Der dunkle Wald von Cixin Liu (Trisolaris-Trilogie, Band 2)
»Ihr seid Ungeziefer«, hatte Trisolaris, der von drei Sonnen gebeutelte Planet, der Menschheit zuletzt in Die drei Sonnen verkündet. Und deutlich gemacht, dass sie kommen werden, die Erde zu besiedeln. Dabei hatten sie keinen Zweifel daran gelassen, dass sie Terra erst einmal von dem Ungeziefer befreien würden. Einziger Hoffnungsschimmer für die Menschheit: die Distanz von über vier Lichtjahren zwischen den beiden Planeten. Doch reichen vierhundert Jahre für die Aufrüstung? In Der dunkle Wald von Liu Cixin, dem zweiten Teil der Trisolaris-Trilogie, dreht sich viel um Kriegsführung und technischen Fortschritt. Wie viele Wasserstoffbomben und welche Art Antrieb braucht es, um sich gegen die Invasoren verteidigen zu können? Oder sollte sich das Ungeziefer nicht vielmehr Gedanken um die noch unerforschte Disziplin der Kosmosoziologie machen?
Kosmosoziologie – oder: Where is everybody?
Der Kosmosoziologie, so erklärt Ye Wenje Luo Ji am Grab ihrer Tochter Yang Dong, gehöre die Zukunft. Der junge Astronom und Soziologe weiß nicht so recht, was die aus dem ersten Teil der Trisolaris-Trilogie bekannte Astrophysikerin ihm damit sagen will. Noch ahnt er nämlich nicht, dass seine Welt von extraterrestrischen Sophonen bestimmt ist.
Diese in die elfte Dimension gefalteten Protonen hatten die Trisolarier in unser Sonnensystem gesandt. Ihr Hauptzweck: die Menschheit davon abzuhalten, in Bereichen wie der Hochenergie- und der Quantenphysik sinnvolle Ergebnisse und damit Fortschritte zu erzielen. Zudem dienen sie Trisolaris als Abhöranlage und Transmitter. Doch von alledem hat der junge Luo Ji, dessen Name dem lautmalerisch aus dem Englischen ins Chinesische übernommenen logic entspricht, noch keine Kenntnis.
Dennoch nimmt er sich in der Folge den zwei Axiomen der Kosmosoziologie an. Die lauten, dass 1) Überleben das oberste Gebot jeder Zivilisation sei. Und dass 2) Zivilisationen ununterbrochen wachsen und sich ausdehnen, während die im Kosmos verfügbare Materie immer gleich bleibt. Auch denkt er über zwei zentrale Konzepte nach, die Ye Wenje ihm an die Hand gegeben hat: Zweifelsketten und technologische Explosion.
Erst sehr viel später wird er die Konsequenz aus allem verstehen. Und erkennen, dass das Universum der dunkle Wald ist, von dem der Titel des Buches spricht. Und zwar genau die Art von dunklem Wald, in dem man besser nicht laut vor sich hin pfeift, um die eigene Angst vor dem bedrohlichen Anderen zu überwinden. Damit liefert er auch seine Lösung für das Fermi-Paradoxon mit der zentralen Frage: »Where is everybody?«
Von Eskapismus und Defätismus
Was tun, wenn das Ende naht? Vierhundert Jahre sind im kosmischen Sinne keine Erwähnung wert. Für das Individuum bedeuten sie, dass keiner dieses Ende am eigenen Leib erfahren wird. Aber was ist mit den Nachfahren? Was mit der Menschheit als solche? In Anbetracht einer derart überlegenen Zivilisation, die die eigene vernichten will, mag sich Optimismus nicht wirklich breitmachen. So kommen auch die wenigsten Soldaten mit der Vorstellung klar, keine Chance zu haben und sie dennoch zu nutzen.
Defätismus (der mangelnde Glaube an den Sieg) und Eskapismus (eigentlich Realitätsflucht, hier auch sehr konkret als Weltflucht verstanden) verhindern in den ersten Jahren der Krise die weitere Entwicklung. Beide Konzepte werden aber auch viel später, wenn sie eigentlich schon längst überwunden scheinen, noch einmal schwer zuschlagen. In den ersten zweihundert Jahren befeuern sie die Überlegungen, wie zumindest ein Bruchteil der Menschheit das Sonnensystem verlassen könnte. Und wenn das ginge, welcher Bruchteil das bitte schön sein soll. Vor allem stellt sich aber die Frage, wie man dergleichen erfolgreich planen soll, ohne dass die Sophonen davon mitbekommen.
Ein Netz aus Tarnung, Irreführung und Täuschung
Sophonen sind echte Plaudertaschen. Alles, was auf der Erde auf jede erdenkliche Weise kommuniziert wird, landet über sie direkt bei ihren Erstellern. Vernichten lassen sich die Sophonen leider nicht. Noch nicht einmal, wenn sie sich in eine niedrigere Dimensionen auffalten und somit sichtbar werden. Also bleibt nur die Option, auf keinen Fall über die wahren Absichten zu kommunizieren. Damit das funktionieren kann, braucht es große Denker, echte Strategen. Auserwählte, die in ihren Köpfen ihre Ideen entwickeln und sich niemals mit einem Zweiten über ihre wahren Ziele austauschen. Alles, was ein sogenannter Wandschauer sagt oder macht, muss ein Netz aus Tarnung, Irreführung und Täuschung sein.
Wandschauer, erklärt die UN-Generalsekretärin, sei ein alter Ausdruck für einen Meditierenden und spiegele die einzigartige Mission wider. Der UN-Generalversammlung, bei der vier Personen für diesen Job ernannt werden, wohnt zu seiner großen Überraschung auch Luo Ji bei. Und zu seiner noch größeren Überraschung benennt sie ihn neben zwei großen Politikern und einem Hirnforscher als einen von vier Auswählten. Doch was soll Luo Ji, ein durchschnittlicher Hochschuldozent ohne große Ambitionen, dazu beitragen können, die Menschheit zu retten?
Jedem Wandschauer sein Wandbrecher
Trisolarier haben kein Konzept für Lügen und Betrügen. Denn für Trisolarier sind Denken und Sprechen gleichbedeutend. Dabei haben sie durchaus verstanden, dass Menschen sehr wohl täuschen können. Deshalb ist ihnen der Kontakt zur ETO, der Erde-Trisolaris-Organisation, nachwievor wichtig. Zumindest, solange es die letzten Jünger Trisolaris auf Erden noch gibt. Und die treffen sich nachwievor im Three Body Spiel. Dort findet sich für jeden Wandschauer schnell ein Wandbrecher. Also ein Mensch, dessen einziges Ziel es ist, die wahren Absichten seines Wandschauers herauszufinden. Einzig im Falle Luo Jis übernimmt den Job kein Erdenbewohner, sondern der Oberste der Trisolarier selbst. Denn Luo Ji, auch wenn er davon keine Ahnung hat, stellt die einzig wahre Gefahr für Trisolaris dar.
Ich denke, ich verrate nicht zu viel, wenn ich verkünde, dass drei von vier Wandbrechern erfolgreich sein werden. Was sie im Einzelnen aufdecken, zeugt einmal mehr von dem alles durchdringenden Defätismus der Menschheit. Einzig an Luo Ji, der seinen Job erst gar nicht annehmen mag und offenbar nur an sein eigenes Glück denkt, beißen sich die Trisolarier die Zähne aus. Allem voran sein Fluch gegen den Planeten 187J3X1 versetzt nicht nur die Menschheit in großes Erstaunen. Spätestens jetzt hat Trisolaris verstanden, dass von diesem Kosmosoziologen die wahre Gefahr ausgeht.
Viel Strategie und Technoglaube – und ein Hauch Magie
Der dunkle Wald beginnt mit einer Ameise. Und mit einem solchen (sorry, Ameisen dieser Welt) Ungeziefer endet auch der zweite Teil der Trisolaris-Trilogie über zweihundert Jahre später. Beide sind Zeugen wichtiger Momente, die jeweils am Grab von Yang Dong stattfinden. Nicht wirklich können sie dem Geschehen folgen, verstehen die Gespräche der Menschen nicht. Und doch bleibt ein wenig von allem in ihren kleinen Hirnen haften. Ungefähr so, wie es wahrscheinlich auch den meisten Lesern geht. Ich jedenfalls musste mehrfach noch einmal nachschauen. Wie war das nochmal mit den wachsenden Zivilisationen, der endlichen Materie und den Zweifelsketten?
Die Ameise steht für die bezaubernden Momente, die Liu Cixin zu schaffen imstande ist. Die Bilder, die er zu kreieren vermag und die weltweit für Begeisterung sorgen. Auf der anderen Seite verbringt er mit Der dunkle Wald viel Zeit, über militärische Strategien und wahres Soldatentum nachzudenken. Wenn einer der Wandschauer loszieht, den wahren Krieger zu finden, der im Zweifel auch Kamikaze begehen würde. Oder ein anderer Millionen von Wasserstoffbomben verlangt, um der trisolarischen Flotte in vierhundert Jahren den Garaus machen zu können. In langen Diskussionen und Erläuterungen geht es immer wieder darum: dass nur der passende technologische Fortschritt die Menschheit retten kann. Das wirkt teilweise ein wenig zu ausführlich. Mir jedenfalls stellte sich dabei immer wieder die Frage nach der Auflösung der kosmosoziologischen Axiome. Und was zum Teufel sich Luo Ji bei seinem Fluch gedacht haben mag.
Aber wenngleich ich (im Gegensatz zum ersten Teil) bei Der dunkle Wald zwischendurch das Gefühl von Längen hatte, überwog doch immer die Faszination für diese einerseits so düstere, auch so anspruchsvoll wissenschaftliche, andererseits immer wieder verzaubernde Denke des chinesischen Schriftstellers. Und so brenne ich schon jetzt auf den finalen Teil Jenseits der Zeit. Aber da werde ich mich wohl noch ein Jahr gedulden müssen…