Gott der Finsternis
Erebos – ein Jugendthriller von Ursula Poznanski
Die klassisch Gebildeten unter uns wissen: In der griechischen Mythologie ist Erebos der Gott der Finsternis, ein Herrscher der Unterwelt. Wer es nicht weiß, liest es nach. Uns ist das gestattet. Teilnehmern des gleichnamigen Spiels im gleichnamigen Roman von Ursula Poznanski hingegen könnte ein derartiger Ausdruck von Neugier das virtuelle Leben kosten. Da kennt der Gott der Finsternis kein Pardon.
Erebos ist ein Spiel
Nick Dunmore ist fuchsteufelswild: An seiner Schule kursiert eine DVD, nur weiß er nicht, was es mit diesem Silberling auf sich hat. Handelt es sich um einen Film? Musik? Ein Spiel? Und warum spricht keiner seiner Mitschüler darüber? Tatsächlich verschwinden die Eingeweihten tagelang von der Bildfläche, ohne ein Sterbenswort über »die Sache« zu verlieren. Für den 16-jährigen, der sich als anerkannter Teil seiner Community versteht, ein untragbarer Zustand. Bis er eines Tages endlich von einer Mitschülerin beiseite genommen wird. Ob er einen eigenen Computer habe und ob seine Eltern ihm weitgehend Freiraum in seiner Freizeitgestaltung lassen. Diese Fragen muss er positiv beantworten, bevor er eine Kopie des begehrten Datenträgers zugesteckt bekommt. Und klar: Er darf mit niemandem über den Inhalt dieser DVD sprechen.
Wenn Nick die Bedeutung dieser Fragen noch nicht verstanden haben sollte, verdeutlicht Erebos sie ihm gleich nach der Installation noch einmal: Wer Erebos spielen will, muss die Regeln beachten. Wer sie nicht beachtet, ist sofort draußen. In Erebos gibt es keine zweite Chance: Ein Leben steht jedem Spieler zur Verfügung. Ist das verwirkt, war es das für ihn mit Erebos. »Wie muss ich weitergehen?« fragt Nick gleich zu Beginn die Spielfigur, die sich ihm als Toter vorstellt. »Willst du denn weitergehen?« fragt der Tote zurück. »Ich warne dich. Tu es besser nicht.« Eine Warnung, die verheißungsvoller kaum sein könnte. Natürlich will Nick.
Erebos spricht mit dir
Schon zumal er es hier mit einem Spiel zu tun hat, wie nicht nur er es noch nie erlebt hat. Man muss kein passionierter Zocker sein, um zu wissen, dass Kommunikation mit virtuellen Spielfiguren handelsüblich sehr begrenzt ist. Auf beliebige Fragen pflegen sie keine sinnvollen Antworten zu geben. Doch genau das kann Erebos. Und Erebos kann auch noch mehr: Das Spiel, in der Folge repräsentiert durch den Boten mit den gelben Augen oder einen seiner Gnom-Gehilfen, scheint zu wissen, was seine Spieler denken, was sie sich wünschen und welchen Ängsten sie unterliegen. Diese Allmacht setzt es auch weit über seine Grenzen hinaus ein: Um sich im Spiel weiterentwickeln zu können, erhalten die Spieler Aufträge, die sich auf ihre Realität beziehen. Unzusammenhängendes Zeug, wie es anfänglich den Anschein hat. Was für einen Sinn kann es schon haben, eine Schachtel von A nach B zu tragen? Oder eine ungeliebte Mitschülerin einen Tag lang zu umgarnen? Nur dass Erebos weiß, ob die Spieler ihre Aufträge erfüllt haben.
Nick erliegt bereits nach seinem ersten langen Abend als Dunkelelfe Sarius den Reizen dieses hochentwickelten Spiels. Auch er wird nicht über das Erlebte sprechen, auch er wird andere beiseite nehmen und sich immer wieder fragen, gegen welche Mitschüler er im Spiel bereits gekämpft hat. Dabei erzählt die österreichische Autorin Ursula Poznanski ihre Geschichte doppelperspektivisch: In der erzählten Realität bleibt sie immer bei ihrer Hauptfigur, betritt keine Szene ohne ihn. Wann immer aber Nick seinen Sarius in die Spielwelt schickt, wechselt sie den Erzähltempus vom üblichen Präteritum, das Nick vorbehalten ist, zum Präsens. Auch wenn aufs Engste miteinander verbunden, werden auf diese Weise aus Nick und Sarius zwei Figuren. Und auch sich selbst gönnt die Autorin noch eine weitere Perspektive: Zwischenzeitlich meldet sie sich als Ich-Erzählerin zu Wort und gibt so die philosophischen Betrachtungen des Spiels zum Besten. Durch diesen erzähltechnischen Kniff werden die beschriebenen Geschehnisse in der virtuellen Welt im wahrsten Sinne des Wortes noch gegenwärtiger. Selbst Nicht-Gamer wie die Autorin dieses Artikels, deren Spielkompetenz ähnlich der der Romanfigur Emily kurz hinter Solitär endet, erhalten damit eine unwiderstehliche Einladung, sich in der Parallelwelt zu verlieren. Und drohen dabei, die wichtigste Frage aus den Augen zu verlieren: Wer verfügt über eine derart bahnbrechende Technologie und stellt sie Schülern kostenlos zur Verfügung? Was ist das Ziel dieses Handelns?
Erebos prüft und belohnt dich
… und wenn du nicht spurst, bestraft es dich. Denn Erebos hat ein Ziel, das es mit aller Konsequenz verfolgt. Für dieses Ziel braucht das Spiel Erfüllungsgehilfen, die bereit sind, über Leichen zu gehen. Und genau ist auch der Punkt, um den es der Autorin geht. Das Spiel ist nur Mittel zum Zweck. Zu keinem Zeitpunkt hebt die gebürtige Wienerin den Zeigefinger und sagt: »So liebe Kinder, und die Moral von der Geschicht‘ – spielt in virtuellen Welten nicht!« Tatsächlich spiele sie selbst gerne, habe ein »Faible für Parallelwelten«, erzählt sie in einem Interview. »Ich würde sagen, es geht um Manipulation an sich, die im Grunde immer gleich funktioniert, nämlich mit Versprechen, Belohnungen, Drohungen und meistens auch Gruppendruck.«
So beschreibt Ursula Poznanski, wie weit es gehen kann, wenn die Mechanismen der Manipulation bei Menschen greifen, die zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl haben, Bedeutung zu tragen und Anerkennung zu erhalten. Sich dieser Verführung zu widersetzen, setzt Stärke voraus, im wahren Leben wie in der Fiktion. Im Buch muss sich Nick schließlich mit seiner eigenen Korrumpierbarkeit auseinandersetzen. Dass er dies nicht bis in die letzte Konsequenz tun muss, lässt sich entweder als Zugeständnis der Autorin gegenüber ihrer Hauptfigur verstehen oder stellt die in meinen Augen einzige Schwäche des Buches dar.
Wenn im Buch über das Spiel gesprochen wird, beziehen sich die Jugendlichen auf »die Sache« und bezeichnen diese als »wahnsinnig cool« und »unglaublich toll«. Sie sind sich sicher, dass der angefixte Novize es lieben wird. Mehr verraten dürfen sie nicht. Wenn ich nun über das Buch spreche… Mehr verraten will ich auch nicht, was soll ich also sagen: Ihr werdet es lieben!