Deutschsprachige Science-Fiction und Fantasy 2020
Von Judith C. Vogt
Dieser Gastbeitrag ist der erste in einer kleinen Reihe zum 10. Jubiläum von Fischpott im Dezember 2020.
2020 war ein kompliziertes Jahr, auch auf dem Buchmarkt. In meinem Wohnort gibt es eine kleine Buchhandlung, die inhabergeführt ist – und damit meine ich ausschließlich inhabergeführt, es gibt keine Angestellten – und das Vorortleben normalerweise mit allerlei Lesungen und Buch-bezogenen Veranstaltungen bereichert. 2020 war unsere Lesung aus dem dritten Teil von Die 13 Gezeichneten die letzte Veranstaltung auf weiteres. Kurz danach musste der Laden geschlossen bleiben. Der findige Buchhändler verkaufte Bücher an der Türschwelle oder brachte sie gleich bis zu den Türen der Lesenden. Umsatzeinbußen hatte er dadurch tatsächlich nicht – es sei sogar mehr gelesen worden, und die Vorörtler*innen haben sich mehr auf den örtlichen Buchhandel besonnen, statt online zu bestellen.
Ich bin selbst gelernte Buchhändler*in. Ob der Buchhandel insgesamt mit Umsatzplus oder -minus durch die Krise geht, weiß ich jedoch nicht, ich arbeite seit vielen Jahren auf der anderen Seite der Buchnahrungskette. Von dieser Seite kann ich berichten: 2020 ist ein kompliziertes Jahr. Denn eigentlich haben wir Autor*innen ja Glück im Unglück. Anders als Musiker*innen, Theaterschauspieler*innen und andere performative Künstler*innen macht es für uns wenig Unterschied, ob wir jetzt zu Hause schreiben oder zu Hause schreiben und draußen einen MNS anziehen müssen.
Aber: Es gibt kaum Möglichkeiten, neue Bücher vorzustellen und zu präsentieren, vom Internet einmal abgesehen. Die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt, bei denen normalerweise Horden von Neuerscheinungen und Autor*innen einem begierigen Publikum präsentiert werden, sind ausgefallen. Die Online-Ersatzprogramme konnten den Ausfall nicht wirklich ersetzen. Conventions und Lesungen gab es keine. Und auch, wenn das Internet für Phantastik-Autor*innen in kleineren Verlagen oder in der werbebudget-losen Midlist ohnehin das Werbeinstrument der Wahl ist, ist es doch für die meisten von uns auch wichtig, die eigene Neuerscheinung auf den Rollenspiel-, Fantasy- und SF-Cons der Republik vorzustellen.
Letztlich sieht die Situation für Kleinverlags- und Midlistautor*innen momentan nicht gerade rosig aus, und die Corona-Krise hat das noch verstärkt. Die Verkäufe konzentrieren sich im Fantasy- und Science-Fiction-Bereich auf wenige Spitzentitel immer gleicher Autoren, und in Ermangelung von Präsentationsmöglichkeiten haben viele Verlage ihre Midlists erst einmal ausgedünnt oder ein wenig auf Eis gelegt und Programme verschoben. Verständlich, aber für Autor*innen bitter, wenn statt einem jährlichen oder sogar halbjährlichen Rhythmus das nächste Buch dann erst in anderthalb Jahren erscheint …
Too long, didn’t read? Dann komme ich jetzt zum Punkt: Lesen ist politisch. Wer eine vielfältige Verlagslandschaft unterstützen will, wer möchte, dass die deutschsprachige Phantastik mehr ist als die Summe ihrer (wenigen) Big Players, muss sein Lesen politisieren. In der deutschsprachigen Phantastik, besonders in der Science-Fiction, klafft nach wie vor eine große Lücke zwischen Männern und Frauen. Das heißt nicht, dass du als Mann in der SFF automatisch Erfolg hast – umgekehrt wird ein Schuh draus: Als Frau hast du automatisch erst mal keinen Erfolg. Gender Pay Gap ist auch unter Autor*innen real, auch wenn niemand – Verlage nicht, Kolleg*innen nicht, Leser*innen nicht – da irgendetwas böswillig oder absichtlich in die Wege leitet. Es gibt Statistiken der Künstlersozialkasse, nach denen Autorinnen deutlich weniger verdienen als Autoren (quer durch die Genres natürlich). Das heißt, Schritt eins in der Politisierung des Lesens: Frauen lesen!
Schritt zwei in der Politisierung des Lesens: Sich online über Bücher und ihre Autor*innen informieren. Bücher marginalisierter Autor*innen stehen deutlich seltener im Mittelpunkt von Marketinginteressen. Auch da unterstelle ich erst mal keine böse Absicht, sondern einfach zum Beispiel den strukturellen Rassismus fast komplett weißer Institutionen, und die Buchbranche ist sehr weiß, sehr cis, sehr able-bodied. Da greifen also natürlich Strukturen, die im Rest der Gesellschaft auch greifen – zum Beispiel Bedenken, ob Schwarze Protagonist*innen denn für die vornehmlich weiße Leser*innenschaft so „zugänglich“ sind. Das gleiche gilt auch für andere -ismen: Sind queere Figuren denn für Heteros zugänglich? Figuren mit Behinderung für Menschen ohne Behinderung?
Die Antwort ist natürlich: Ja, das sind sie, vor allem, wenn sie von Autor*innen geschrieben werden, die wissen, wovon sie reden. Aber um diese Bücher zu finden und in den Fokus zu stellen, bleibt nichts anderes übrig, als ein bisschen Recherche zu investieren.
Und um euch diese Recherche abzunehmen, stelle ich euch einfach einige Bücher vor, die mir, wenn ich den Rest von 2020 ganz schnell vergesse, in guter Erinnerung bleiben werden.
Annette Juretzki: Von Rache und Regen
Das erste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe und eines meiner absoluten Highlights. Annette Juretzki hätte dafür jeden Fantasy-Preis in diesem Jahr verdient, aber sie ist nicht einmal nominiert worden – ob es daran liegt, dass sie in einem Kleinverlag veröffentlicht, der sich zudem auf Gay Romance spezialisiert hat? Am Roman jedenfalls liegt es nicht, denn der hat alles, was ein innovativer Fantasyroman braucht.
Interessantes Setting? Check: Eisenzeit mit Zombies!
Figuren, die eine*n nicht mehr los lassen? Check: Der von Zweifeln, Selbsthass und Trauer zerfressene Riagh und der unterkühlte Nekromant Nuzar geben ein großartiges Enemies-to-friends-to-lovers-Paar ab.
Cooles Worldbuilding? Check: In Riaghs Kultur beruht alles auf dem immerwährenden Regen – Sprache, Glaube, Redensarten – während bei Nuzar der sprachliche Kniff eines generischen Femininums auffällt.
Und was lässt sich besser bei einer winterlichen Tasse Tee lesen als ein Buch, in dem es immer regnet?
Sarah Stoffers: Berlin – Rostiges Herz
Ein Steampunk-Berlin in ferner Zukunft. Der Klimawandel und diverse Katastrophen haben alles verändert – und die Magie wurde wiederentdeckt! Doch Magie ist nie für alle, und so gibt es die Zaubernden auf der einen Seite und die Bastler, Erfinderinnen und Mechanikusse auf der anderen. Dazwischen stand Rosa, geliebt vom Zauberer Fidelio, der ihr gerade einen Antrag machen wollte, und der Erfinderin Mathilda, die ihr gerade Macarons zum Geburtstag geschenkt hat. Doch Rosa ist tot – ermordet mittels vergifteter Macarons. Klar, wer verdächtigt wird, fliehen muss und gleichzeitig herausfinden will, wer wirklich Rosa auf dem Gewissen hat.
Stoffers, nichtbinär und queer, zeigt, wie man eine Geschichte rund um Diskriminierung schreiben kann, ohne dabei reale Diskriminierungsformen zu verwenden. Die Kluft zwischen Magiebegabten als herrschender Klasse und dem „normalen Volk“, ist dabei sicher keine neue Erfindung, erstrahlt aber im rostigen Herz Berlins in einer ganz ungewöhnlich glänzenden Geschichte.
Melanie Vogltanz: Shape Me
Völlig zurecht war Melanie Vogltanz in diesem Jahr für einige große Science-Fiction-Preise nominiert. Shape Me ist ein Near-Future-Thriller, in dem Geldwährung von Kalorienwährung abgelöst wurde. Menschen dürfen für das Budget der ihnen zugeteilten Kalorien „einkaufen“, in der Bestrebung, eine fitte, schlanke, normierte Bevölkerung zu erhalten. Wer reich genug ist, tauscht mittels Technologie für einige Monate das Bewusstsein mit Fitnesstrainer*innen, die sich in dieser Zeit im übergewichtigen Körper befinden, um diesen wieder auf Idealgewicht herunterzuhungern. Doch wenn diese Technik des „Körpertauschs“ existiert – welchen Grund gibt es für chronisch kranke Menschen, in ihren Körpern zu bleiben? Und mit dem Raub eines solchen Geräts nimmt eine Handlung voller moralischer Dilemmata und Fragen ihren Lauf.
Elea Brandt: Opfermond / Sand und Wind
Elea Brandt hat ein Faible für arabisch inspirierte Settings in ganz verschiedenen Geschmacksrichtungen. Wo Opfermond sich als knallharter Thriller rund um eine okkulte Verschwörung dreht, der ein Auftragsmörder und ein Freudenmädchen auf die Spur kommen, ist die Sand und Wind-Reihe die märchenhafte und abenteuerliche Geschichte eines Rollentauschs zwischen Prinz und Bettelknabe – oder eher Schah Elis und Gauner Quiro. Dabei versucht sich Brandt an dem Drahtseilakt, 1001-Nacht-inspirierte Phantastik zu schreiben, dabei aber nicht nur den westeuropäischen Blick darauf zu bedienen. Die Psychologin schreibt unter anderem im Essayband Roll Inclusive über kultursensiblen Weltenbau und hat einen Blog, in dem sie immer wieder Position bezieht für progressive Fantasy, Sensitivity Reading und mehr Sensibilität bei der Darstellung von psychischen Störungen.
James A. Sullivan: Die Stadt der Symbionten
James A. Sullivan, Co-Autor von Die Elfen und Autor von Nuramon, ist als einer der wenigen deutschsprachigen Autor*innen international übersetzt und hat Bestsellerlistenerfahrung vorzuweisen. Etwas weniger bekannt sind seine Science-Fiction-Romane – was nicht an der Qualität liegt, sondern daran, dass deutschsprachige SF bis auf wenige Ausnahmen kein großes Publikum findet. Dabei erinnert Die Stadt der Symbionten an klassische US-amerikanische Science-Fiction-Werke, hintergründig modernisiert und mit einem beinahe kurzgeschichtenartigen Twist am Ende, der eine*n mit offenem Mund zurücklässt. Wie gern würde ich eine Rezension davon in irgendeinem Feuilleton lesen! Aber das ist wohl weiterhin Wunschdenken, daher muss es meine Rezension tun: Die Stadt Jaskandris liegt unter einer gläsernen Kuppel in der Antarktis und hat keinen Kontakt mehr zu irgendeiner Form von Außenwelt – gibt es überhaupt noch eine Außenwelt? Künstliche Intelligenz sorgt dafür, dass keine Überbevölkerung entsteht, obwohl Menschen praktisch unsterblich sind, indem sie für jeden neugeborenen Menschen eine freiwillige Person in den sogenannten Tiefenschlaf versetzt, aus dem sie nur aufwachen kann, wenn sich dafür wiederum jemand schlafenlegt. Die sogenannten Symbionten kommunizieren mit der KI und sind gleichzeitig Teil von ihr – wie ein menschlicher Schwarm.
Gamil ist nun aufgewacht, seine Schwester hat sich für ihn schlafengelegt. Es fällt ihm schwer, ins Leben zurückzufinden – und dann hört er ein Flüstern, das ihn ungehorsam werden lässt …
Auch Sullivan, Schwarzer US-Amerikaner, der in Deutschland lebt und auf Deutsch schreibt, schreibt zusätzlich auf theoretischer Ebene über die deutschsprachige SFF und die Notwendigkeit einer progressiven Phantastik, zum Beispiel auf TOR Online oder im Online-Magazin Phantast.
Henning Mützlitz: Hexagon – Der Pakt der Sechs
Eine alternative Version unserer Historie gibt es bei Henning Mützlitz – und hier zum ersten, aber nicht letzten Mal in dieser Auflistung der Disclaimer: Ich bin Lektorin dieses Buchs und daher natürlich noch voreingenommener als ohnehin schon. Kardinal Richelieu, den wir alle aus Die drei Musketiere kennen und lieb… hassen, ist die oberste Instanz im Kampf Frankreichs gegen Dämonen, die das Königreich mithilfe paktierender Adliger unterwandern. Der desillusionierte Musketier Armand stößt auf die Kammerdienerin Cécile, die, in die Ecke gedrängt von Dämonen, plötzlich ihre Befähigung zur Magie entdeckt. Widerstrebend stellt Armand fest, dass sein Dienst an der Krone wohl doch noch nicht vorbei ist.
Klassische Mantel-und-Degen-Tropes und bekannte Figuren wie Richelieu und D’Artagnan verknüpfen sich mit überraschenden Wendungen und Dingen, die nicht so sind, wie sie scheinen. Mein Highlight ist jedoch, dass die Intrige, der Armand und Cécile auf der Spur sind, historisch belegt ist – nur eben nicht die Dämonen, die darauf hingewirkt haben.
Mützlitz’ neustes Werk ist der erste Band von Sorrowville, einer John-Sinclair-artigen Reihe, die Mützlitz als „Malcolm Darker“ zusammen mit „Naomi Nightmare, Sheyla Blood, Chastity Chainsaw & Scarecrow Neversea“ herausgibt, hinter denen sich ebenfalls recht bekannte deutschsprachige Autor*innen verbergen.
Jasper Nicolaisen: Totes Zen
Der*die genderfluide Barbar*in Krass hat den Abschluss an Berserkertum und Barbarei absolviert, ein geheimnisvolles Buch hat ihn*sie alle Freund*innen gekostet und nun bleibt Krass nur das Schwert Brudi, um endlich sein*ihr Schicksal zu erfüllen. Krass steigt hinab in grausliche Tiefen, begegnet schlafenden Magierinnen auf fliegenden Teppichen und ganzen Universen unter Fingernägeln. Außerdem gibt es Meerschweinchenpornos, und allein das sollte Argument genug sein.
Geschichten in Geschichten in Geschichten lassen Leser*innen immer tiefer in immer abstrusere Abenteuer torkeln. Am Schluss der Hommage an Pratchett, Das Schwarze Auge, Conan und vieles mehr bleibt jedoch der Gedanke, dass es um Familie geht, um Wahlfamilie, Freundschaft und das Aufbegehren gegen das, was vermeintlich festgeschrieben ist – auch wenn das nicht mehr in Krass‘ Hand liegt, sondern … in meiner?
Christian Vogt: Mutter-Entität
Ich bin doppelt befangen, denn diese Novelle habe ich lektoriert, und ich bin außerdem mit dem Autor verheiratet. Aber Mutter-Entität bringt die Science-Fiction-Ideen von Künstlicher Intelligenz in ein napoleoneskes Fantasysetting – und nur eine autistische Protagonistin kann dieser KI aus der Klemme helfen. Der Kurzroman hat die perfekte Länge für einen gemütlichen Leseabend.
Keine Phantastik, trotzdem toll:
Patricia Eckermann und Stefan Müller: Viertelherz
In seiner vierteiligen Großstadtcomedy erklärt das Ehepaar Eckermann-Müller, das auch fürs Fernsehen schreibt und unter dem Namen „antagonisten“ firmiert, dem Kölner Stadtteil Ehrenfeld seine Liebe. Dabei geht es um Karriere beim Fernsehen, um Volksmusikantenstadl, Drogen und BDSM (ja, natürlich in Kombination), um Queersein in der Großstadt und Schwarzsein in Deutschland, um Identitäten multikultureller Viertel und … na ja, um Ehrenfeld! Wer es nicht kennt, kennt es danach, und die vier Kurzromane machen große Lust auf einen Abstecher nach Kölle. Von hier aus zum Glück nicht weit.
Noah Sow: Die Schwarze Madonna
Der erste Krimi der Schwarzen deutschen Aktivistin Noah Sow führt mit vielen autobiografischen Elementen in ihre Heimat – nach Bayern. Dort wird Protagonistin Fatou mit der Entführung des Nachbarkinds konfrontiert, mit einem pseudo-islamistischen Anschlag auf die Kapelle der Schwarzen Madonna, mit deutschtümelnden Studentenverbindungen und bornierten Lokalpolitikern. Doch sie findet auch Verbündete, wo sie sie am wenigsten erwartet.
Ich bin natürlich voreingenommen, denn ich habe das Buch lektoriert, aber wenn ihr für Weihnachten noch einen Krimi für eure nicht-phantastikaffinen Verwandten sucht, ist dieser hier perfekt. Oder ihr lest ihn einfach selbst!
OJ & ER: #ichwillihnberühren
Auf dem lokalen Social Medium Jodel schreibt ein User: „Ich (m) habe mich in einen Kumpel verliebt und jetzt liegt er in Boxershorts neben mir im Bett.“ Er will ihn berühren … aber sein Kumpel ist hetero. Oder? OJ und „er“ eiern so umeinander herum, und dabei holt OJ sich immer wieder Rat bei Jodel … Eine wahre Geschichte, eigentlich zu lustig und sweet, um wahr zu sein. Auch das ein perfektes Weihnachtsgeschenk; für Verwandte, die gern Romantisches mögen. Ich verschenke es besonders gern an Freund*innen, die von allein niemals queere Liebesgeschichten lesen würden. Bisherige Erfahrung: Diese hier hat alle Herzen im Sturm genommen.
Soon to come:
Patricia Eckermann und Aşkın-Hayat Doğan (Hrsg.): Urban Fantasy – Going Intersectional
In der Fantasy gibt es zu wenig Raum für intersektional diskriminierte Figuren, fanden die beiden Herausgebenden. Intersektionalität bedeutet, dass Diskriminierung mehr ist als die Summe ihrer Teile: Eine Schwarze Frau zum Beispiel ist auf andere Weise marginalisiert als eine weiße Frau oder ein Schwarzer Mann. Patricia Eckermann als Schwarze Deutsche und Aşkın-Hayat Doğan als schwuler Mann of color mit türkischem Migrationshintergrund kennen das nur zu gut und haben Anfang 2020 dazu aufgerufen, Kurzgeschichten aus dem Genre der Urban Fantasy einzureichen, in denen Intersektionalität eine Rolle spielt. Dem Ruf gefolgt sind sowohl bekanntere als auch unbekanntere Namen und im Januar ist eine vielseitige, spannende Sammlung zu erwarten, die jetzt schon vorbestellt werden kann.
Nora Bendzko: Die Götter müssen sterben
Nora Bendzko hat sich mit dunklen Fantasy-Erzählungen und ihren Märchen-Horror-Adaptionen in der Indie-Szene einen Namen gemacht, war bereits mehrmals für den renommierten Seraph nominiert und veröffentlicht ihren neusten Roman nun bei Droemer Knaur. Auch dieser Roman, der von Lektorin und Testleser*innen auf Social Media schon hoch gelobt wird, wurde pandemiebedingt verschoben und erscheint im zweiten Quartal 2021. Die Autorin, selbst of color, ist eine der wichtigsten Stimmen für Progressivität und Diversität in der deutschen Phantastik, und ich bin sehr auf ihr Amazonen-Epos gespannt!
International:
N.K. Jemisin: The City We Became
Jemisin hat mit ihrer Broken Earth-Trilogie (auf Deutsch als „Zerrissene Erde“ und Folgebände bei Droemer Knaur) eine ganze Menge Rekorde bei der Verleihung des renommierten Hugo-Awards gebrochen: Sie ist nach Jahrzehnten der jährlichen Verleihungen die erste Schwarze Person und die erste Frau of Color, die einen Hugo in der Roman-Kategorie erhielt. Und sie ist die erste Person überhaupt, deren drei Bände drei Jahre in Folge den Roman-Hugo erhielten. Dementsprechend gespannt wurde ihr nächstes Buch, The City We Became (bislang nur auf Englisch erhältlich), erwartet: Urban Fantasy mit kosmischem Horror im New York unserer Zeit.
Wenn Städte besonders lebendig werden, beginnen sie zu erwachen. Ein Mensch in dieser erwachenden Stadt wird gleichzeitig zum Avatar und zum Geburtshelfer. In den Amerikas ist erst eine Stadt vollends erwacht: São Paulo. New York soll die nächste sein, doch wie schon bei den Totgeburten New Orleans und Port-au-Prince wartet Gegenwehr aus einer anderen Dimension. Zudem erwacht nicht ein Avatar New Yorks, sondern das Erwachen des Haupt-Avatars wird von fünf Stadtteil-Avataren begleitet, die sich finden, der Bedrohung erwehren und New York vor interdimensionaler Gentrifizierung retten müssen.
Dabei fängt Jemisin so viel ein, was New York ausmacht, und es ist selbstverständlich, dass das Avatar-Squad aus alten, jungen, eingewanderten, zugezogenen, obdachlosen, Schwarzen, native und queeren waschechten New-Yorker*innen besteht.
Tamsyn Muir: Ich bin Gideon
Tamsyn Muir ist das neue Wunderkind der englischsprachigen Phantastik. Die Neuseeländerin hat mit ihrem Erstling, der wie eine wilde Mischung aus Warhammer 40K, Dune und Harry Potter daherkommt, alle Space-Opera- und Nekromantie-begeisterten Herzen im Sturm erobert (hey, wer steht nicht auf Space Opera und Nekromantie??). Der Folgeband Harrow the Ninth ist auf Englisch bereits erschienen und nach ihrer Trilogie hat Muir bereits sechs Folgeverträge ergattert.
Gideon, Kavalierin und Bodyguard ihrer verhasst-geliebten Nekromantin Harrowhark vom Neunten Haus, wird mit den Kavalier*innen und Nekromant*innen der anderen Häuser zusammen in einem uralten Gemäuer eingeschlossen und muss dort wie in einem Escaperoom voller Untoter uralten Geheimnissen auf die Schliche kommen, die sie eigentlich am liebsten gar nicht wüsste. Dabei beweist Muir ganz nebenbei, dass es in der englischsprachigen Phantastik gar keine Frage mehr ist, ob queere Protagonist*innen wohl für hetero Leser*innen zugänglich sind. Natürlich ist Gideon, die muskulöse Butch-Lesbe mit einem Faible für möglichst klobige Schwerter und möglichst viele Liegestütze, eine Protagonistin für alle!
Arkady Martine: Im Herzen des Imperiums
Auf der diesjährigen Hugo-Verleihung musste sich Ich bin Gideon gegen Im Herzen des Imperiums geschlagen geben. Gemeinsam haben sie beide eine queere Protagonistin und das Space-Opera-Genre. Im Herzen des Imperiums zeichnet ein galaktisches Reich, das von der Liebe der Autorin zu Sprachen und dem, was unterschiedliche Sprachen ausdrücken können, zeugt. Von einem autonomen Randgebiet wird Mahit als neue Botschafterin in die Hauptstadt des Teixcalaanlischen Imperiums entsandt. In ihren Geist implantiert sind die veralteten Erinnerungen des mutmaßlich ermordeten Botschafters – dieses mit ihr verschmolzene Abbild zerbricht jedoch kurz nach ihrer Ankunft am Anblick seines eigenen toten Körpers und lässt sie auf sich allein gestellt mitten in einer gewaltigen Intrige zurück.
Teixcalaan fasziniert. Die sprachlichen Details, die Form des Zusammenlebens und Arbeitens – all das ist vertraut, teils auch aus anderen Science-Fiction-Romanen, und doch so neu, dass nicht nur Mahit, sondern auch die Leser*in immer tiefer in den Sog des Imperiums gerät.
Becky Chambers: To Be Taught If Fortunate
Becky Chambers‘ Wayfarer-Trilogie ist auf Deutsch bei Fischer TOR erschienen, die Novelle To Be Taught If Fortunate ist bislang nicht übersetzt – was sicherlich auch an dem in Deutschland eher unbeliebten Kurzformat liegt. Die Novelle erzählt von der Expedition einer vierköpfigen Crew zu vier verschiedenen Planeten, die auf Lebensformen untersucht werden sollen. Jeder Planet stürzt sie in neue Höhen und Tiefen, in Begeisterungsstürme und tiefe Traurigkeit, in Krisen und Höhenflüge. Die Novelle ist dabei so formuliert, als würde man selbst den Bericht einer der Astronaut*innen erhalten – und müsse am Ende eine schicksalhafte Entscheidung fällen, die der Leser*in überlassen wird. Absolute Gänsehaut und lupenreiner Hopepunk.
Hao Jingfang, Qiufan Chen, Wang Jinkang u.a.: Quantenträume
Die zweite Kurzgeschichtenanthologie chinesischer Science-Fiction-Autor*innen im Heyne Verlag fokussiert sich auf Erzählungen rund ums Thema Künstliche Intelligenz und zeigt dabei eine enorme Bandbreite. Während es auf Deutsch bereits einen Roman und eine Novelle der unter anderem als Städteplanerin tätigen Hao Jingfang gibt, sind die meisten anderen auf Deutsch bislang unveröffentlicht, auch wenn sie die chinesische SF-Szene teils schon seit Jahrzehnten mitprägen. Für die meisten von uns deutschsprachigen Leser*innen sind Anthologien und seltene Romanübersetzungen die einzige Möglichkeit, in die chinesische Szene hineinzuschnuppern.
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