Blue Ruin (USA 2013)
Ein Mann – auf die Vierzig zugehend, langhaarig, Vollbart, tätowiert – sitzt in einer Badewanne. Langsam fährt die Kamera ein wenig zurück, wir sehen, dass er in einem einfachen Haus ist. Auf einmal Geräusche, der Mann wird nervös. Vielleicht Einbrecher? Nein, es ist helllichter Tag, da bricht doch niemand in ein Haus ein. Oder doch? Der Mann packt seine Sachen und verlässt das Haus. Während wir realisieren, dass der Mann selbst der Einbrecher ist, erleben wir den Alltag dieses noch namenlosen Mannes. Er ist offenbar obdachlos und lebt in einem alten Auto. Dieser alte, blau lackierte und von Rost übersäte Pontiac ist die titelgebende blaue Ruine. Uns fallen Einschusslöcher auf. Das Auto steht in der Nähe eines Vergnügungsparks an einem Strand und der Protagonist lebt mehr schlecht als recht in den Tag hinein, sammelt Flaschen, erleichtert Gäste des Vergnügungsparks um mitgebrachte Nahrungsmittel und Freikarten für Fahrgeschäfte und wirkt desillusioniert und verloren. Langsam und trist gestaltet sich der Alltag dieses Menschen und in den ersten 15 Minuten des Films wird kein Wort gesprochen.
Wer wie ich völlig unvoreingenommen in den Film gehen will sollte jetzt aufhören zu lesen und am 11. Dezember 2014 einfach mal ins Kino gehen. Es folgen milde Spoiler.
Nach und nach bekommen wir heraus, dass der Mann Derek (gespielt von Macon Blair) heißt und durch den gewaltsamen Tod seiner Eltern traumatisiert ist. Diese wurden von einem gewissen Wade Cleland (Sandy Barnett) offenbar in ihrem Auto erschossen. Als Derek dann von einer Polizistin gesteckt bekommt, dass der Mörder seiner Eltern in den nächsten Tagen aus dem Gefängnis entlassen wird beschließt er, dass es Zeit ist, zu handeln. So nehmen dann die Ereignisse ihren Lauf. Das bemerkenswerte an Blue Ruin ist, dass die einzelnen Personen völlig normale Menschen sind. Zwar nicht komplett die Sorte Menschen, die man so um sich hat, aber dennoch ganz normale Leute. Keine völlig perfiden Mafiosi, tragische Helden oder alle Eventualitäten vorausplanende Genies. Derek weiß, dass seine Handlungen Folgen haben werden. Er rechnet wahrscheinlich nicht einmal damit, dass er auch nur den Anfang seines Planes überleben wird. Er denkt nur soweit, dass er Rache nehmen muss und sich danach irgendwie der Polizei stellen wird. Dumm nur, dass die Polizei nicht mal gerufen wurde. Doppelt dumm, dass seine Schwester Sam (Amy Hargreaves) in der Nähe wohnt und somit sicher im Fokus von Wades Familie stehen wird. Warum? Weil Derek seine Wagenschlüssel (und somit auch das Auto) zurücklassen musste und dieses auf Sam zugelassen ist. Somit unterscheidet sich Blue Ruin schon mal von anderen Filmen mit dem Thema Rache wie Death Wish oder Payback. Selbst Death Sentence mit Kevin Bacon zeigt einen viel entschlosseneren Protagonisten als Derek.
Mehr möchte ich jetzt aber nicht verraten, bis jetzt ist ungefähr das erste Drittel von den 90 Minuten Laufzeit (wir haben es hier also mit einem kurzen Film zu tun) vergangen und es folgt noch die eine oder andere Wendung.
Blue Ruin wurde über die Plattform Kickstarter finanziert und wurde bei den Filmfestspielen in Cannes am 17. Mai 2013 uraufgeführt. Mir persönlich hat Blue Ruin recht gut gefallen. Der Film ist auffallend langsam inszeniert (es wurden in diversen Reviews schon Vergleiche mit einigen Werken der Coen Brüder gezogen), die Kamera ist stets bei Derek und zeigt uns den Handlungsverlauf komplett aus seiner Sicht. Macon Blair spielt Derek dabei sehr realistisch und absolut überzeugend. Derek ist kein Held, er ist ein eher verängstigter Mann, der nicht weiß wohin er gehört und absolut weiß, dass er seinen Gegner hoffnungslos unterlegen ist. Er ist weder cool noch stark noch besonders charismatisch. Und dennoch wollte ich die ganze Zeit wissen, wie es weitergeht, habe sehr oft überlegt wie ich mich in dieser oder jener Situation verhalten würde und kam zu dem Schluss: Eher noch schlechter.
Blue Ruin ist dabei sehr klassisch gefilmt. Die Schauplätze sind keine Studios, wir erleben schmuddelige Wohnungen, abgelegene Gegenden und sogar der Metal-Club, in dem Derek seinen Jugendfreund Ben (Devin Ratray) trifft, existiert wahrscheinlich genau so auch in echt. Wenn in dunklen Räumen gefilmt wird und noch kein Licht angeschaltet wurde sehen wir exakt nichts, da der Regisseur auf künstliche Beleuchtung größtenteils verzichtet. Die Gewalt im Film kommt teilweise unerwartet und ist sehr heftig, blutig und durchaus auch eklig, wird aber nicht minutenlang ausgeweidet. Eher realistisch und drastisch, fernab vom Exploitation-Kino und vergleichbar mit den Gore-Szenen in Drive von Nicolas Winding Refn. Der Film ist von der ganzen Machart sehr independent. Filme wie Deadbeat at Dawn, Combat Shock oder auch Mann beißt Hund und die Werke des deutschen Filmemachers Jörg Buttgereit sind unter ähnlichen Bedingungen entstanden. Vor allem aus Liebe zum Film und um ein Projekt ohne Kompromisse so umzusetzen, wie man es sich vorstellt. Blue Ruin ist genau so ein Film und hat insgesamt 420.000 US$ gekostet, davon kamen circa 38.000 US$ über Kickstarter rein und Regisseur/Drehbuchautor Jeremy Saulnier hat sich weitere 25.000 US$ von seiner Familie geliehen, den Rest hat er über Kredite und Hypotheken selbst aufgetrieben.
Genau aus diesem Grund empfehle ich jedem Filmfan, der sich auch mal ein wenig abseits der großen Produktionen bewegen will, Blue Ruin im Kino zu schauen. Ab dem 11. Dezember 2014 wie gesagt in ausgewählten (Programm-)Kinos. Es lohnt sich. Wenn er nicht im Original laufen sollte: Die deutsche Synchronisation ist recht gut, das sollte also kein Hinderungsgrund sein.
Weiterführende Links
Offizielle Webseite
Offizielle Facebook-Präsenz
Die abgeschlossene Kickstarter-Kampagne (Link via Wayback Machine)
Sehr interessanter Artikel über die Entstehung des Filmes
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