Dein kaltes Herz von Sharon Bolton
Ein Gastbeitrag von N. Balnis.
Felicity Lloyd hat Angst. Sogar am Ende der Welt, auf einer kleinen Insel voller Pinguine und Seeelefanten, fühlt sie sich nicht sicher vor ihrem Mann. Ungeduldig erwartet sie den Winter, wenn Südgeorgien von Eis umschlossen ist und jeder Schiffsverkehr zum Erliegen kommt. Dann ist Felicity ist für ein paar Monate in Sicherheit. Doch als das letzte Schiff der Saison am Hafen anlegt, erkennt sie einen der Passagiere: es ist Freddie, ihr Mann.
Sharon Bolton führt uns in ihrem neuesten Buch in das britische Überseegebiet Südgeorgien, 1400 Kilometer östlich der Falklandinseln. Diese Insel, auf der Felicity im Auftrag des British Antarctic Survey Gletscher erforscht, fasziniert schon auf der ersten Seite. Ein klug gewähltes Setting: Thriller finde ich oft langweilig, und eine Frau, die vor ihrem gewalttätigen Ehemann flieht, ist auch keine wirklich bahnbrechende Idee. Aber eine Glaziologin, die in Gletscherseen taucht? Vergammelte Walfangstationen und riesige Pinguinkolonien? Das fesselt dann auch mein kaltes Herz.
Umso enttäuschter war ich, statt dem erwarteten Katz-und-Maus-im-ewigen-Eis-Spiel plötzlich zu lesen „Teil 2 – Cambridge, England“. Kurz überlegte ich, einfach zu Teil 4 und damit zurück ins ewige Eis zu springen. Mir wäre viel Vergnügen entgangen! Denn mit dem zweiten Teil beginnt der Teil des Buches, der für Fans des klassischen Whodunnit viel Freude bietet. Langsam lernen wir Felicity besser kennen; die Beziehung zwischen ihr und Freddie entfaltet sich. Alle paar Seiten wird ein neues Puzzlesteil aufgedeckt, bis allmählich ein ziemlich unerwartetes Bild entsteht. Nach ein paar Kapiteln erklärt sich der aufmerksamen Leser*in sogar auch der englische Titel The Split. Der deutsche Titel … klingt cool. In Südgeorgien ist es ja auch kalt und so.
Dein kaltes Herz enthält durchaus ein paar ärgerliche Elemente: Zum Beispiel eine Heldin „hochgewachsen wie eine Amazone“, mit dem „langen, silbernen Haar einer nordischen Prinzessin“, die „auf zarte, durch und durch englische Weise hübsch“ ist.1 Und die natürlich im Alter von 28 Jahren schon eine renommierte Wissenschaftlerin ist.2 Weil frau vor allen Dingen Identifikationsfiguren braucht, die Minderwertigkeitskomplexe erzeugen. Dazu kommt noch ein Boy-meets-Girl-Subplot, der für die Geschichte völlig unnötig ist, aber immerhin dazu dient, Heteronormativität zu zementieren – nur so zur Sicherheit. Aber vor allen Dingen ist das Buch sehr, sehr spannend und enthält einige unterhaltsame Wendungen. Die Protagonistin ist interessant und nicht unsympathisch; auch Freddie hält ein paar Überraschungen bereit. Insgesamt hat Dein kaltes Herz meine Erwartungen deutlich übertroffen. Wenn ich noch einmal einen Thriller lesen sollte, wäre es wohl einer von Sharon Bolton.
TL;DR:
Für wen das Buch etwas ist: für Leute, die beim Krimilesen gerne mitraten. Für Leute, die gerne rufen „Ha! Ich wusste es!“. Für Leute, deren Fernweh schmerzhafte Ausmaße angenommen hat.
Für wen das Buch nichts ist: Für Leute, die genug davon haben, dass jede Geschichte durch einen romantischen Nebenplot ergänzt wird. Für Leute, die gerade nicht noch mehr Aufregung gebrauchen können. Für Leute, die gerne „Fräulein Smillas Gespür für Schnee – Teil 2“ lesen würden.
Fischpott-Disclaimer: Wir haben ein Rezensionsexemplar des Buchs erhalten.
Sharon Bolton: „Dein kaltes Herz“ München (Goldmann) 2020, 480 Seiten, 10 €
- Blond heißt das. „Silbern“ sind unsere grauen Schläfen, wenn wir uns mal wieder selbst trösten müssen. Und niemand braucht diesen seltsamen „Unsere Mädchen sind die schönsten“-Patriotismus. ↩
- Liebe Kinder, lasst Euch von dieser ehemaligen Wissenschaftler*in sagen: Das ist möglich, aber gar nicht so wahrscheinlich. ↩
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