Das Flüstern von Andreas Brandhorst

Manche bezeichnen Nikolas Santina als »Dussel«. Seine Tante Adele zum Beispiel. Wobei die selbst nicht gerade mit übermäßiger Intelligenz gesegnet ist. Anders sein Onkel Carlo. Der hat verstanden, dass Nikolas, den nur seine Freunde Nick nennen dürfen, alles andere als zurückgeblieben, vielmehr höchst außergewöhnlich ist. Denn die Hauptfigur des Thrillers Das Flüstern von Andreas Brandhorst nimmt seine Umwelt nicht nur in aller Deutlichkeit wahr. Vor allem hat Nick einen außergewöhnlichen Schutzengel. Manchmal flüstert der auch. Grundsätzlich nimmt er seine Aufgabe aber wirklich ernst. So sorgt Nicks Schutzengel dafür, dass nicht allzu viel Personal diese Geschichte überleben wird.
Schutzengel, ich brauche deine Hilfe
Nick ist gerade mal acht Jahre jung, da beweist ihm sein Schutzengel, dass er diesen Namen wahrlich verdient hat. Bislang hatte der Junge allerdings noch gar keine Ahnung, dass es diesen unsichtbaren Beschützer überhaupt gibt. Der kleine Nick weiß nur um die Deutlichkeit, mit der er seine Umwelt betrachten kann. Wie es sich anfühlt, seine anderen Augen und die anderen Ohren zu benutzen. Und mit ihnen bei Bedarf eine Umwelt zu schaffen, in der sich alles und jeder wie in Zeitlupe verhält. Auf dass er selbst genug Gelegenheit hat, jede Einzelheit genauestens zu studieren.
Mit dieser Deutlichkeit erlebt Nick den Anschlag auf seine Eltern mit. Dabei verfehlen ihn nicht nur die Pistolenkugeln, die Mutter und Vater töten. Auch überlebt er den Unfall des schließlich führerlosen Familienautos, trägt kaum eine Schramme davon. Dafür die Erkenntnis, dass sein Vater ein böser Mann gewesen sei, der gegen das Gesetz verstoßen habe. Das zumindest erklärt ihm hinterher der ermittelnde Polizist. Nick versteht nicht so ganz, was das bedeutet. Ohnehin interessiert er sich mehr für die Messer in den Augen des Polizisten und die Frage, welcher Pflanze der wohl gleicht. Pampasgras, entscheidet Nick. Schön anzusehen, bis man sich an den scharfen Kanten der Halme schneidet.
Dass er seinen Schutzengel auch um Hilfe rufen kann, erfährt Nick kurze Zeit später. Vermeintliche Geschäftsfreunde seines Vaters entführen ihn und wollen von ihm Informationen, die er nicht hat. Eingesperrt in einem Kellerraum nutzt Nick einmal mehr die Deutlichkeit, schickt seine anderen Augen und Ohren durch das Haus und belauscht seine Entführer. So wird ihm klar, dass er Hilfe mehr als nötig hat. Also ruft er seinen Schutzengel. Und der leistet ganze Arbeit: Am nächsten Morgen ist keiner der Entführer mehr am Leben.
Deutliche Pflanzen, Farben Tiere und Zahlen
Nach dem Tod seiner Eltern landet Nick bei dem Bruder seines Vaters und dessen garstiger Frau. Einer Distel kommt Tante Adele gleich, manchmal auch einer Brennnessel, findet Nick. Ganz anders jedenfalls als Onkel Carlo, der im Allgemeinen viel von einer Schatten spendenden Palme hat. Beizeiten kann der Onkel aber auch wie ein Krokus sein, der seine weichen Blütenblätter für die Nacht schließt. Nachdem er die Geschäfte von Nicks Vater übernommen hat, wird aber auch der nette Onkel beizeiten stachelig. Doch seine Farbe bleibt immer ein ehrliches Blau.
Hinter dieser Wahrnehmung seiner Umwelt steht Nicks Vermögen, Sinnesmodalitäten zu verbinden. Der Fachbegriff dafür lautet Synästhesie. Irgendwann später will sein Onkel sich diese Befähigung zunutze machen. Er wird Nick bitten, bei einem Geschäftsessen dabei zu sein. Um ihm hinterher zu sagen, wer es von den Gästen ehrlich meint und wer lügt. Lüge ist für Nick leicht zu erkennen, sie leuchtet in einem deutlichen Türkis. Zu diesem Zeitpunkt sieht er aber neben den Farben und Pflanzen auch schon die Tiere in den Menschen. Am Tisch um ihn herum sitzt also neben der Rose, die auch ein Panther ist, und dem Paradiesvogel, der viel von einer Begonie hat, auch ein Bär, ein Karpfen, ein Faultier…
Hätte er damals auch schon die Zahlen hinter den Menschen gesehen, wäre ihm sicherlich die braune Dreizehn des Adlers aufgefallen, der in der Folge viel Unheil über die Familie bringen wird.
In der Schweiz gibt es nicht nur Schokolade
Onkel Carlo jedenfalls entscheidet sehr zum Ärger seiner Adele, dass die Familie nach der Entführung nicht länger in Italien bleiben kann, und sorgt für den Umzug in die Schweiz. Am Genfer See lernt Nick in seiner neuen Schule nun Sonja kennen. Die ist auf ihre Weise mindestens mal so außergewöhnlich wie er selbst. Sonja ist nämlich in der Lage, die Zukunft zu zeichnen und auf sie zu wetten. Eines zeigen ihre Bilder jedenfalls immer wieder: dass Nicks und ihre eigene Lebenslinie unzertrennlich sind. Sonja weiß aber auch, dass man für die vorhergesehene Zukunft auch was tun muss. Als sie ein Stipendium für eine spezielle Schule zur Förderung außergewöhnlich Begabter erhält, will sie dieses nicht ohne ihren Nick annehmen.
So kommt es, dass Nick noch einmal die Schule wechselt, diesmal zusammen mit Sonja. Sie landen in einem Institut, in dem es Nick mit höchst seltsamen Lehrern und ihren noch seltsameren Methoden zu tun bekommt. Und mit Forschern, für deren weiße Farbe er erst einmal ein Prisma bräuchte, um herauszufinden, welche Farbe sie wirklich haben. Eines aber ist offensichtlich: In dieser Schule geht es nicht um die Förderung der Begabten.
Gebannt von der ersten Seite an
Dass eines mal klar ist: Das Flüstern von Andreas Brandhorst hat mich von der ersten Seite an in den Bann geschlagen. Das kann ich nicht von jedem Brandhorst behaupten, den ich in letzter Zeit gelesen habe. Bei Eklipse zum Beispiel kam die Begeisterung sozusagen erst im Abgang. Das Erwachen floss auf angenehme Weise dahin. Ewiges Leben ließ mich eher kühl zurück. Aber mit Das Flüstern hatte mich der Autor sofort.
Meine direkte und anhaltende Begeisterung hat hauptsächlich damit zu tun, dass der Autor immer bei seiner Hauptfigur bleibt. Jede Szene erleben wir zusammen mit dem Jungen. Und der hat eben diesen sehr speziell Blick auf die Geschehnisse. So zum Beispiel auf sein Leben als Sprössling eines süditalienischen Clans, der wüste Geschäfte betreibt und dabei ein ebenso wüstes Geschäftsgebaren an den Tag legt. Viel muss man sich da als Leser zusammenreimen. Denn erzählt wird wirklich alles über Nicks sehr spezielle Verarbeitung. Daraus ergibt sich eine wunderbare Grundspannung. Die sorgt auch dafür, dass die Sympathie für Nikolas Santina nie nachlässt. Egal, was er selbst im Laufe der Geschichte noch so alles treibt.
Zu Beginn dachte ich, der Junge sei maximal fünf Jahre alt. Großzügig hatte ich die Altersangabe von acht überlesen. Mein Eindruck kommt aber wohl auch daher, dass Andreas Brandhorst eine recht einfache Sprache gewählt hat. Die könnte auch zu einem Jugendbuch gehören. Das allerdings ob des reichlich fließenden Blutes und der beizeiten durchaus unheimlichen Anmutung des Schutzengels wohl kaum die entsprechende Altersfreigabe erhalten hätte.
Das Flüstern in aller Deutschlichkeit
In der Tat hatte ich etwas gezögert, Das Flüstern von Andreas Brandhorst zu kaufen. Ich habe bekanntlich öfter meine Probleme mit Buchtiteln und Covern – so auch hier. Ja, der Schutzengel flüstert beizeiten. Meist geflüsterte Worte: »Ich beschütze dich. Ich bin immer bei dir.« Aber warum heißt das Buch nicht Der Schutzengel? Oder von mir aus Der flüsternde Schutzengel? Und was soll das Bild, das sehr viel von der Psycho Duschszene hat?
Das Flüstern könnte auch Die Deutlichkeit heißen. Das ist so ein schönes deutsches Wort. Als Titel würde es die Sprachlichkeit in den Vordergrund bringen, die mir auch bei den anderen Werken von Andreas Brandhorst aufgefallen ist. Vor allem in der Eklipse, in der es um die Heimkehr nach einer interstellaren Reise geht. Statt des im Science Fiction Genre sonst üblichen englischen Tech Talks gibt es hier Begriffe wie Direkt und Gespinst für den Antrieb des Raumschiffes und sein Innenleben. Oder Bodenschweber für ein irdisches Fahrzeug. Anfänglich hielt ich diese Wortwahl für sperrig, später empfand ich sie zunehmend als charmant.
Gut gefällt mir übrigens auch, dass Andreas Brandhorst Grundideen über verschiedene Bücher aufteilt. Wer weiß, auf was man da noch alles stößt, würde man sich mal sein umfangreiches Gesamtwerk zu Gemüte führen. So sind mir erst einmal die Tiere aufgefallen, die Nick in den Menschen sieht. In Eklipse gibt es die Figur Kralle, eine katzenähnliche Alienfrau. Eine katzenartige Frau taucht auch in Ewiges Leben auf. Oder die Farben. Grau zum Beispiel. In Das Flüstern ist das die Farbe des Forschers, der entsprechend Grauling genannt wird und vom dem wahrlich nichts Gutes ausgeht. Eine ähnlich spezielle Bedeutung hat Grau aber auch in der Eklipse.
Das Flüstern von Andreas Brandhorst ist für mich jedenfalls ein echt vergnüglicher Lesetipp für graue Herbstabende.