In 80 Büchern um die Welt
Wir schreiben das Jahr 2022. Leopold Bloom reißt das Küchenfenster seines Hauses an der Eccles Street 7 auf und schreit hinaus: „He, Leute, schreibt mal alle auf, was ich euch jetzt diktiere: Zweitausendzweiundzwanzig.“ Nein, so stimmt das nicht. Das Haus in Dublin steht ja auch gar nicht mehr. Ins Weltgeschehen geriet es vor hundert Jahren mit einem Jahrhundertwerk: Ulysses von James Joyce. Dessen Protagonist Bloom spaziert zur Tür hinaus, quasi nur, um mal eben Zigaretten zu holen, was Ehefrau Molly Gelegenheit zum amourösen Abenteuer gibt. Doch nicht mit ihrer Bettgeschichte darf sich die Leserschaft beschäftigen, vielmehr muss sie Leopold durch die Straßen Dublins begleiten und seinen tiefsinnigen Monologen folgen. Wohlgemerkt über 1000 Seiten, was auch emsigste Leser zur Strecke bringt. Das Buch wurde darüber zum meist-ungelesenen Bestseller, der nun, im Jahr 2022, runden Geburtstag feiert. Blooms Spaziergang fand laut Joyce allerdings schon am 16. Juni 1904 statt, längst als Bloomsday von allen gefeiert, die lieber ins irische Glas als ins Buch schauen.
Bloomsday ist Doomsday. Man muss die Anspielung auf das Jüngste Gericht keinem Briten oder Amerikaner erklären, aber wir leben nun mal in Deutschland. In unsere Sprache wurde Literary Journeys. Mapping Fictional Travels across the World of Literature aus dem Londoner Verlagshaus Elwin Street Productions übersetzt und heißt bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Theiss In 80 Büchern um die Welt. Eine schräge Sache, da auch nach dreifach rückwärts geprüfter Zählung nur 78 Bücher vorgestellt werden, darunter Ulysses. Das mit dem Doomsday hätte in der deutschen Fassung eine Annotation vertragen. Ferner sollte im Angesicht von Joyce niemand „mit EINEN Liebhaber im Bett“ liegen, während es „mit EINEM“ durchaus legitim ist. Gut, das passiert, aber auch die doppelten, gar drei- und vierfachen Genitive oder die ermüdenden Partizipialkonstruktionen sind nicht der Sprachschönheit letzter Schliff.
78 Bücher rund um abenteuerliche Reisen, ihre Präsentation auf jeweils zwei bis sechs Seiten trefflich torpediert durch allerlei Übersetzungsschwächen. Kann man die Weltliteratur so gut kennen, dass man sich auf Kurzfassungen einer so knappen Auswahl zu kaprizieren wagt? Nun, mit einer Phalanx von 55 Autoren ist das kein Ding der Unmöglichkeit. Einer von ihnen, John McMurtrie, erläutert in der Einleitung, dass die Werke nach drei Kriterien gesiebt wurden: Erstens musste es ein literarisches und durfte kein Sachbuch sein, zweitens musste die Reise zu einem realen Ort führen. Und drittens? Das erfahren wir leider nicht, weil auch in solchen Punkten geschludert wird.
Da nun das dritte Kriterium fehlt, legt das wohlfeile Argument gegen die erfolgte Auswahl an Schlagkraft zu. Warum Marco Polo und nicht Ibn Battuta? Hätten nicht Faxian oder Xuanzang eine Prise Antagonismus beisteuern können? Sollen wir V.S. Naipauls scharfsinnige Islamische Reise wie auch sein streckenweise sehr amüsantes Land der Finsternis etwa als Sachbücher abhaken? Wo bleiben Pierre Loti, Ernest Hemingway, Hermann Hesse, George Orwell oder Rudyard Kipling? Tschingis Aitmatow, Meja Mwangi, Kawabata Yasunari, Julio Cortázar? Und da sie nicht einmal im Register aufscheinen – warum stürzt sich dafür ein Viertel des chronologisch geordneten Buches auf die Jahre nach 2000? Gut, vielleicht war es ja genau dieses fehlende dritte Kriterium, einen Schwerpunkt auf die Gegenwart zu legen. „Beim modernen Reisen geht es oft nicht um Tourismus“, vermerkt da ein knapper Text, „sondern um Migration, Flucht, Vertreibung, um den Aufbau einer neuen Existenz. Zugehörigkeit und Identität werden zu Themen des neuen Jahrhunderts.“ Wenn man sich besonders weit aus dem Fenster lehnen möchte, ist dies wohl ein taugliches Statement. Indessen liegt der Verdacht nahe, dass ein Postulat zur selbsterfüllenden Prophezeiung mutierte.
Als „Die ZEIT“ vor Jahrzehnten ihre Artikelserie Bibliothek der 100 Bücher in Buchform goss, war dies ein reiferes Unternehmen, zumal eine Jury die Auswahl getroffen und namhafte Schriftsteller die Rezensionen geschrieben hatten. Gleichwohl muss man einräumen, dass die 80 Bücher um die Welt bei aller Sperrigkeit auch überraschende Entdeckungen und liebe Wiederentdeckungen gestatten. Mit gebremster Kraft wirkt es wie ein „Mensch, das könnte ich doch auch mal (wieder) lesen“. Gebremst deshalb, weil vielen Kurzbeschreibungen schlichtweg Esprit fehlt. Sir Walter Scott etwa, selbst ein gnadenloser Umstandskrämer, erhält einen Zuschlag für Das Herz von Midlothian. Daraus könnte man durchaus etwas zaubern, aber was da ausgebreitet wird, liest sich wie Loriots Posse auf North Cothelstone Hall. Was hätte man alternativ nicht alles notieren können! Über kleine Mysterien der ausgewählten Bücher. Über ihre Entstehungsgeschichte. Über die Orte der Handlung, denn das Reisen wird ja als Leitfaden gelegt. Bei 55 Rezensenten zwischen zwei Buchdeckeln wird das ein schwieriges Unterfangen gewesen sein. Was derweil prächtig gelang, ist die Auswahl der Illustrationen. Allein Edward Hoppers „Chair Car“ im Vorspann wirkt wie eine erfrischende Willkommenskarte, Dorothea Langes Foto aus der Weltwirtschaftskrise wie die Quintessenz von John Steinbecks Früchte des Zorns. Wahrlich, die opulente Ausstattung des Buches mit vielsagenden Bildern ist in Verbindung mit einem gelungenen Layout der eigentliche Gewinn.