Jahresrückblick 2019: David
Wie lässt sich 2019 in einem Filmzitat beschreiben? Wie wäre es mit „DAMN YE! Let Neptune strike ye dead!“ (Der Leuchtturm)? Oder „You know what kind of plan never fails? No plan. No plan at all.“ (Parasite)? Vielleicht aber auch einfach „This microphone smells like ass!“ (Dolemite is my name). Der Punkt ist: Wir mögen die Jahre allmählich wie ein Countdown zur unvermeidlichen Apokalypse herunterzählen – aber ’n paar gute Filmchen, Bücher und CDs waren auch 2019 wieder dabei.
Gesehen
In letzter Sekunde einen unverrückbaren Platz auf meinem heiß begehrten „Film des Jahres“-Stuhl gesichert hat sich dabei eindeutig und konkurrenzlos Der Leuchtturm. Wer Robert Eggers Erstlingswerk The Witch – einem der besten Horrorfilme der letzten Jahre – gesehen hat, weiß, dass die Filme dieses Regisseurs auf dem Papier eigentlich überhaupt nicht funktionieren sollten – und trotzdem zu den fesselndsten, mitreißendsten Stücken Filmkunst überhaupt gehören. Siehe Beweisstück Nummer 2, der diesjährige Der Leuchtturm: Ein in schwarz-weiß und nahezu quadratischem 1.19:1-Format geschossener Dialogfilm über zwei Männer (Willem Dafoe und Robert Pattinson), die in einem, Überraschung, Leuchtturm festsitzen, trinken und nach und nach dem Wahnsinn verfallen, hat eigentlich gar kein Recht, so unverschämt hochspannend, lustig, verwirrend, beängstigend, tiefgründig, albern und unterhaltend zu sein. Sowohl Pattinson als auch Dafoe spielen sich die Seele aus dem Leib und verdienen alle Oscars dieser Welt und viele Bilder, inklusive des perfekten Schlussbildes, bleiben auch wochenlang nach der ersten Sichtung noch tief in der Hirnrinde.
Knapp dahinter findet sich der nicht minder geniale Parasite ein. Bong Joon-Ho hat sich seit Memories of Murder, The Host und Snowpiercer als verlässlicher Garant für hochqualitatives südkoreanisches Spannungskino erwiesen, doch sein neuer Film ist tatsächlich sein bisheriges Meisterwerk. Hier zu viel über die Handlung zu verraten, wäre ein Verbrechen, denn je blinder man in Parasite hineingeht, desto besser lässt man sich von den vielen Twists und Genresprüngen des Films hin- und herziehen. Die Handlung entzieht sich jeglichen Erwartungen und ist doch am Ende zu 100 Prozent in sich schlüssig. Ein bitterböser Satirethriller mit perfekten Performances und hochspannenden wie auch extrem lustigen Sequenzen, den wirklich jeder mal gesehen haben muss. Pflichtfilm!
Nachdem Ari Aster uns vergangenes Jahr mit Hereditary nachhaltig traumatisiert hatte, fährt das nicht weniger verstörende Zweitwerk Midsommar eine etwas andere Schiene und zeigt, dass auch Szenen in strahlendem Sonnenlicht ordentlich Horror-Atmosphäre ausstrahlen können. Die Geschichte um eine Gruppe Freunde, die eine mysteriöse Kommune in Schweden bei ihren Mittsommer-Ritualen besucht und dabei nach und nach hinter das dunkle Geheimnis der stets breit lächelnden Gesellschaft kommen, ist toll gespielt, fies und doch auf dunkle Weise fast schon hoffnungsvoll und metaphorisch. Auch hier gibt es Bilder, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben.
2019 war also ein tolles Jahr für kleine Filme – bei den dicken Budgets hingegen sah es nicht ganz so rosig aus: Es: Kapitel 2 war mehr eine gut gespielte aber viel zu aufgeblasene und überraschungsarme Achterbahnfahrt als ein wirklich gruseliger Horrorfilm. John Wick 3 war … mehr John Wick und das war alles, was wir haben wollten. Großartig. Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers war … okay, Meinungen sind subjektiv, aber diese hier ist Fakt: Der Film war ein Desaster. Nach dem holprigen, aber mutigen Die letzten Jedi, der für kindliche Wutanfälle und wilde Shitstorms gesorgt hatte, hat Disney jeden Mut verloren und JJ Abrams wieder ans Ruder gelassen, der prompt überkorrigierte und mit Der Aufstieg Skywalkers das wohl langweiligste, vorhersehbarste Rückkehr der Jedi-Ritter-Remake mit einer Beleidigung von einem Drehbuch und einem Zurückrudern sämtlicher mutiger Entscheidungen des Vorgängers auf die Leinwand geschissen hat. Das klingt wütender, als es tatsächlich ist, immerhin war ich nie der Riesen-Star Wars-Fan, aber nach diesem Film frage ich mich echt, ob JJ Abrams überhaupt weiß, was eine Story oder eine 3-Akt-Struktur oder Themes oder Set-Up/Pay-Off sind. Es passiert so viel und gleichzeitig so verdammt wenig in diesem Film und am Ende des Tages war ich einfach nur sauer auf mich selbst, dass ich einen Haufen Kohle für eine 3D-Karte aus dem Fenster geschmissen habe – der größte Fehlkauf seit Silent Hill: Revelations.
Joker sorgte bereits Monate vor dem Filmstart für Kontroversen und auch jetzt noch sind die Meinungen gespalten: Für die einen ist die Neuauslegung des Mythos um den (dieses Mal von Joaquin Phoenix gespielten) Batman-Bösewicht Joker von Hangover-Regisseur Todd Philipps ein innovatives Meisterwerk, für die anderen eine filmische Beleidigung. Ich bin da eher in der Mitte – kann man machen, muss man nicht, zumal die direkten Scorsese-Vorbilder Taxi Driver und King of Comedy, aus denen sich Phillipps in Joker ordentlich bedient, nach wie vor die besseren Alternativen sind.
Wo wir gerade von Martin Scorsese reden: 2019 war ein gutes Jahr für Streaming, nicht zuletzt, weil besagter Meister höchstpersönlich seine erste Netflix-Produktion herausbrachte, der lang erwartete The Irishman. Und was soll man sagen, der Film wird jedem Hype gerecht. Mit seinen über drei Stunden Lauflänge muss man eine Menge Sitzfleisch mitbringen, doch die Mafia-Meditation über Tod und Vermächtnis ist einfach eine helle Freude mit fantastischen Performances von Robert de Niro, Al Pacino und Joe Pesci. Ebenfalls zu überzeugen wussten „Dolemite is my name“, ein Biopic über den legendären Rudy Ray Moore, gespielt von einem großartig aufgelegten Eddie Murphy und mit einer szenenstehlenden Nebenrolle Wesley Snipes, Between two Ferns: The Movie, eine durchgehend amüsante Filmversion von Zach Galifianakis Youtube-Serie, sowie der unterhaltsame B-Actionfilm Avengement mit toll choreografierten Kampfszenen und einem enthusiastisch aufspielenden Scott Adkins.
Man merkt, 2019 war ein gutes Filmjahr, wenn erst in der „ebenfalls erwähnenswert“-Kategorie Quentin Tarantinos neuer Film Once upon a time in Hollywood (zu Unrecht übrigens, der Film ist toll und klettert nach jeder Sichtung ein Stückchen höher in meiner Tarantino-Rangliste) und der zumindest von mir mein Leben lang erwartete Deadwood – Der Film (ein großartiges Wiedersehen/Verabschieden lieb gewonnener Figuren) auftauchen. Und wo wir gerade von lang erwartet sprechen…
Gehört
Es gibt ein neues Tool-Album!!! Nicht nur, dass mein Running Gag vergangener Jahresrückblicke endlich Geschichte ist, Fear Innoculum ist auch Gott sei Dank großes Gehörkino. Die Songs sind überlang, vielschichtig, sperrig, verfrickelt – und über all das legen sich Maynard James Keenans Harmonien zum Niederknien. Nichts anderes darf man von einem Tool-Album erwarten. Viele Songs erschließen sich in ihrer ganzen Größe erst nach dem zweiten, nach dem dritten, nach dem vierten Hören. Und doch – der ganz große Quantensprung, den manche vielleicht nach 13 (!) Jahren (!!) Pause (!!!) erhofft haben, ist Fear Innoculum nicht. Es ist großartig, keine Frage, aber nach so langer Warte- und Hypezeit ist die Gefahr groß, dass Erwartungen ins Unermessliche steigen – und dann eben zwangsläufig enttäuscht werden. Fear Innoculum ist mehr ein 10.000 Days-Teil 2, kein neues Lateralus – trotzdem könnte ich nicht glücklicher sein.
Überraschend gut fiel tatsächlich das neue Slipknot-Album We are not your kind aus. Wer die Band, wie ich, lange aus den Augen verloren hat, durfte sich bei Titeln wie „Nero Forte“ oder „Unsainted“ auf Klänge wie aus besten, alten Iowa-Zeiten freuen. Ein großartig aufgelegter Corey Taylor singt und brüllt sich die Stimmbänder aus dem Rachen, dazu gibt es krachende Gitarren, knallende Riffs und wie immer viel zu viele Schlagzeuge und Percussions – geiles Stück, auch wenn nicht alle Songs ein Treffer sind, ein Urteil, das sich auch das neue Deichkind-Album Wer sagt denn das? gefallen lassen muss: Die vorab ausgekoppelten Singles gehören zu dem besten, was die Band je produziert hat mit intelligenten Texten, eingängigen Melodien und wie immer herausragenden Musikvideos, aber auf ganzer Albumlänge haben sich dann doch mehr als nur ein paar etwas belanglose Lückenfüller eingeschlichen.
Ebenfalls nicht unerwähnt bleiben sollten stabile neue Alben von Opeth (In Cauda Venenum), Sunn O))) (Life Metal), Nile (Vile Nilotic Rites), Periphery (Periphery IV: Hail Stan) und Devin Townsend (Empath).
Gelesen
2019 war ein großartiges Jahr für packende Non-Fiction Bücher: Besonders heraus stach hierbei natürlich das so packende wie erschütternde Tausend Zeilen Lüge von Juan Moreno über die Zusammenarbeit und die Aufdeckung des Claas Relotius-Skandals. Edward Snowdens Permanent Record verdient es definitiv, zur Pflichtlektüre zu werden, denn was der in den USA in Ungnade gefallene Whistleblower hier aufdeckt und erklärt, ist einfach nur erschreckend, aber eben unfassbar wichtig. Sehr unterhaltsam hingegen lasen sich Herr Sonneborn geht nach Brüssel: Abenteuer im Europaparlament und Sophie Passmanns herrlich provozierendes Alte weiße Männer: Ein Schlichtungsversuch.
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