Extinction von Kazuaki Takano
»Unter allen Lebewesen sind die Menschen die einzige Spezies, die Genozid an ihresgleichen begeht. Das ist die Definition des Menschen«, sagt Joseph Heisman, der einst einen Report über die Faktoren, die zur Ausrottung der Menschheit führen könnten, verfasst hatte. »Die Menschen begreifen nicht, dass das, was sie nach „Rassen“ unterscheiden, ein und derselben Spezies angehört. (…) Individuen aus anderen Gruppen werden als feindselig angesehen, als gehörten sie zu einer anderen Spezies. Das ist keine rationale Entscheidung, sondern eine biologische Eigenschaft.« Doch was passiert, wenn die Menschheit, die sich selbst an der Spitze der Evolution sieht, einen Menschen 2.0 vor die Nase gesetzt bekommt? Von dieser Frage handelt Extinction von Kazuaki Takano.
Der nächste Schritt der Evolution
Bereits zu den heißesten Zeiten des Kalten Krieges wusste Heisman zu berichten, dass der nächste Schritt der Evolution die Menschheit ausrotten könnte. Seiner Einschätzung nach würde sich diese Weiterentwicklung des Menschen vor allem durch die Fähigkeit auszeichnen, komplexe Systeme in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Allein damit wäre uns diese Homo-Art in etwa so überlegen, wie wir uns unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen und Gorillas, überlegen fühlen. Zoohaltung wäre also bestenfalls denkbar. Wahrscheinlicher jedoch erscheint die totale Vernichtung.
Was also soll die Menschheit tun, sollte eines Tages der erste Vertreter dieser neuen Art in Erscheinung treten? Oder sollte die Frage besser lauten: Was kann die Menschheit dann überhaupt noch tun?
Die Wiege der Menschheit
Über die Entwicklung des Homo sapiens und all seiner verwandten Arten, die er verdrängt hat, bestehen unterschiedliche Theorien. In einer Hinsicht sind sich die Wissenschaftler aber einig: Die Wiege der Menschheit stand in Afrika. Kein Wunder also, dass Extinction von Kazuaki Takano davon ausgeht, dass auch hier der nächste Schritt der Evolution stattfindet.
So wird Jonathan Yeager in den Kongo geschickt. Der einstige Special Forces Soldat arbeitet für ein privates Militärunternehmen, für das er im Irak den Personenschützer gibt. Eigentlich sollte er aktuell seinen Urlaub antreten. Doch statt zu seinem todkranken Sohn zu fliegen, geht es für ihn nun nach Afrika. Die Bezahlung erscheint einfach zu gut. In Afrika trifft er drei Kollegen, mit denen er einen äußerst schmutzigen Job erledigen soll. Ein Pygmäenstamm sei von einer besonders gefährlichen Ebola-Variante befallen, die die gesamte Menschheit vernichten könnte. Also sollen die Söldner den ganzen Stamm auslöschen – so auch den Anthropologen, der bei ihnen weilt. Und sollte ihnen ein Lebewesen begegnen, das sie noch nie gesehen haben, sei auch dieses zu eliminieren. Was soll das für ein Lebewesen sein, fragen sich die Soldaten ratlos. Die Antwort ist simpel: Die auffälligste Eigenschaft sei, dass es auf den ersten Blick als völlig unbekannte Art erkennbar ist.
Ein Pharmakologe in Tokio
Die Krankheit, an der Yeagers Sohn leidet, trägt den schönen Namen »pulmonale Alveolarepithelzellensklerose«. Sprich: Sie hat irgendwas mit den Lungenbläschen zu tun, führt zu Atemnot, ist nicht heilbar und lässt Kinder kaum älter als sechs Jahre werden. Doch dies soll sich nun ändern. Der japanische Virologe Seiji Koga hatte sich dieser Aufgabe angenommen. Nach seinem unerwarteten Tod soll nun sein Sohn Kento das passende Medikament entwickeln. Und das bitte schön innerhalb eines Monats. Der Promotionsstudent der Pharmakologie weiß, dass das völlig unmöglich ist. Selbst ein großes Pharmaunternehmen bräuchte dafür, sofern überhaupt machbar, mehrere Jahre. Doch Seiji hat seinem Sohn nicht nur eine Menge Geld und ein privat eingerichtetes Versuchslabor hinterlassen, sondern vor allem auch eine Software, die eigens zu diesem Zweck entwickelt wurde. Mit Hilfe seines koreanischen Kollegens Yeong-hoon erkennt Kento, dass dank dieser genialen Entwicklung die Aufgabe vielleicht doch machbar sein könnte. Zusammen stellen sie sich der Herausforderung.
Der Strippenzieher in Washington
Arthur Rubens ist ein verdammt kluges Köpfchen. Ursprünglich galt sein Wissensdurst der Geschichte der Wissenschaften. Später jedoch wuchs in ihm das Interesse an der Psychopathologie machtbesessener Regierungsführer. Also suchte er sich einen Job in der Nähe des Weißen Hauses. Rubens arbeitet nun in dem Institut, das einst den Heisman-Report herausgebracht hat. In seiner Position als Analyst erhält er den Auftrag, die nötigen Operationen im Kongo zu planen. Dass dort etwas heranwächst, das der Menschheit gefährlich werden könnte, wissen die US-amerikanischen Geheimdienste dank einer abgefangenen E-Mail. In dieser berichtet der Anthropologe, der bei den Pygmäen lebt, von einem Dreijährigen, dessen intellektuelle Fähigkeiten übermenschlich seien. Primfaktorzerlegung sei für dieses Kind jedenfalls ein Klacks.
Damit steht Rubens vor einem echten Dilemma. Auf der einen Seite will er nicht zur Auslöschung (Extinction) einer ganzen Art, geschweige denn zur Liquidierung des Pygmäenstammes beitragen. Andererseits erkennt er aber auch die Gefahr, die von diesem Dreijährigen ausgeht. Und obwohl er ja nun selbst zu den helleren Kerzen auf der Washingtoner Torte gehört, versteht auch er nur in kleinen Schritten, wie sich aus den einzelnen Details ein Gesamtbild zusammensetzt. Bald wird er verstehen, dass die einzige Chance, das Überleben der Menschheit zu sichern, die eigene Friedfertigkeit ist.
Komplexe Systeme in ihrer Gesamtheit verstehen
Es gibt eine Handvoll Dinge, in denen wir Menschen grottenschlecht sind. Vorhersagen gehören dazu. Vor allem ist es aber unsere Unfähigkeit, komplexe System in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Und genau damit spielt Extinction von Kazuaki Takano. Der japanische Schriftsteller und Drehbuchautor baut seine Story sorgfältig und teils sehr detailreich in drei Parallelhandlungen auf. Anfänglich scheinen die nur sehr bedingt miteinander verbunden zu sein. Im Laufe der Geschichte aber entwickelt Takano den Zusammenhang dieser drei Handlungsstränge, sodass die Komplexität langsam ersichtlich wird. Man könnte auch sagen: Da bereitet einer sein komplexes System so auf, dass es in seiner Gesamtheit schließlich dann doch begreifbar wird. Gerade dieser Aspekt hat mich sehr schnell und sehr intensiv in den Bann dieses Buches geschlagen.
Hard Science Fiction meets Action
Dabei ist dieser Science Fiction ein Vertreter der harten Fraktion: Es geht um Wissenschaft auf vielfältiger Ebene. Der Handlungsstrang in Tokio strotzt nur so vor Pharmakologie-Talk. Hier ist die Rede von Rezeptorliganden und Agonisten, einem mutierten Orphan-Rezeptor namens GPR 769 und der Entwicklung eines allosterischen Medikamentes. Das ist für Nicht-Biochemiker wahrlich nicht unanstrengend. Allerdings kann ich mir gut vorstellen, dass so mancher Pharmakologie-Student hier seinen Spaß haben kann. Schließlich haben auch genug Medizinstudierende für ihre Prüfungen anhand von Emergency Room gelernt. Und das stammte bekanntlich von Michael Crichton, der sich ebenso wissenschaftlichen Fragestellungen verschrieben hatte.
Kazuaki Takano bleibt aber nicht in der Biochemie stecken. Vielmehr verbindet er diverse Disziplinen wie Politik, Medizin, Biologie, Evolution und Psychologie zu einem Gesamtbild und stellt dabei sein Plädoyer für mehr Friedfertigkeit in den Vordergrund. Selbst wenn es im Kongo heiß hergeht, Yeager mit seinem Team in Kriegshandlungen hineingezogen wird und sein Mensch 2.0 in Sachen Gewaltanwendung auch kein Kind von Traurigkeit ist, bleibt am Ende die eine Message: Nur das Überwinden der eigenen grausamen Biologie sichert das Überleben aller.
Übermenschliche Fähigkeit der Vorhersage?
Kazuaki Takano hat es geschafft, mit seinem bereits 2011 veröffentlichten Buch, das 2015 als Zweitübersetzung der englischen Version Genocide of One auf dem deutschen Markt erschien, diverse reale Themen anzusprechen. Zum Teil sind die aber erst lange nach der Erstveröffentlichung so richtig real geworden. Nehmen wir die Ebola-Thematik, die im Buch tatsächlich nur eine Scheinrolle spielt. Zwar ist das Virus seit 1976 bekannt, die große Epidemie startete aber erst 2014. Oder die im Buch benannten Machenschaften der US-amerikanischen Geheimdienste. Von deren Bestreben, jegliche Kommunikation zu überwachen, wussten wir sicherlich schon vor 2011. Die Snowden-Enthüllungen 2013 lieferten dann aber erst die üblen Details dieser Datensammelwut.
Im Jahr 2017 lässt sich dieses Spiel locker weitertreiben. Sollte der Autor geahnt haben, dass sich aus den Verhältnissen im Nahen Osten eine Flüchtlingssituation entwickeln könnte, die so viele Europäer an den Rand (oder auch darüber hinaus) ihrer Angst vor dem Anderen bringen würde? Sein Herausstellen dieser unserer schlechtesten biologischen Eigenschaft wirkt seit 2015 aktueller als lang zuvor. Oder die Zeichnung seines US-amerikanischen Präsidenten, der zumindest in einzelnen Zügen den jetzig Amtierenden vorwegnimmt? Es ist schon ausgesprochen bemerkenswert, wie viel treffsichere Vorhersage Extinction von Kazuaki Takano bietet.
Mir jedenfalls stellt sich da schon fast die Frage, ob wir es bei Kazuaki Takano vielleicht mit einem Vertreter dieser neuen Art zu tun haben. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, kann ich nur sagen: Herzlich willkommen in meiner Welt, Herr Takano, leben Sie lang und in Frieden!