Das »Cloud Atlas«-ABC
Sechs Genres, Schauspieler mit bis zu sechs Rollen, Weiße als Asiaten. Dann auch noch drei Regisseur*innen und jeder Cineast weiß: Dieser Film muss ein Desaster werden. Aber alle Zutaten haben in der Alchemistenküche Kino zusammen gefunden und sie leben! Und nicht nur das, »Cloud Atlas« ist ein Meisterwerk. Zum besseren Verständnis haben wir uns an die alphabetische Kartierung des Films gewagt.
Adam Ewing
ist der chronologische Startpunkt von »Cloud Atlas«. Ewing ist Anwalt und bereist 1849 den Pazifik, um Verträge für seinen Schwiegervater, einen Sklavenhändler abzuschließen. Er wird von Jim Sturgess gespielt und trägt wie alle Hauptprotagonisten ein kometenförmiges Muttermal.
Bill Smoke
hat kein Gewissen. Ein rassistischer Killer mit fieser Frisur, der in den Siebzigern hinter der Journalistin Luisa Rey (Halle Berry) her ist. Hugo Weaving verkörpert den Bösewicht, der die Mitwissenden einer Kernkraftwerksverschwörung erledigt.
Cineastischer Größenwahn
wird den Filmemachern von Georg Seeßlen von der »Zeit« attestiert. Damit liegt er gar nicht so falsch: Mit sechs Zeitebenen, drei Regisseur*innen und sechs Rollen für jede*n Hauptdarsteller*in setzt »Cloud Atlas« Maßstäbe. Trotz allem ist ein grandioser Film dabei herausgekommen.
David Mitchell
hat die Buchvorlage geschrieben. Darin erzählt er sechs Geschichten in ihrer chronologischen Reihenfolge zur Hälfte. Dann kommt in umgekehrter chronologischer Reihenfolge jeweils die zweite Hälfte. Im Interview mit dem Wall Street Journal sagt Mitchell über das Drehbuch: „Die ‚Hin-und-Zurück‘-Struktur kam mir immer unverfilmbar vor, deswegen habe ich nie daran geglaubt, dass der »Der Wolken-Atlas« ein Film wird. Das war nur zur Hälfte wahr. Es gibt jetzt eine Drehbuch-Adaption, die sozusagen ein pointillistisches Mosaik ist. Wir bleiben in jeder der sechs Welten lang genug, um reinzukommen, dann springt der Film von Welt zu Welt, immer lang genug, um die Handlung voranzutreiben.“
Edinburgh
ist das Ziel von Robert Frobisher (Ben Whishaw). Der junge Komponist reist 1936 dorthin, um von Komponistenlegende Vyvyen Ayrs (Jim Broadbent) zu lernen. Dabei vögelt er natürlich mit Ayrs junge Frau Jocasta (Halle Berry), obwohl er immer wieder Liebesbriefe an seinen Geliebten Rufus Sixsmith (James D’Arcy) schreibt.
Fabricants
heißen die Duplikanten im Original. Es sind menschliche Klonwesen, die 2144 als Arbeitskräfte gehalten werden. Eine von ihnen ist Sonmi-451 (Doona Bae), die in Neo-Seoul in einem Schnellrestaurant arbeitet.
Genres
sammeln sich im filmischen Mosaik »Cloud Atlas«, ohne zu verschmelzen. Koloniales Historiendrama, Zwischenkriegszeitdrama, Blaxploitation-Actionkrimi, Gangster/Seniorenkomödie, SF-Rebellionsfilm und mystische Endzeitaction ergänzen sich – trotz aller Gegensätze – hervorragend.
Halle Berry
macht sich ebenso hervorragend in der Siebziger-Thriller-Episode als toughe Journalistin Luisa Rey. Hier trägt sie auch das kometenförmige Muttermal und trifft den Kernphysiker Rufus Sixsmith. In der Postapokalypse spielt sie Meronym, eine der Prescients. Berry hat auch in den anderen Episoden Rollen, mal als Sklavin, als Inderin, als koreanischer Arzt oder als deutsche Jüdin.
Independentfilme
sind meistens billiger als die Produktionen der großen Studios. Nicht so »Cloud Atlas«, der mit ungefähr 100 Mio Dollar Produktionskosten als der bislang teuerste Independentfilm zu Buche schlägt. Gleichzeitig ist er auch der teuerste deutsche Film, der Fördergelder in Millionenhöhe vom Deutschen Filmförderfonds, dem Medienboard Berlin-Brandenburg und der Film- und Medienstiftung NRW erhalten hat.
Jim
Broadbent und Jim Sturgess haben beide eine besondere Beziehung zu dem Jahr 1978. Broadbent begann damals seine Schauspielkarriere mit dem Film »Der Todesschrei«, Sturgess stieß 1978 den ersten Schrei nach seiner Geburt aus. Als Timothy Cavendish und Adam Ewing tragen sie beide das kometenförmige Muttermal und sind Hauptfiguren jeweils einer Episode.
Kona
sind wilde gesichtsbemalte Kannibalen in der Postapokalypse. Als Mischung aus Mad-Max-Rockern und Old-School-Western-Indianern reiten sie über die Insel und bringen so ziemlich jeden um, den sie treffen. Hugh Grant spielt ihren Häuptling und wird somit von Inkarnation zu Inkarnation fieser.
Lana und Lilly Wachowski
führten zusammen mit Tom Tykwer Regie. Sie haben die Historienepisode um Adam Ewing und die beiden Episoden in der Zukunft gedreht. Mit den Szenen auf einem historischen Segelschiff betreten die Wachowski-Schwestern Neuland, aber mit Somnis Geschichte kehren sie zurück in eine dem Publikum vertraut erscheinende urbane Dystopie. Neo Seoul mit seiner Konzerndiktatur, Duplikantenversklavung und den Rebellen der Union erinnert mehr als ein wenig an »Matrix«.
Muttermale
in Sternschnuppenform kennzeichnen die Hauptfiguren. Wie der Komet, der seinen angestammten Platz am Firmament verlässt und als Zeichen des Umsturzes gilt, rebellieren sie gegen die Umstände, seien es Sklaverei oder das unrechtmäßige Einweisen in ein Altersheim.
Natalie Portman
hat das ganze Projekt angestoßen, als sie während der Dreharbeiten zu »V wie Vendetta« das Buch »Der Wolken-Atlas« las. Lana (damals noch Larry) Wachowski wurde darauf aufmerksam und plante schon bald mit ihrem Bruder Andy und Tom Tykwer den Film. Portman sollte sogar Somni-451 spielen, wurde aber schwanger. Kein Verlust, denn Doona Bae ist ja eingesprungen.
Old Georgie
wird, analog zu ‚Old Nick‘ heute, der Teufel in der fernen Zukunft genannt. Hugo Weaving spielt ihn unter dickem grünen Make-Up mit Frack und Zylinder. Er erscheint Zachry (Tom Hanks), um ihn zu feigen, hinterhältigen oder mörderischen Taten anzustiften.
Prescients
sind die Menschen der fernen Zukunft, die noch etwas Ahnung von der Hochtechnologie der Alten haben. Sie reisen per Boot auf die Insel der Ziegenhirten und Kona-Kannibalen. Hale Berry spielt eine von ihnen, Meronym, die Zachry (Tom Hanks) als Führer anheuert, um eine Ruine der Alten auf der Insel zu finden.
Quatsch
ist die Idee der Reinkarnationen für die meisten Menschen. Dabei geht es in »Cloud Atlas« weniger um Wiedergeburt, sondern mehr um eine genreübergreifende Erzählung. Dabei deuten die Macher eine karmische Entwicklung der Protagonisten an, ohne sie explizit zu machen.
Rufus Sixsmith
begegnet den Zuschauer_innen in zwei Episoden: 1936 als Geliebter von Frobisher, 1975 als Kernphysiker und Informant von Rey. Beide Male spielt ihn der Engländer James D’Arcy.
Sechs
Jahre markieren die Dreh- und Angelpunkte in der Erzählung von »Cloud Atlas«: 1849, 1936, 1975, 2012, 2144 und 2321. Gewissermaßen bildet der Film ein Sextett, so dass Frobishers Komposition den Titel und die Bezeichnung des Films trägt: Das Wolkenatlas-Sextett.
Tom Tykwer
inszenierte drei Episoden: Frobisher in Edinburgh, Rey in San Francisco und Cavendish im Haus Aurora. Hier erkennt man seine Handschrift, seinen eigenen etwas manirierten Stil, der sich mit dem actionlastigen der Wachowskis nicht etwa beißt, sondern auf das vortrefflichste ergänzt.
Unterdrückung
ist eines der Kernthemen in »Cloud Atlas«. Sklaverei im 19. Jahrhundert, Ausgrenzung der Alten in der Gegenwart, Duplikanten und Konzerndiktatur in der Zukunft, Rassismus und Machtmissbrauch in allen Episoden: Der Mächtige nutzt den Schwachen aus. Der Held jeder Episode lehnt sich auf, mal mit mehr, mal mit weniger gravierenden Folgen.
Vierzehn
Jahre müssen österreichische Kinobesucher*innen mindestens sein, um in »Cloud Atlas« gelassen werden. In Deutschland ist der Film ab 12, in den USA müssen Jugendliche und Kinder unter 17 Jahren von einem Erwachsenen begleitet werden (‚R-Rating‘ der MPAA). Die Gründe dafür: „violence, language, sexuality/nudity and some drug use“. In Singapur, Südkorea, Indien und Brasilien ist der Film ab 18.
Withers
heißt der Hausmeister des Altenheims Aurora. Denholme Cavendish (Hugh Grant) bringt durch einen Trick seinen Bruder Timothy dazu, sich hier selbst einzuweisen. Gespielt wird Withers von Götz Otto. Hier zeigt sich Tom Tykwers Können, indem er dem Minimalschauspieler Otto eine Rolle gibt, in der dieser Rumbrüllen und seine körperliche Überlegenheit ausspielen kann. Für Idealbesetzungen braucht man keinen Alleskönner.
Xenophobie
treibt die Bösen im »Cloud Atlas« an: Bill Smoke nennt Latinos ‚Wetbacks‘, die Sklavenhändler sind ebenso rassistisch wie die Einflüsterungen von Old Georgie. Die Diskriminierung der Duplikanten trägt ebenso Züge von Rassismus in sich.
Yellow Facing
ist eine schlechte alte Filmtradition. Weiße in mal mehr, mal weniger hässlichem Make-Up spielen Asiaten. »Cloud Atlas« hat deswegen auch einige Kritik eingefangen, da im Neo Seoul-Segment unter anderem Jim Sturgess, Hugh Grant und James D’Arcy Koreaner darstellen. Im gesamten Film wechselt fast jeder Schauspieler mal Geschlecht, Ethnie und Alter: Asiaten spielen Weiße, Männer spielen Frauen, Schwarze spielen Weiße, Alte spielen Junge, Asiaten spielen Latinos und Tom Hanks spielt einen Cockney sprechenden Brit-Gangster. Das diskriminiert entweder alle oder keinen. Nachtrag von 2021: 2013 dachte ich, dass der Satz noch so geht. Heute weiß ich, dass das Blödsinn ist und struktureller Rassismus eben nicht alle gleich diskriminiert.
Zähne
haufenweise buddelt der Arzt Goose (Tom Hanks) 1849 am Strand einer Pazifikinsel aus. Kannibalen haben sie hier hinterlassen. Dabei spricht er die für den weiteren Verlauf des Films prophetischen Worte: „The weak are meat and the strong do eat!“ Und besonders malerisch setzt Tom Tykwer einen Zahn in Szene, den ein wütender Schotte einem Engländer im Verlauf einer Kneipenschlägerei ausschlägt.