht als einzigen Ausweg noch die gewaltsame Selbstbeschneidung:
„Und lässt du mich alleine und entfleuchst am Horizont /
So brech‘ ich mir die Beine, denn dann läuft’s ja nicht davon“.
Als besonderer Leckerbissen wird dann „Wie Zuhause“ als letztes Stück zurückgehalten, ein Sechsminutenepos mit schönem Gesang, Turbo-Rap und einem grandiosen Video über Individualtourismus, seine Ausprägungen und Folgen. Geht es gleich lustig los („Ich sitz in einem Starbucks in Phuket“, perfekt gestylt mit modischem Dutt), driftet der Text immer weiter in die verlorene Seele des Reisenden vor, der doch eigentlich nur eine von vornherein zum Scheitern verurteilte Selbstflucht begeht…aber das kann ich natürlich nicht im Ansatz so schön erzählen wie Alligatoah und verweise den Leser auf Youtube. Doch die Beobachtung, in fremden Ländern unter Deutschen zu sitzen und darüber zu schwadronieren, wie gerne man andere Kulturen kennenlernt (und diese natürlich nach zwei Wochen bereits vollständig aufgesogen hat!), hatte ich selbst schon getroffen.
Schwächen
Ja, es gibt auch nicht so gelungene Songs. „I Need A Face“, „Terrorangst´“ und „Meine Hoe“ enthalten clevere Zeilen, laden aber, im Gegensatz zu vielen anderen Liedern, nicht unbedingt zum Mitsingen oder zum mehrfachen Hören ein. Insgesamt hätte man sich bei so einem experimentierfreudigen Künstler vielleicht sogar noch Exotischeres erhofft, aber das ist alles Jammern auf äußerst hohem Niveau.
StRw V ist Popmusik der Extraklasse mit unterrichtstauglicher Beherrschung und Verbiegung der deutschen Sprache. Es ist sehr offensichtlich, dass hinter der ganzen Produktion ein Aufwand steckt, bei dem man sich nur wünschen kann, dass der junge Herr Gatoah sich dazu auch weiterhin motivieren kann. In Interviews hat er ja bereits zu verstehen gegeben, dass er gerade ziemlich alle ist.
Wo kann man das kaufen?
Egal. Schlaftabletten & Rotwein V sollte man sich kaufen, aber dabei die (selbst!)produzierten Videos – vor allem zu „Wo kann man das kaufen“ und „Wie zuhause“ — nicht vergessen.
- Smombie = Smartphone-Zombie. ↩