fremd von Ursula Poznanski und Arno Strobel
Wer hat hier nur den Verstand verloren?
Eigentlich mag ich Amnesie-Geschichten. Vor allem mag ich solche, bei denen das erzählte Krankheitsbild als dissoziative Amnesie durchgehen kann. Wenn eine Figur ihre Erinnerung an Aspekte ihres Lebens verliert, ist meine erste Reaktion Faszination. Der folgt dann aber auch direkt die Frage nach der Geschichte hinter der Geschichte. Denn Amnesien lassen sich nicht planen. Sie entstehen oder sie entstehen nicht, und das auch nur höchst selten. Die Story muss also einen Plan A haben, und dieser sollte überzeugen. Im Fall von Ursula Poznanskis und Arno Strobels Thriller fremd liegt aber genau hier das Problem.
Helle Panik trifft auf ultimativen Beschützer
Milliardärs-Tochter Joanna Berrigan ist von Australien nach Deutschland gekommen, um ihrem despotischen Vater zu entgehen. In der Nähe von München lebt die Fotografin nun schon seit geraumer Zeit mit ihrem Verlobten, dem IT-Fachmann Erik Thieben zusammen. Doch ausgerechnet diesen Aspekt ihres Lebens hat sie komplett vergessen. Als er eines Abends genervt von der Arbeit nach Hause kommt, findet er Joanna höchst beängstigt vor. Felsenfest davon überzeugt, keinen Mitbewohner zu haben, reagiert sie auf ihn in heller Panik wie auf einen Einbrecher, der ihr vielleicht sogar nach dem Leben trachtet. Da nützt es auch nichts, dass Erik sich als ihren ultimativen Beschützer sieht und sie nicht in ihrem verwirrten Zustand auf die Straße rennen lassen mag. Dummerweise trägt die Tatsache, dass in der Wohnung nichts darauf hinweist, es könne sich auch um sein Zuhause handeln, nicht viel zur Besserung der Lage bei. Die Ausgangssituation wirft also die Frage auf, wer von beiden hier denn nun den Verstand verloren hat.
In der Folge verbringen die beiden Protagonisten viel Zeit damit, sich gegenseitig davon zu überzeugen, mit ihrer jeweiligen Realitätsauffassung recht zu haben. Unterstützt wird dieser Streit dadurch, dass es bis auf eine gemeinsame Freundin namens Ela keine Zeugen ihres gemeinsamen Lebens gibt: Erik hat keine Eltern mehr, Joanna hat ihren nichts von ihrem deutschen Verlobten erzählt und weitere Freunde haben sie beide nicht. Selbst Ela mag Joanna nicht trauen. Es braucht schon viel Überzeugungskunst, Joanna davon zu überzeugen, dass ein Besuch beim Arzt nicht schaden kann. Systematisierte Amnesie (eine Unterform der dissoziativen Amnesie) lautet die vorläufige Diagnose der Psychiaterin mit dem schönen Namen Dr. Schattauer (die natürlich auch hätte Dr. Thieme, Springer oder Elsevier heißen können …). Der Auslöser soll irgendeine Art von Trauma sein, an das sich Joanna aber ebenfalls nicht erinnern kann. Zu weiteren Untersuchungen kommt es in der Folge nicht, obwohl beide Hauptfiguren viel Zeit in Krankenhäusern verbringen. Joanna hat nämlich neben ihrer Vergesslichkeit auch die unangenehme Tendenz zur Selbstverletzung und zu gewalttätigen Attacken ihrem Verlobten gegenüber entwickelt. Derweil Erik sich auch fern des häuslichen Gegeneinanders immer wieder als Opfer von Attentaten wiederfindet.
Alternierende Ich-Erzähler
Das alles wirkt schon reichlich angestrengt, besitzt ob der alternierenden Erzählung aber doch einen gewissen Charme. Abwechselnd führen die beiden Figuren die Handlung fort, jeweils aus der Perspektive des Ich-Erzählers. Dass das von Kapitel zu Kapitel nicht zur Verwirrungen führt, hat mich durchaus beeindruckt. Dabei habe ich mich immer wieder gefragt, ob sich die beiden Autoren die Rollen aufgeteilt haben, er den Erik, sie die Joanna? Oder gar umgekehrt? Das war es dann aber auch schon mit der erfreulichen Bewertung. Denn alles, was zur Aufklärung des großen Rätsels führt, sprich: die Geschichte hinter der Geschichte, habe ich nur noch als hanebüchen erlebt.
Die Geschichte hinter der Geschichte +++ Spoiler-Alarm ++++
Die Geschichte hinter der Geschichte besagt nämlich, dass sich Eriks Chef einer rechtsradikalen Gruppierung angeschlossen hat, die vor der nächsten Wahl noch ein paar Punkte sammeln will. Dafür hat die Gruppe ein Attentat auf den Münchner Hauptbahnhof geplant (und es bei der Durchführung so aussehen lassen, als stünden islamistische Terroristen dahinter). Dummerweise hatte Erik im Vorfeld durch eine E-Mail davon erfahren. Wenngleich er diese gar nicht verstanden hat, also auch nichts getan hat, um das Attentat zu vereiteln, planen die Rechten sein frühzeitiges Ableben. Weitere Figuren sterben vermeintliche Selbstmorde oder verschwinden unauffindbar. Für Erik aber haben sie sich etwas Spezielles ausgedacht. Für seinen Tod haben sie sich einen Hypnotherapeuten gesucht, der Joanna unter Drogen gesetzt und ihr befohlen hat, sich erst selbst zu verletzen und dann ein Attentat auf ihren Lebensgefährten zu begehen. Auf dass es wie ein häuslicher Streit aussieht. Bei der Hypnose kam es aber zu einem Zwischenfall. Da redeten zwei im Hintergrund darüber, einen Dritten besser komplett zu vergessen und seine Sachen loszuwerden. Auch wenn für sie gar nicht gedacht, hat genau das die Hypnotisierte dazu gebracht hat, alle Aspekte rund um ihren Verlobten zu vergessen und sein Zeug zu vernichten. Auslöser für ihre Amnesie ist also ein Unfall bei der Hypnoattentatsplanung. – Na, habe ich des Hanebüchenen zu viel versprochen?
+++ Spoiler-Ende +++ Warum nur?
Tatsächlich hinterlässt mich dieses Buch reichlich ratlos. Warum nur, frage ich mich, schreibt eine Autorin derart kluge und beeindruckende Jugendbücher, allen voran Erebos, und schafft es nicht, eine vergleichbare Qualität für Erwachsene zu verfassen? Bislang habe ich den Unterschied als noch recht moderat erlebt. Ihre Buchserie rund um ihre Salzburger Ermittlerin Beatrice Kaspary vermochte mich zwar nicht zu begeistern, erscheint aber nach dem vorliegenden Werk nahezu brillant. Liegt es nun an ihrem Co-Autoren? Ich kenne die Bücher von Arno Strobel nicht und will ihm deshalb auch nicht den Schwarzen Peter zuschieben. Außerdem bleibt es ja ihre Entscheidung, welche Story sie mit einem Kollegen verfolgen möchte. Oder sollte hier auch ein Fall von +++ Spoiler-Alarm +++ Hypnoattentat +++ Spoiler-Ende +++ vorliegen??? Das würde einiges erklären… Der Verlag scheint jedenfalls begeistert genug von dieser Zusammenarbeit zu sein: Bereits im Oktober soll das nächste Ergebnis der Kooperation unter dem Titel Anonym erscheinen. Nun, ich denke, das werde ich dann mal auslassen und stattdessen auf das nächste Jugendbuch der Österreicherin hoffen.