Genius: The Transgression
Gru aus Ich, einfach unverbesserlich, Doctor Horrible aus Dr. Horribles Sing-Along-Blog oder Walter Bishop aus Fringe: Die Figur des verrückten Wissenschaftlers ist seit Jahrzehnten populär und rückt im Informationszeitalter immer mehr ins Zentrum von Geschichten. Aus den Antagonisten von muskelstrotzenden Superhelden und den Erschaffern von Monstern werden immer öfter Protagonisten und Helden.
Bei dieser Entwicklung verwundert es nicht, dass die Genrefigur des Mad Scientist einen Eingang in die World of Darkness (WoD) gefunden hat. Nach Vampiren, Werwölfen, Geistern, Magiern und Feen kommt jetzt also auch ein Band für Frankensteins Erben. Doch nicht die offiziellen Macher von White Wolf haben hier ihre Finger im Spiel. Der Webcomic-Künstler Kyle Marquis hat ein komplettes, fast 500 Seiten starkes Setting für die WoD rausgehauen. Frei herunterzuladen unter: http://sites.google.com/site/moochava/genius
Insgeheim inspiriert
Wie in der World of Darkness üblich, spielt sich auch das Leben der Mad Scientists in einer versteckten, heimlichen Welt ab. Der Mensch von der Straße kriegt nichts mit vom Wirken der Wahnsinnigen – es sei denn, er wird für Experimente entführt oder von einer Superwaffe vaporisiert. Mad Scientists – im Spiel Genies oder Inspired genannt – sind beseelt von einer Eigenschaft namens Inspiration, dank der sie die absonderlichsten Dinge bauen können. Antigravitationsmaschinen, Todesstrahler, Verjüngungspillen und Roboter – alles ist dabei. Normale Sterbliche können nicht allzulange mit diesen wonders hantieren ohne sie zu zerstören oder sie bizarr zu verändern, wonders bleiben die Spielzeuge der Inspired.
Dabei hat jeder Charakter einen katalyst, der ihn oder sie mental destabilisiert, aber auch genial gemacht hat. Hervorgerufen wird ein katalyst durch eine traumatische Erfahrung, ein jeder ist einem von fünf Geisteszuständen zugeordnet. Marquis hat hierzu deutsche Begrifflichkeiten gewählt, die für Muttersprachler vielleicht ein bisschen albern klingen. So sind Grimms von Wut motiviert, Hoffnungs wollen die Welt mit ihren Erfindungen verbessern, Klagens leiden an ihrer Trauer, Neids wollen allen ihre Genialität beweisen und Staunens sind voller Neugier für den Kosmos. Das ist aber noch nicht alles. Jeder Mad Scientist ist auch Mitglied in einer foundation, die wissenschaftliche Disziplinen verkörpern: Artificer sind wahnsinnige Ingenieure, besonders begabt im Zusammenbau neuer wonders. Directors kontrollieren Finanzmärkte, das Wetter oder Menschen. Navigators leben für das Erkunden fremder Gebiete, für die Geschwindigkeit und sind als die waghalsigsten Mad Scientists bekannt. Verrückte Biologen und Ärzte sind dagegen Progenitors, deren Spezialgebiet Mutationen und künstliches Leben sind. Scholastics schließlich sind eher als Geisteswissenschaftler zu sehen, die wonders bauen, um Dinge zu durchleuchten oder zu verändern.
Im Gegensatz zu Vampiren, Werwölfen und anderen typischen Geschöpfen der WoD besitzen Mad Scientists keine besonderen Kräfte. Dafür können sie schließlich wonders bauen, für die es ausführliche Regeln gibt. Sie sind in verschiedene Kategorien, die axioms, eingeteilt. Jedes Genie kann bei der Charaktererschaffung Punkte auf die axioms verteilen. Beim wonder-Bau müssen Spielleiter und Spieler überlegen: Macht es was kaputt? Dann sollte der Scientist Ränge im axiom katastrofi besitzen. Kontrolliert es was? Dann ist epikrato gefragt. Lebt es? Automato ist das axiom der Wahl. Weitere axioms ermöglichen den Bau von Schutzausrüstung oder Vehikeln. Nun werden je nach Stärke des wonders und Basteldauer Würfel geworfen. Modifiziert wird der Wurf durch mögliche Vorteile wie Helfer („Igor! Mehr Gehirne!“), ein Labor oder eine transgression, eine moralische Grenzüberschreitung („Igor! Mehr frische Gehirne – von Waisenkindern!“). Denn auch Mad Scientists müssen auf ihren moralischen Kompass – bei Genius: The Transgression (G:tT) obligation genannt – achten.
Wahnsinn verpflichtet
Obligation ist die Verpflichtung gegenüber den normalen, nichtgenialen Menschen. Sinkt die obligation, kommt der Wahn. Dann kann das Genie zu einem unmada werden, der nur noch für seine wirren Ideen lebt oder ein Illuminated, der gar keine Moral mehr kennt. Aber egal ob nur ein bisschen oder sehr wahnsinnig, ein Mad Scientist wird sich im Laufe der Zeit ein nützliches Arsenal an verschiedenen wonders zusammenbasteln, mit deren Hilfe er zahlreiche Abenteuer bestehen kann. Und die Möglichkeiten dafür sind mannigfaltig: Zeitreisen, Clockstoppers, die alle wonders vernichten wollen, Undercover-Aktionen in der Welt der normalen Menschen oder der Kampf gegen richtig irre Wissenschaftler. Wie die skrupellosen Illuminated oder die Lemurians, organisierte Mad Scientists, die sich nicht von überholten Erkenntnissen lösen können. Außerdem gibt es noch bardos – Taschendimensionen, die Verkörperungen von widerlegten Lehrmeinungen sind. In der Welt von G:tT versorgt die manische Energie aller Genies solche Orte. So gibt es einen alternativen Mars voller Leben oder eine Hohlwelt, in der alle vergessenen Fossilien-Theorien quicklebendig sind. Und in die sich besiegte Nazi-Wissenschaftler nach dem zweiten Weltkrieg zurückgezogen haben. All dies, von Charaktererschaffung bis Abenteuerideen, wird in fünf Kapiteln ausgebreitet. Drei Anhänge beschreiben einige Beispiel-wonders, Stipendienwerke und ein Beispiel-Setting in Seattle.
Genius: The Transgression ist ein umfangreiches Werk. Marquis reflektiert in seinem Rollenspiel rund 2000 Jahre Wissenschaftsgeschichte mit all ihren seltsamen Abwegen und ihrem Wiederklang in der Hoch- und Popkultur. Die drei Genres, die er in G:tT inkorporieren will, sind Science Fiction, Horror und Weirdness. Das ist ihm durchaus gelungen. Zudem gibt er auch Tipps, wie Spieler und Spielleiter das gemeinsam schaffen können. Allerdings ist die Mad Science in Marquis WoD eher mythisch: wonders funktionieren nur, wenn normale Menschen nicht genau hinschauen und wenn der Erfinder mania, eine Ressource auf dem Charakterbogen, investiert. Das mag zwar passend sein, um Muggel nicht auf den Plan zu bringen, widerspricht aber ein wenig der Idee von Erfindungen. Aber wonders sind halt mehr gestaltgewordene Ideen als schnödes Bastelwerk. Das System, diese Wunderdinge zu erschaffen ist ausführlich und deckt wirklich alles ab – von Frankensteins Monster bis zu Doc Browns De Lorean. Bedauerlich ist das völlige Fehlen von Illustrationen. Zwar wären viele fangemachte Rollenspielpublikationen ohne fangemachte Bilder besser dran, aber 488 Seiten pdf-Bleiwüste liegen schwer im Lesemagen. Rollenspieler, die das Grundregelwerk für die World of Darkness besitzen, keine Abneigung gegen lange englische Texte haben und Mad Science mögen, sind hier sehr gut bedient.