Der Wintertransfer von Philip Kerr
Mord in der Premier League
Philip Kerr liebt Fußball. Vielleicht ist das sogar der Grund, warum der schottische Schriftsteller in London lebt, der Stadt seines Lieblingsvereins FC Arsenal. Nun hat er zwei seiner Interessen unter einen Hut gebracht: In Der Wintertransfer (January Window) trifft Mord auf die erste Liga des englischen Fußballs. Dafür hat er einen Verein gegründet (London City), den Job als Clubbesitzer an den ukrainischen Milliardär Viktor Sokolnikow vergeben, im East End ein Stadion errichtet und den eigenwilligen wie genialen Portugiesen João Gonzales Zarco als Cheftrainer engagiert. Letzterer wird die Geschichte nicht überleben. Einen trifft es halt immer, wenn Philip Kerr als Autor auf dem Cover steht. Für seinen Thriller hat sich der Fußballfan von einem Fußballtrainer beraten lassen, und dem versichert er im Vorwort nicht nur seine vollste Diskretion. Auch verspricht Kerr, ihn im Falle ausbleibender Erfolge nicht zu feuern.
Scott Manson hasst Weihnachten
So viel sei vorweg gesagt: Ein Buch, das mit dem Satz »Ich hasse Weihnachten« beginnt, muss einfach gut sein. Der Co-Trainer von London City weiß für diese Abneigung gute Gründe zu nennen. Einer hat mit dem Spielplan zu tun: Ein englischer Erstligist hat an Weihnachten und zwischen den Jahren gleich drei Pflichtspiele zu absolvieren. Da hat es sich was mit intensiven Feierlichkeiten: Alles, was Spaß machen könnte (Alkohol, Tabak, schweres Essen), ist verboten. In der Folge steht dann das vierwöchige Transferfenster an, währenddessen europäische Vereine versuchen, ungeliebte Spieler loszuwerden und Titel- oder Abstiegsretter einzukaufen. Sehr anstrengend für all jene, die erst Geld einnehmen müssen, bevor sie sich einen Superstar leisten können. Und da aller guten Gründe drei sind, hasst Scott Weihnachten auch deshalb, weil er zehn Jahre zuvor ausgerechnet kurz vor den Festtagen wegen Vergewaltigung für schuldig gesprochen und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Anderthalb Jahre hatte er absitzen müssen, bis ein, bis dahin als verschwunden erklärtes, Beweisstück wieder auftauchte und seine Entlassung bewirkte. Seither hasst Scott Manson nicht nur Weihnachten. Er hasst vor allem auch die englische Polizei.
Der Wintertransfer 2014
Dieses Jahr (2014) gestaltet sich der Januar für den Sohn einer deutschen Leichtathletin mit afroamerikanischen Wurzeln und eines schottischen Fußballspielers besonders schwierig. Erst fällt sein Torhüter mit einer schweren Kopfverletzung für den Rest der Saison aus. Dann begeht einer seiner besten Freunde Suizid, und im Heimstadion hat einer mitten auf dem Spielfeld ein tiefes Loch ausgehoben und darin ein Foto von João Zarco beerdigt. Die Vereinsverantwortlichen staunen nicht schlecht, nehmen es aber erst einmal sportlich. Auch die portugiesische Trainerlegende bevorzugt die Annahme, hierbei handele es sich nur um die geschmacklose Verirrung eines Fans. Doch wirft dieses Grab seine Schatten voraus: Nur kurze Zeit später findet sich in einer entlegenen Ecke des Stadions Zarcos geschundener Leichnam. Irgendjemand scheint sehr böse auf den Cheftrainer gewesen zu sein: Der tote Körper zeugt von postmortaler massiver Prügel.
Scott Manson ist am Boden zerstört. Für ihn war Zarco nicht nur ein begnadeter Fußball-Experte und sein Chef. Er hat in dem Portugiesen immer auch einen seiner besten Freunde gesehen. Eigentlich hätte Scott nun allen Grund, sich mit seiner Trauer erst einmal zurückzuziehen. Doch da hat er die Rechnung ohne Viktor Sokolnikow gemacht. Der Clubbesitzer erwartet von seinem Co-Trainer nichts Geringeres, als herauszufinden, wer João Zarco auf dem Gewissen hat. Mit der Polizei hat nämlich nicht nur Scott Manson nicht viel am Hut. Niemand weiß so ganz genau, wie der Ukrainer zu seinem Geld gekommen ist, und dabei soll es auch bleiben. Zögerlich nimmt Scott den Auftrag an. Ihm ist schon klar, dass er vielleicht viel von Fußball, nicht aber unbedingt viel von polizeilichen Ermittlungen versteht. Doch der Preis, den Sokolnikow ihm verspricht, ist einfach zu verlockend: Scott Manson soll der neue Cheftrainer von London City werden.
Die größte Vagina Katars ist ein Fußballstadion
Tatmotive gibt es eine ganze Menge. Mutmaßliche Täter auch. Dafür hat der Cheftrainer dank seiner scharfen Zunge selbst gesorgt. Seien es nun Spieler, die Zarco in Grund und Boden stampft, wenn deren Vorstellung von Fairplay nicht zu seinem Siegeswillen passt, oder Trainerkollegen, die er vor laufender Kamera als völlig unfähig bezeichnet. Auch mit dem Clubbesitzer ist er immer wieder aneinandergeraten, weshalb Sokolnikow ihn schon einmal gefeuert hatte. Selbst seine Nachbarn sind wegen des Umbaus seines Hauses gar nicht gut auf ihn zu sprechen. Freunde in Katar hatte Zarco sich mit seinen Äußerungen zur WM 2022 sicherlich auch nicht gemacht. »Warum will ein Land, in dem man ausgepeitscht werden kann, weil man Alkohol getrunken hat, unbedingt Gastgeber einer Horde englischer, niederländischer oder deutscher Fußballfans werden?« hatte er öffentlich gefragt und bei demselben Anlass das größte Stadion Katars mit einer riesigen Vagina verglichen. Um dann darauf hinzuweisen, dass er gegen eine großzügige Zahlung wie jener, die die FIFA für die Vergabe erhalten habe, gerne auch genau das Gegenteil behaupten würde.
Ein Thriller nicht nur für Fußballfans
Ich mag Fußball. Irgendwie. Ich bin kein Fan eines Vereins oder so. Ich bin eher der Typ, der alle zwei Jahre zu den internationalen Großereignissen vor der Glotze sitzt und dann auch gerne heftig mittwittert. Fußball, so finde ich, liefert einfach gute Geschichten. Oder so schöne Äußerungen wie Andreas Möllers »Mailand oder Madrid, Hauptsache Italien« oder Lothar Matthäus‘ »My English is not so good, but my German is better«. Das hat Stil. Irgendwie. In Sachen Premier League kenne ich mich so gut wie gar nicht aus. Sicher, ich weiß, dass es Manchester United gibt. Oder einen Verein namens FC Chelsea, dessen Besitzer ein russischer Öl-Milliardär namens Roman Abramowitsch ist, der schon zweimal den streitbaren Portugiesen José Mourinho als Cheftrainer engagiert hat. Aber meine Kenntnis des englischen Fußballs geht wahrlich nicht so weit, dass ich jedes Team benennen könnte. So war ich zu Beginn der Geschichte tatsächlich irritiert: Bei all den Namen, sei es von Vereinen, Spielern, Trainern oder gar Schiedsrichtern, die Philip Kerr in seinem Thriller erwähnt und die ich schon mal gehört habe – sollte es tatsächlich einen Verein namens London City geben? Ich musste es nachschauen.
Dabei ist es für eine derart mittelmäßig gebildete Fußball-Beobachterin wie mich völlig unerheblich, ob der Schauplatz des Verbrechens ein realer Verein ist oder nicht. Die Geschichte an sich funktioniert auf jeden Fall. Für jemanden mit mehr Hintergrundwissen ist sie aber vermutlich gleich noch schöner. Allein das Erkennen der Parallelen zu real Existierenden (Chelsea, Abramovich, Mourinho – allesamt namentlich vertreten) macht das Ganze noch viel amüsanter. Von einzelnen Nebenerzählungen aus der bunten Welt des Fußballs – und von denen gibt es im Roman eine Menge – mal ganz abgesehen. Wer diese selbst erinnert oder sie in ihrem jeweiligen Kontext weitreichender einzuordnen weiß, hat an Der Wintertransfer sicherlich noch viel mehr Freude als ich. Mir jedenfalls hat Philip Kerr Einblicke und Bilder geliefert, die mein Verständnis des oft bizarr anmutenden Fußball-Universums absolut bereichert haben.