Disneynature: Schimpansen
Qualitätsprodukt oder Fließbandware?
Für Alastair Fothergill läuft es wie am Schnürchen: Nach seinem großen Erfolg mit »Unsere Erde« gilt er als Steven Spielberg des Naturfilms und darf seine Zelte nun dauerhaft an den großen Naturschauplätzen der Erde aufschlagen. Über sein »Reich der Raubkatzen« hatten wir hier bereits berichtet. Während wir uns nun die »Schimpansen« anschauen, arbeitet er bereits an seinen »Bären« aus Alaska und einer Dschungelgeschichte in Sri Lanka. Das wirft die Frage auf, ob es sich bei dem einzelnen Werk noch um ein Qualitätsprodukt handeln kann oder wir es mit reiner Fließbandware zu tun haben.
Kindchenschema zieht immer
Schimpansenbaby Oscar ist ein wahres Prachtkind: Mit großen Augen in seinem kleinen Gesichtchen, gerahmt von riesigen Ohren, schaut er neugierig in die Welt hinaus. Dabei klammert er sich am Fell seiner Mama fest, denn an keinem anderen Ort der Welt lässt sich Neugier so mutig ausleben wie auf Muttis Schoß. Es braucht seine Zeit, bis Oscar seinen ersten Streifzug in die nähere Umgebung startet. Und noch länger, bis er mit den anderen Affenkindern zu spielen beginnt oder sich wissbegierig ersten Lehreinheiten wie dem Nüsseknacken stellt. Alles natürlich immer unter den Blicken der sorgenden Mutter. Der Begriff Affenliebe kommt schließlich nicht von ungefähr. Umso dramatischer die Vorstellung, das Kind könnte von seiner Mama getrennt werden. Aber genau das passiert dem kleinen Oscar. Bei einer Auseinandersetzung mit einer rivalisierenden Affengruppe bleibt seine schwerverletzte Mutter zurück und stirbt in der Folge. Und damit beginnt der eigentlich interessante Teil der Geschichte: Was passiert nun mit dem Waisenkind? Wie begegnet ihm die ansonsten so sozial wirkende Gruppe? Hilfsbereit?
An Trauer, so heißt es, kann ein Schimpanse sterben. Doch Oscar ist ein kleiner Kämpfer. Fast trotzig bietet er sich den Weibchen der Reihe nach als Adoptivkind an. Und scheint sich nie entmutigen zu lassen, wenn er einmal mehr weggestoßen wird. Für viele Biologen ist diese Ablehnung kein Wunder. Altruismus, so sagen sie, sei eine rein menschliche Verhaltensweise. Tieren biete uneigennützige Hilfsbereitschaft keinen Überlebensvorteil. Überhaupt ginge es immer nur um die eigenen Gene. Die Forscher belegen ihre These mit Beobachtungen in Zoos: Nie habe sich eine Pflegemutter gefunden. Vielmehr hätten die Schimpansenweibchen gleichgültig auf das Schicksal der Waisen reagiert. Oscar aber lebt nicht im Schlaraffenland hinter Sicherheitsglas. Oscar, dessen Ausbildung in Sachen Werkzeugnutzung und Jagdstrategien noch lange nicht abgeschlossen ist, droht zu verhungern, wenn er keinen Versorger findet. Also wendet er sich auch an die Affenmänner und findet schließlich im Alphamännchen Freddy seinen Adoptivvater.
Einzigartig – ein dehnbarer Begriff
Der Film stellt diesen Moment als einzigartig, nie zuvor geschehen dar. Ergreifend ist er, ans Herz geht er. Einzigartig ist er aber nicht. Das Team um Alastair Fothergill wurde wissenschaftlich beraten von Prof. Christophe Boesch vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Der Verhaltensforscher ist seit Jahren im Gebiet des Taï-Nationalparks an der Elfenbeinküste unterwegs und hat bislang achtzehn Adoptionen beobachtet, bei denen rund die Hälfte auf das Konto von Männchen ging. Wissenschaftlich ist diese Beobachtung hochbedeutsam, sie widerlegt die bisherigen Glaubenssätze. Es wäre also schön gewesen, wenn dies auch Eingang in den Film gefunden hätte.
Aber hier liegt das Problem: Einmal mehr legt Disneynature keine Dokumentation vor, in deren Erzählabsicht auch die Vermittlung von Wissen liegt, sondern eine überdramatisierte Doku-Soap. Statt die Wissbegierde der Zuschauer zu befriedigen, vermenschlicht der Off-Erzähler die Verhaltensweisen der Tiere und vernachlässigt dabei wesentliche Informationen. In den Pressunterlagen heißt es: »Wir konnten die Tiere so zeigen, wie man sie noch nie zuvor gesehen hat.« Tatsächlich zeigt der Film in Hinblick auf die Affen nichts, was nicht zuvor schon mehrfach in (TV)-Dokumentationen zu sehen war. Die kulturelle Errungenschaft der Werkzeugnutzung ist genauso hinlänglich bekannt wie die Tatsache, dass Schimpansen die kleineren Stummelaffen verspeisen. Dem einzig neuen Aspekt – dem Altruismus des Ranghöchsten – hätte da mehr Raum und fachliche Genauigkeit also mehr als gut getan.
Darf eine Dokumentation lehrreich sein?
An anderer Stelle diskutierte ich jüngst, ob ein Dokumentarfilm Züge eines Lehrfilms tragen dürfe. Auf gar keinen Fall, lautet die klare Antwort der strengen Filmer-Schule. Auf jeden Fall, behaupte ich. Warum erfreuen sich Formate wie »Quarks & Co«, »Wissen macht AH!« oder selbst das von mir weniger favorisierte »Galileo« ihrer Zuschauerquoten? Zugegeben: Der Film entstand nicht exklusiv für den deutschen Markt. Aber wir stellen bekanntermaßen auch nicht die Bildungselite dar. Dennoch hat unsere Neugier auch einmal auf den Schößen unserer Mamas begonnen, und die meisten konnten sich trotz der Schulerfahrung zumindest ein gewisses Maß an Wissbegierde erhalten. Wenn wir also schon für eine Dokumentation ins Kino gehen, wäre es doch schön, wenn wir hinterher klüger wären als zuvor.
»Die ganze Woche war schon so blöd, ich habe mich auf den Film richtig gefreut – und dann das!« sagte ein Journalistenkollege nach der Vorführung. Schnell waren wir uns einig, dass in den Wochen nach der Premiere kaum einer zu seinen Freunden sagen wird: »Hast du schon Schimpansen gesehen?« Auch mussten wir beide feststellen, dass wir nicht fähig sein werden, über die schönste Szene des Films zu schreiben. Die schönste Szene hat nämlich gar nichts mit den Affen zu tun. Der Film ist strukturiert durch Naturaufnahmen, die Pflanzen oder Pilze in extremer Zeitlupe oder extremen Zeitraffer zeigen. Leider bleiben diese Zwischenspiele völlig unkommentiert. Wir wissen also gar nicht, welche Art von Pflanze wir da gesehen haben, die durch Regentropfen aufplatzt und einen zauberhaften Nebel versprüht. Das ist sehr schade, ich hätte euch gerne mehr davon erzählt. Aber für solche Nebensächlichkeiten war auf dem Fließband wohl kein Platz mehr.