Die Gewohnheiten des Jack Reacher
»The Affair« von Lee Child
März 1997. In sechs Monaten wird Jack Reacher als heimatloser Ex-MP in »Killing Floor / Größenwahn« die weltweite Erfolgsserie des britischen Autoren Lee Child begründen. Im Frühjahr 1997 aber ist der Militärpolizist im Rang eines Majors noch im Dienst, aktuell stationiert in der Criminal Investigation Devision der US-Army. Mit dem sechzehnten Band macht Lee Child einen großen Schritt in die Vergangenheit und erzählt die Geschehnisse, die zum Ausscheiden seines Helden aus der Army führen. Für Fans der Buchserie ist dieses Prequel sicherlich ein Leckerbissen.
Besuche in Reachers Vergangenheit gab es bereits: »The Enemy / Die Abschussliste« spielte im Jahr 1990, mit der kürzlich erschienenen Kurzgeschichte »Second Son« ging es gar in Reachers Kindheit. Oftmals hat Lee Child das Bedürfnis seines Helden nach besitzloser Heimatlosigkeit als eine von Geburt an trainierte Gewohnheit beschrieben. Und den Grund für sein Ausscheiden aus dem Dienst angedeutet als Vorwegnahme der Möglichkeit, wegrationalisiert zu werden. Mit »The Affair« verrät der Autor nun, wie es wirklich war.
Drei Tote und drei Cops
Wie bei allen anderen Bänden verhält es sich auch bei dem aktuellen so, dass es keinerlei Vorkenntnisse braucht, um die Geschichte zu verstehen. Und die geht so: In einer kleinen Stadt in Mississippi wurden drei Frauen ermordet. Drei Zivilistinnen, weshalb die Ermittlungen in den Händen der lokalen Polizei liegen. Nur befindet sich in der Nähe der Stadt ein Militärstützpunkt, und die Todesursache sieht bei allen dreien nach soldatischer Qualitätsarbeit aus. Weshalb ein MP-Major Stellung auf dem Stützpunkt bezieht und Jack Reacher die Order erhält, vor Ort undercover zu ermitteln.
Der Ort ist – wie so oft bei Lee Child – ein verschlafenes Städtchen. Carter Crossing heißt es, liegt an einer Eisenbahnlinie und in der Hand eines weiblichen Sheriffs. Elisabeth Deveraux war selbst einst Militärpolizistin, im Gegensatz zu Reacher bei den US Marines. Schnell deckt sie die Undercover-Operation auf. Seine Socken hätten ihn verraten, erklärt sie. Und dass sie ihn längst erwartet hätte. Ein Cop auf dem Stützpunkt, einer vor Ort, das hätten sie früher bei den Marines auch so gemacht.
Wenn ein Zug den Höhepunkt markiert
Reacher ist begeistert. Nicht nur, weil er kluge Frauen in Uniform liebt. Besonders liebt er gutaussehende kluge Frauen in Uniform, und Elisabeth Deveraux sieht extrem gut aus. Kein Wunder also, dass Reacher nach einer gewissen Durststrecke in den Bänden 14 und 15 nun einmal mehr eine Affäre haben darf. Und diese macht durchaus Freude, spielt nämlich bei ihren Höhepunkten der pünktlich des Nachts durchreisende Zug eine nicht unwesentliche Rolle.
Wie beifällig ermitteln die drei Cops die Umstände und Motive der drei Morde. Zu denen gesellt sich noch eine ganze Reihe weiterer Toter, und wie immer ist Reacher aktiv daran beteiligt. „Somebody once said the Reacher series is a detective series where the detective commits more homicides than he solves,“ erzählte Lee Child in einem Interview Anfang 2011. »The Affair« ist ein guter Beleg für diese Betrachtungsweise.
Angesiedelt in durchaus interessantem historischen Kontext der späten Neunziger Jahre haben wir es hier also mit einem typischen Reacher zu tun. Allerdings bleibt die Crime-Story vergleichsweise durchschaubar, das alternative Auflösungsangebot stellt keine wirkliche Option dar. Und das Aufeinandertreffen mit tumben Rowdies, die es darauf anlegen, von Reacher verprügelt zu werden, bleibt unverbunden mit dem Rest der Story. An diesem alles in allem eher durchschnittlichen Eindruck kann auch die gelungene Start-Szene im Pentagon nichts ändern.
Got a trash can?
Viel amüsanter sind da die kleinen Geschichten rund um die Entwicklung der Gewohnheiten. Und die sind wahrscheinlich eher etwas für Fans. So muss Reacher sich für seinen Auftrag neu einkleiden, und weil der Shop auf seinem Stützpunktes nur wenig Auswahl in XXL bereithält, entscheidet er sich für ein rosafarbenes Hemd. Er ist eben noch ein wenig ungeübt. In den folgenden Jahren wird er Routine entwickeln. Den Hinweis seines Vorgesetzten, mit diesem Hemd für eine Schwuchtel gehalten und deswegen verprügelt zu werden, ignoriert er. Reacher weiß: Rosa hin oder her, bislang hat noch immer er seine Gegner krankenhausreif geprügelt.
Für die schöne Polizistin vor Ort entscheidet er sich dann aber doch um. Ein neues Hemd muss her. Also besucht er einen Herrenausstatter in Carter Crossing und lässt sich beraten: Auf keinen Fall wolle er so aussehen wie einer, der es darauf anlegt. Der Händler versichert ihm, sich diesbezüglich keine Sorgen machen zu müssen. Als sein Kunde einen Tag später mit Blutflecken auf besagten Hemd wiederkommt, die gleiche Marke noch einmal kaufen und das befleckte Exemplar direkt in den Müll entsorgen will, zerreißt es dem Kleidungsfachmann das Herz. Das lässt sich doch herauswaschen! Für den Transport von Bekleidung gibt es Koffer!
„Easier just to replace it.“ „But that would be very expensive.“ „Compared to what? How much do suitcases cost?“ „But you would keep a suitcase forever. You would use it over and over again for many years.“ „I think I’ll just take the new shirt. No need to wrap it. […] Got a trash can?“
So hält es Jack Reacher nun seit über vierzehn Jahren. Er besitzt kein Haus, keine Koffer, wechselt seine Kleidung alle paar Tage und entsorgt die alten Stücke direkt im Geschäft. Er trifft wunderschöne Frauen, hilft den Schwachen, bekämpft die Schurken und begeht dabei selbst mehr Morde als er auflöst. Zum Schluss zieht er von dannen. Wenn ihn einer fragt, warum er es so hält, kennt er nur eine Antwort: »It’s a habit.« Fragt mich einer, warum ich jedes Jahr wieder den neuesten Reacher verschlinge, könnte ich dasselbe antworten.