Dark Matter von Blake Crouch
Was hat Erwin Schrödinger eigentlich auf die Idee gebracht, ausgerechnet eine Katze in einer Box könnte gleichzeitig tot und lebendig sein? Es hätte ja auch eine Ratte sein können. Sollte ihn tatsächlich ein Kater namens Milton inspiriert haben? Und was mag Milton (der Katzengott habe ihn selig) denken, sollte er im Katzenhimmel miterleben, zu welch kuriosen Ideen das Gedankenexperiment seines Herrchens immer wieder führen? Eine dieser Ideen ist Dark Matter von Blake Crouch. In seinem Science Fiction bezieht sich der US-amerikanische Schriftsteller, wie schon so manche vor ihm, auf die Viele Welten Theorie. Und die bezieht sich wiederum auf die tot-lebendige Katze in der Box, die vor ihrem Ableben vielleicht ja noch die ein oder andere Welt besucht hat. Aber wer will das schon so genau wissen.
Der Preis der Entscheidung
Rund 15 Jahre ist es her, da Quantenmechaniker Jason Dessen eine folgenschwere Entscheidung getroffen hatte. Statt seine Karriere voranzutreiben, hatte er das Leben als Familienvater und unbedeutender Professor an einem Chicagoer College gewählt. Unverhofft war damals seine Bekanntschaft, eine aufstrebende Künstlerin namens Daniela, von ihm schwanger geworden. Nach der Geburt mussten beide ihre gesamte Energie auf ihren Sohn verwenden, der medizinische Probleme hatte. Da blieb nicht mehr viel Raum für berufliche Interessen. 15 Jahre später scheint das alles Geschichte zu sein. Und doch stellen sich beide immer wieder die Frage, was wohl aus ihnen geworden wäre, hätten sie nicht geheiratet, kein Kind bekommen. Wäre Vollzeitmutter Daniela eine gefeierte Künstlerin? Hätte Jason den so begehrten Pavia-Preis (eine fiktive Auszeichnung, offenbar benannt nach Crouchs Lektor Julian Pavia) erhalten, den nun sein Kollege Ryan verliehen bekommen hat?
Nun drehte sich Jasons wissenschaftliches Interesse seinerzeit um nichts Geringeres als um die Quantensuperposition eines makroskopischen Objektes. Sprich: Er wollte ein für das menschliche Auge sichtbares Objekt innerhalb eines kleinen Würfels in diesen unbestimmten Katzenzustand bringen. Dass es ihm gelungen sein sollte, gar einen Würfel zu schaffen, der einen Menschen in diesen Zustand versetzen kann, erscheint für Jason unvorstellbar. Sein Kenntnisstand weiß aber auch nichts von einer speziellen Droge, die für die Superposition und damit auch für das Aufsuchen paralleler Welten nötig ist.
Per Würfel durch das Multiversum
Doch genau mit dieser Droge macht er eines schönen Donnerstagabend Bekanntschaft. Auf dem Heimweg von der Auszeichnungsfeier seines Kollegen wird Jason von einem Maskierten überfallen. Der entführt ihn und verpasst ihm mehrere Injektionen. Völlig desorientiert wacht Jason irgendwann später in einer Umgebung auf, die überhaupt nicht zu dem passen mag, was ihm als Realität bekannt ist. In dieser Welt jedenfalls scheint jeder von ihm zu wissen, dass er diese unfassbare Möglichkeit des Aufsuchens paralleler Welten erschaffen habe. Panisch flüchtet Jason aus dem Institut, in dem er aufgewacht ist, und begibt sich auf die Suche nach seiner Frau. Doch die Daniela, die er trifft, ist nicht die Daniela, die er zu finden gehofft hat. Zwar erkennt sie ihn, immerhin. Von einem gemeinsamen Leben oder gar einem gemeinsamen Sohn weiß die gefeierte Künstlerin aber nichts.
Reichlich lange braucht der Herr Quantenmechaniker, bis er versteht, was da eigentlich passiert ist und wer ihn entführt hat. Fortan nennt er diesen nur noch Jason2. Und von diesem Jason2 vermutet Jason1, der zum Glück als Ich-Erzähler immer erkennbar bleibt, dass sie offenbar ihre Welten getauscht haben. Fortan gilt es also, zurück nach Hause zu finden. Doch das ist gar nicht so leicht. Immerhin produziert bei der Viele Welten Theorie jede Entscheidung, die ein Mensch trifft, eine parallele Welt. Wie aber soll Jason aus unendlich vielen Welten die eine finden, aus der er entführt wurde?
Nun wird die Nummer noch komplizierter, als neben Jason Ich-Erzähler und Jason2 noch über hundert weitere Jasons auftauchen. Und die haben alle dasselbe Ziel vor Augen: Sie wollen in der einen Welt, aus der der Ich-Erzähler stammt, mit der einen Daniela leben, die des Ich-Erzählers Frau ist.
Die einzig wahre große Liebe?
So weit so gut. Der gute Jason möchte seine Familie zurück. Das kann ich verstehen. Wie sehr er aber seine Familie zurückhaben will, wirkt besessen. Reichlich fragwürdig erscheint mir vor allem aber auch, dass er bei aller vorgetragener Liebe zu seiner Daniela den Faktor Daniela fast komplett vergisst. Die erscheint in wenigen einzelnen Kapiteln zusammen mit Jason2 und realisiert sehr wohl, dass da irgendwas nicht so ganz stimmen kann. So richtig hinterfragen mag sie nicht, warum sich der Sex plötzlich wieder so anfühlt wie zu Beginn ihrer Beziehung. Oder warum ihr Mann alltägliche Kleinigkeiten auf einmal ganz anders vollzieht. Sicherlich liegt für sie nicht nahe, von Parallel-Jasons auszugehen. Aber kapiert, dass ihr Mann sich verändert hat, hat sie sehr wohl. Ich-Erzähler Jason nur traut ihr diese Kompetenz nicht zu. Allzu groß scheint die Verbundenheit also doch nicht zu sein.
Wenn dann schließlich noch all die anderen Jasons auf den Plan kommen, entsteht der große Kampf und die einzigartige Trophäe. Wow, frag ich mich da, was hat diese eine Daniela nur, was alle anderen nicht haben? Dabei ist selbst für den an sich netten und ansonsten harmlos wirkenden Familientypen Mord plötzlich durchaus eine Option. Bevor ein anderer seine Daniela bekommt, bringt er die anderen doch besser um, ha! Und wieder stellt sich mir die Frage, warum hier die Frau außen vor bleibt. Glaubt Vati tatsächlich, er könne dann noch sein gutes altes Familienleben führen, nachdem er hunderte Nebenbuhler um die Ecke gebracht hat? Selbst in dem Moment, da Jason Ich-Erzähler die Chance bekommt, sich seiner Daniela zu erklären, kommt er immer noch auf so großartige Ideen wie, mit den Parallel-Jasons um die Frau zu zocken.
Weitere Dark Matter Probleme
Nun habe ich selbst in meinem Leben vergleichsweise viel Zeit in die fiktionale Gedankenwelt der Parallelwelten investiert. Früh habe ich mir klar gemacht, dass es nicht immer Erklärungsansätze wie Schrödingers Katze braucht, um eine Story in mehr als einer Welt stattfinden zu lassen. Auch braucht es für den Wechsel zwischen den Universen nicht unbedingt eine Einrichtung wie diesen Würfel. Von dem ist am Anfang bei der Entführung übrigens noch gar keine Rede, während er später in jeder Welt, die Jason betritt, vorhanden ist. Sichtbar für jeden? Das ist nicht klar. Der Würfel führt Jason jedenfalls nur in jene Welten, die auf Basis seiner im Leben getroffenen Entscheidungen entstanden sind. Doch welche seiner Entscheidungen kann zu einer Welt in Eis und Schnee geführt haben? Welche hat ganz Chicago verwüstet? Und wenn es solche Entscheidungen gab, warum ist ausgerechnet die eine so bedeutsam, die ihn zum Familienvater gemacht hat?
Völlig unklar sind mir auch die vielen Parallel-Jasons geblieben. Okay, viele Welten haben auch viele Jasons. Nur wurden die Jungs, die in der Welt des Ich-Erzähles auftauchen, aber nicht einzeln aus ihren jeweiligen Welten entführt. Vielmehr scheinen sie auf irgendeine Weise während der Weltensuche des Ich-Erzählers entstanden zu sein. Wie er verfügen sie allesamt über das passende Wissen und die nötige Droge, um den Würfel überhaupt nutzen zu können. Viele von ihnen haben Mordabsichten, denen sie auch nachgehen (wobei hier die Grenze zwischen Mord und Selbstmord ja fast verschwindet), und alle wollen nur die eine Daniela. Diese Vollzeitmutter, der keiner zutraut, ihren vertrauten Mann wiederzuerkennen.
Dark Matter und die Zeitenfrage
Wie der Zufall es so wollte, sah ich dieser Tage die x-ste Wiederholung dieser wunderbaren Star Trek Folge Parallelen, in der Worf mehrfach die Welt wechselt. Verantwortlich dafür sind ein Riss im Raum-Zeit-Gefüge und Jordis Visor, der Worf von einem Quantenuniversum ins nächste katapultiert. Als der Klingone schließlich auf seine Enterprise zurückkehren soll, erklärt Data ihm, man könne leider nicht so genau vorhersagen, wie der Faktor Zeit sich dabei verhält. Das muss sich auch irgendwie der deutsche Verlag gesagt haben, als er den Zusatztitel Der Zeitenläufer erfand. Blake Crouch ist in dieser Hinsicht mit seinem Dark Matter (Dunkle Materie, aber auch dunkle Angelegenheiten) jedenfalls deutlich: Mit Zeitreise hat seine Geschichte definitiv nichts zu tun.