Broken Harbour
Tana French at her Best
Kürzlich schrieb ich hier über die Welt der Tana French. Ich hatte ihre ersten drei Veröffentlichungen in umgekehrter Reihenfolge gelesen und so bereits 2039 Seiten mit ihr verbracht. Bevor ich mich an die nächsten 729 heranmachte, brauchte ich eine kleine Atempause. Da konnte ich ja noch nicht ahnen, dass mir mit »Schattenstill« (Broken Harbour) ihr bis dato bestes Buch vorliegen sollte.
»Broken Harbour« ist die Geschichte von Mike »Rocky« Kennedy, der bereits aus dem Vorgänger »Faithful Place« bekannt ist. Direkt zu Beginn klärt er uns über seine Selbstwertschätzung auf: Er beschreibt sich schlicht als den besten Ermittler des Dubliner Morddezernats. In den zehn Jahren, die er den Job schon macht, habe er alles gesehen: »tote Babys, Ertrunkene, Lustmorde und einen von einer Schrotflinte weggepusteten Kopf, mit haufenweise Gehirnmasse an den Wänden, und ich kann trotzdem prima schlafen, solange die Arbeit gemacht wird. Irgendwer muss sie schließlich machen. Wenn ich derjenige bin, dann wird sie wenigstens richtig gemacht.« So ist es für »Rocky« selbstverständlich, dass er den aktuellen Fall, eine verdammt harte Nuss, zugewiesen bekommt. Und der geht so:
Drei Tote und eine Schwerstverletzte
Broken Harbour war einst ein Urlaubsziel für Wohnwagenreisende. Mike Kennedy hatte hier mit seiner Familie glückliche Ferien verbracht, bis seine Mutter sich hier suizidierte. Jahre später stampft ein Bauunternehmen in dem Naturgebiet eine Siedlung aus dem Boden und nennt sie Brianstown. Kein Mensch sollte hier wohnen wollen, finden die Freunde der Familie Spain, doch die Spains gehen in die Falle: In der Annahme, dass ihr Haus in wenigen Jahren das Doppelte wert sei, sitzen sie nun in einer Geisterstadt fest. Die Rezession hat das Land am Wickel, das Bauunternehmen ist längst pleite, die meisten Häuser in der Siedlung sind unfertig oder stehen leer. Und nun werden hier die Spains tot aufgefunden: ihrer beider Kinder erstickt, der Vater erstochen. Nur die Mutter überlebt trotz massivster Verletzungen, kann sich aber an nichts mehr erinnern.
Als Mike Kennedy und sein neuer Kollege Richie Curran an den Tatort kommen, realisieren sie sehr schnell, dass hier einiges im Argen gelegen haben muss. Einerseits glänzt das Haus nur so vor Sauberkeit und Ordnung. Andererseits finden sich in jedem Raum große Löcher in den Wänden, auf dem Dachboden steht eine riesige Tierfalle und überall im Haus sind Babyvideophones aufgestellt. Türen und Fenster sind von innen abgeschlossen und weisen keinerlei Einbruchsmerkmale auf. Vieles deutet darauf hin, dass hier der Vater erst seine Familie, dann sich selbst getötet hat. Und doch befindet sich die Tatwaffe nicht im Haus und kann den Spuren zufolge auch nicht nach draußen gebracht worden sein. Kurze Zeit später findet sich ein Mann, der gesteht, die Familie erst langfristig gestalkt und schließlich auch umgebracht zu haben. Eine Erklärung, warum er dies getan haben sollte, gibt er allerdings nicht.
Die Sprache des Wahnsinns
Böse Zungen behaupten, das Buch hätte gut und gerne um 300 Seiten gekürzt werden können. Sicher: Wie immer bei Tana French kann auch hier nicht vom Vorantreiben der Handlung die Rede sein. Zumal sie frühzeitig einen parallelen Handlungsstrang etabliert: Mike Kennedy muss sich auch noch mit den Relikten seiner eigenen Broken-Harbour-Vergangenheit herumschlagen. Wenngleich er davon ausgeht, sein Trauma des frühen Mutterverlustes verarbeitet zu haben, gilt dies nicht für den Rest seiner Familie. So sorgt er sich besonders um seine jüngere Schwester Dina, der ein Psychiater wahrscheinlich die Diagnose Schizophrenie stellen würde. Mike selbst bezeichnet sie schlicht und trefflich als verrückt. Auch wenn die umfassenden Szenen zwischen den beiden anfänglich als völlig unverbunden zur Haupthandlung zu stehen scheinen, bezieht hieraus das Buch einen wesentlich Aspekt für seine Faszination.
»Ich hab vorhin nachgedacht. Als ich auf dich gewartet habe. Meine Wohnung kotzt mich an.« »Wir können gleich mal im Internet gucken, ob wir was Besseres finden«, sagte ich. […] »Nein«, sagte Dina. »So mein ich das nicht, verdammt nochmal. Ich will nicht ausziehen, ich will die Wohnung verändern, ich halt sie nicht aus, weil sie mich juckt. Ich hab schon versucht, sie zu tauschen, bin zu den Mädels über mir und hab sie gefragt, weil, die würd es da drin schließlich nicht in den Armbeugen und auf den Fingernägeln jucken, so wie bei mir. Es sind keine Wanzen oder so, ich… du solltest mal sehen, wie sauber die ist, ich glaub, das kommt bloß von dem beschissenen Teppichmuster. Ich hab das den Mädels gesagt, aber die blöden Tussen wollten nicht hören, die haben bloß geglotzt, mit offenem Mund, wie fette, blöde Fische, ich frag mich, ob die Fische haben als Haustiere? Also wenn ich nicht umziehen kann, muss ich was verändern. […] «
Plädoyer für ein neues Genre
Tana French widmet sich in »Broken Harbour« ihren Figuren einmal mehr mit aller Sensibilität. Es geht um wahrlich nette Leute, die kaum jemals die Stimme gegen andere erheben würden, geschweige denn die Hand. Sie sind geprägt durch ein Land, das einst wirtschaftlich so schlecht dastand und zwischenzeitlich die Freuden des Kapitalismus genießen konnte. Als dieses Konstrukt im Rahmen der bekannten Wirtschaftskrise in sich zusammenfällt, versuchen die einen verzweifelt, ihre Fassade aufrechtzuerhalten. Und scheitern damit genauso wie jene, die sich schon längst aufgegeben haben.
Nicht oft habe ich mich in den letzten Jahren in eine Geschichte so involviert gefühlt. Ich bin immer wieder, auch zu unpassenden Zeiten, der Frage nachgegangen, was sich im Hause Spain abgespielt haben mag. Ich habe mir zwischenzeitlich den Kopf darüber zerbrochen, welche Art von Tier Vater Spain in seinem Haus wähnte. Oder ob die verrückte Dina vielleicht nur Rockys persönliche Wahnvorstellung sein könnte. Dabei spielte es für mich zu guter Letzt gar keine Rolle mehr, wer die Tat die begangen hat, sondern nur noch warum. So komme ich zu dem Schluss, Tana French ein neues Genre zu gönnen. Vergesst das »whodunnit« (Wer hat’s getan?). Ihr Genre ist das »whydidonedunnit« (Warum hat einer es getan?). Dann beschwert sich vielleicht auch keiner mehr über den Gesamtumfang ihrer Werke.