Die wandernde Erde von Cixin Liu

Ich mag keine Kurzgeschichten. Hatte ich das schon mal erwähnt? Wenn ein Buch weniger als 500 Seiten umfasst, ist es die Bezeichnung für mich nicht wert. Nun sieht Die wandernde Erde von Cixin Liu mit ihren über 600 Seiten aus wie ein echtes Buch und fühlt sich auch so an. Blöd nur, wenn man dann zu Hause feststellt, dass es sich um einen Kurzgeschichtenband handelt. Allerdings heißt der Autor Cixin Liu. Oder genauer Liu Cixin, so viel Zeit soll sein. Jedenfalls war er der Grund, weshalb ich gar nicht lange gefackelt und direkt zugegriffen hatte. Auch ist es der Grund, weshalb ich die Investition nicht bereue. Manche Kurzgeschichten gehen eben doch.
Elf meisterhafte und preisgekrönte Erzählungen…
…vom Autor des Sensationsromans Die drei Sonnen. So steht es hinten auf dem Buch geschrieben. Das nur hatte ich großzügig überlesen. Und mich dann gewundert, warum Die wandernde Erde bereits nach 70 Seiten endet. Beziehungsweise warum es im zweiten Kapitel (wie ich dachte) namens Gipfelstürmer so unpassend weitergeht. Wenn ich schon mal auf dem Schlauch stehe, dann aber auch so richtig.
Tatsächlich gibt es eine Art Fortsetzung zu Die wandernde Erde. Die nennt sich Das Mikrozeitalter und folgt fünf Erzählungen später. Überhaupt gibt es Fortsetzungen reichlich. So auch für Das Ende der Kreidezeit und heißt dann Weltenzerstörer. Durch die Erde zum Mond setzt Mit ihren Augen fort und Die Versorgung der Menschheit ergänzt Um Götter muss man sich kümmern. Wer jetzt mitgezählt hat, dem fällt auf, dass noch drei Geschichten zu den elf fehlen, und die stehen tatsächlich mal nicht im direkten Zusammenhang: Gipfelstürmer, Die Sonne Chinas und Fluch 5.0.
Die wandernde Erde und Das Mikrozeitalter
Die wandernde Erde erzählt von der Bedrohung unserer sich zum Roten Riesen entwickelnden Sonne. Das heißt, dass sie erlischt, vorher aber nochmal heftig knallen wird. Für die Erde gibt es so mittel- bis langfristig kein Überleben. Es sei denn, der Menschheit gelingt es, mitsamt ihrer Erde die Umlaufbahn um die Sonne zu verlassen und zum Stern Proxima Centauri zu reisen.
Möglich machen sollen dies unzählige Raketentriebwerke, die in den unterschiedlichen Phasen des gigantischen Unternehmens unterschiedliche Funktion haben. So stoppen sie im ersten Schritt die Erdrotation und beschleunigen die Erde im zweiten Schritt bis zur Fluchtgeschwindigkeit. Nach der interstellaren Reise sollen sie die Erde dann auch wieder abbremsen und schließlich zu einem Satelliten des neuen Heimatsterns machen.
Das Mikrozeitalter erzählt umgekehrt von der Rückkehr des letzten Menschen auf die Erde. Nach der vorhergesagten Katastrophe eines Energieblitzes der Sonne mitsamt fünfprozentigem Verlust ihrer Masse. Von allen Mitstreitern, die das Universum nach einem Alternativplaneten absuchen sollten, kommt nun einer zurück – und ist zu spät. Merkur ist verdampft, der Mars verkohlt. Und die Erde? Die wurde mal gerade für hundert Stunden auf viertausend Grad Celsius erhitzt und ein wenig aus ihrer Umlaufbahn geschoben. Weshalb die Durchschnittstemperatur auf minus hundertzehn Grad Celsius abgesunken ist. Immerhin ein wenig Wasser und etwas Atmosphäre gibt es noch. Und sehr kleines Leben, das den letzten Menschen maßgeblich beeindruckt.
Das Ende der Kreidezeit und Weltenzerstörer
Auch in Das Ende der Kreidezeit geht es um die ganz Kleinen: Hier leben Ameisen und Dinosaurier lange Zeit in nahezu perfekter Koexistenz. Was die einen wegen ihrer Übergröße nicht bewerkstelligen können, übernehmen die kleinen Kollegen. Die wiederum profitieren vom Ideenreichtum der Dinos. Und so haben sie es gemeinsam in ein Informationszeitalter geschafft, das dem unseren nicht unähnlich ist. Im Fall der Dinos nur eben ein bisschen größer. Dino-Autos sind so groß wie Zweifamilienhäuser, Dino-Flugzeuge haben Superfrachter-Ausmaße. Und doch haben die meisten Dinge derart feine Komponenten, sodass die Grobmotoriker die Ameisen brauchen, sie zu erstellen oder zu reparieren.
Doch dann kommt es zum Krieg. Und der wiederum hat etwas mit den Unstimmigkeiten zwischen den Dinos Gondwanas auf der einen und den Laurasiens auf der anderen Seite zu tun. Beide haben derart aufgerüstet, dass sie die Erde gleich mehrfach zerstören könnten. Das wollen die Ameisen nicht mitmachen und sorgen ihrerseits nun für das Ende der Kreidezeit.
Weltenzerstörer erzählt dann von der Rückkehr der Dinos auf die Erde. Einige von ihnen hatten rechtzeitig unser Sonnensystem verlassen und mittels Resorption fremder Planeten ihr Überleben gesichert. Nun soll es dem alten Heimatplaneten an den Kragen gehen. So zumindest erklärt es ihre Vorhut namens Beißer: Das Imperium der Weltenzerstörer wird die Erde verschlingen und die Menschen als Kleinvieh halten, bis ihr Fleisch im zarten Alter von sechzig schön zäh ist. Hier geht es also mal wieder um nichts Geringeres als die Vernichtung unseres Planeten mit all seinen Bewohnern.
Fluch 5.0
Daran hat Cixin Liu seinen Spaß: in seinen Geschichten mindestens mal die Menschheit zu vernichten. Darum geht es auch in Fluch 5.0, einer Geschichte, in der er den Job als Protagonist gleich mal selbst übernimmt. Dabei hatte alles noch relativ harmlos angefangen. Fluch 1.0, in die Welt gesetzt von einer verschmähten Hackerin, galt einem Typen namens Sa Bi (ein sprechender Name, der so ähnlich klingt wie blöder Arsch). Als Computervirus sorgte der Fluch ursprünglich nur dafür, dass auf jedem Rechner die Textzeile Sa Bi verrecke!!!!!!!!! erschien.
Über die weiteren Entwicklungsstufen landet dieser Computervirus schließlich in den Händen von Cixin Liu und seinem Kollegen Pan Dajiao (gemeint ist hier wahrscheinlich Pan Hai-tian, ein Autor zynischer Soft-Science-Fiction). Liu beschreibt beide als arme Schlucker und ziemliche Loser und nennt sie den Großen Liu und den Großen Pan. Gerade recht kommt es beiden, dass der Fluch inzwischen das Internet der Dinge nutzt. Damit Hardware direkt ansteuern und Aufforderungen verschicken kann wie: Triffst du Sa Bi zu Hause an, vergifte ihn mit Gas!
In seiner vierten Generation hat der Fluch dann nicht mehr nur noch Sa Bi auf dem Kieker. Schuld daran ist jedenfalls kein Geringerer als der sturzbetrunkene, die Welt hassende Große Liu.
Cixin Liu – Weltenzerstörer mit viel Biss
Wenn Die wandernde Erde eins zeigt, dann Cixin Lius unbändige Freude daran, Welten zu zerstören. Oder wenigstens an den Rand der Zerstörung zu bringen. Damit aufzuzeigen, wie nah wir den Möglichkeiten, uns selbst unseren Lebensgrundlagen zu berauben, schon sind. Immer interessiert er sich für Zivilisationen und die ganz großen Fragen. Individuelle Probleme betrachtet er – wenn überhaupt – nur am Rande. Und das alles erzählt er mit so viel Liebe zum Detail, so viel Spaß am Aufzeigen und Erklären technologischer Möglichkeiten und physikalischer Zusammenhänge und mit so viel Zynismus, dass dabei die Funken nur so sprühen.
Meine Lieblingsgeschichten sind auf jeden Fall die der Dinos und Ameisen. Aber auch mit seinem relativ kurzen Fluch konnte er mich verzücken. Alles in allem kann ich Menschen, die Angst vor dicken Büchern haben, die aber die ganz große Fiktion nicht scheuen, auf jeden Fall zu diesem Kurzgeschichtenband raten.
Oder sie schauen die Verfilmung von Die wandernde Erde. Immerhin hat sich Netflix die Rechte an dem Film, der im Februar 2019 in China seine Premiere hatte, gesichert.