Jahresrückblick 2020: David
Jetzt ist es soweit: Diese Angewohnheit, meine Jahresrückblicke mit großem Seufzen und Jammern darüber zu beginnen, wie ach so schlimm das vergangene Jahr doch war, hat mir 2020 mal so richtig in den Arsch gebissen. Denn verglichen mit 2020 waren die Jahre 2016 bis 2019 geradezu herzallerliebst, ein bunter Spaß, Regenbogen furzende Einhörner auf Bobby Cars.
Zwangsweise zuhause bleiben zu müssen, da draußen eine weltweite Pandemie tobt, mag dem einen oder anderen von uns Fischpott-Nerds anfangs noch wie ein wahres Geschenk von Odin persönlich vorgekommen sein – „wie jetzt, nicht mehr rausgehen und sich mit Menschen unterhalten müssen? Die ganze Zeit mit Netflix und Zocken in der Bude hocken?? Wo muss ich unterschreiben??“ – aber der tatsächliche Ernst der Lage wurde im Laufe des Jahres für viele schmerzhaft überdeutlich. Wer in solch vorapokalyptischen Zeiten dringend Ablenkung benötigte – sofern man sich nicht durch die wiederholte Vidüre von witzigen Viruswerken wie Outbreak oder Contagion selbst bestrafen wollte, hey, whatever floats your boat – hatte 2020 genug Zeit, seine lange Watchlist oder Steam-Bibliothek abzuarbeiten.
Gesehen
Angesichts geschlossener Kinos und mehrfach verschobener Starttermine großer Hollywood-Blockbuster ist es wenig verwunderlich, dass mein Film des Jahres 2020 von einem Streaming-Dienst stammt. Aber selbst unabhängig von der oft eher mäßigen Qualität diverser Netflix-Eigenproduktionen sticht I’m Thinking Of Ending Things hervor. Wer mit den bisherigen Filmen von Autor/Regisseur Charlie Kaufman vertraut ist, ahnt bereits, dass auch sein neuestes Werk – eine Adaption des gleichnamigen Buches – auf den ersten Blick etwas unzugänglich erscheinen würde. Aber der vielschichtige und überaus symbolische Plot von I’m Thinking Of Ending Things belohnt mehrfaches Gucken – so viele Details erschließen sich erst beim zweiten, beim dritten, beim vierten Mal. Dabei wird er nie langweilig, selbst wenn er aus teilweise halbstündigen Dialogszenen in einem Auto besteht. Dafür sorgen allein schon die herausragenden Performances von Jessie Buckley, Jesse Plemons, David Thewlis und Toni Collette. I’m Thinking Of Ending Things ist nicht für Jedermann oder -frau geeignet, aber wer Fan von Kaufmans eigenwilligem Storytelling ist, bekommt hier ein absolutes Meisterwerk geliefert.
Sehr speziell ist auch David Finchers neuer Film Mank ausgefallen. Der komplett in schwarz-weiß gedrehte, ebenfalls sehr dialoglastige Mank handelt vordergründig von der Entstehung eines kleinen, obskuren Filmchens namens Citizen Kane aus der Sicht des kontroversen Co-Autors Herman J. Mankiewicz (fantastisch gespielt von Gary Oldman). Tatsächlich bietet Fincher hier ein mitreißendes wie sarkastisches Porträt über das Hollywood der 30er- und 40er-Jahre. Technisch ist der Film einwandfrei und Finchers obsessive Genauigkeit beim Dreh wird gerade in den aufwendigen Partyszenen überdeutlich. Oldman reißt jede Szene extrem charismatisch an sich, doch ein persönliches Highlight für mich ist die Besetzung der britischen Tiefstimmen-Legende Charles Dance als William Randolph Hearst. Lediglich Tom Burke als Orson Welles sticht durch seine ablenkende und nicht besonders überzeugende Darstellung negativ hervor. Das tut dem Spaß an Mank aber zumindest mir keinen Abbruch – wer allerdings nicht mit Citizen Kane oder der abgebildeten Geschichtsperiode vertraut ist, wird dem Film nicht viel abgewinnen können.
Christopher Nolans neuestes Blockbuster-Gehirnpuzzle Tenet wurde 2020 kontrovers aufgefasst – nicht zuletzt aufgrund Nolans Beharrlichkeit, den Film inmitten einer globalen Pandemie ausschließlich im Kino zu veröffentlichen. Aber auch inhaltlich sind die Reaktionen auf Tenet gespalten. Fehlende Ambitionen kann man dem Regisseur nicht vorwerfen – Tenets labyrinthischer Plot und überkomplexes Gimmick (die Figuren im Film bestehen darauf, dass es sich NICHT um Zeitreise, sondern um Inversion handelt … aber es ist Zeitreise, Chris. Punkt.) lassen an den ebenfalls sehr komplexen Inception erinnern und werden sicherlich noch Stoff für drölfzigtausend erklärende und analysierende Youtube-Videos bieten. Doch bei all dem kompetent inszenierten, beeindruckenden Spektakel und knallendem Elektro-Soundtrack kommt man bei Tenet leider irgendwann zu dem Schluss, dass Nolan dieses Mal ein wenig die Pferde durchgegangen sind. Die Hauptcharaktere sind weniger Figuren, als vielmehr Maschinen, die existieren, um sich gegenseitig die nächste Storywendung zu erklären. So ambitioniert der Film auch sein mag, so überfrachtet und schlussendlich leider auch emotionslos gerät die Umsetzung. Und, verdammt noch mal, kann irgendjemand Christopher mal erklären, wie vernünftiges Soundmixing funktioniert? Dem ohnehin schon schwer zu folgenden Plot wird nicht dadurch geholfen, dass man über dem dröhnenden Soundtrack die Dialoge gar nicht mehr hören kann! Schlecht ist Tenet sicherlich nicht, aber im Vergleich zu Nolans bisherigen Werken stinkt er leider klar ab. Actionfilme mit Sci-Fi-Einschlag hat Nolan selbst schon mal besser hingekriegt.
In der Rubrik „Ebenfalls erwähnenswert, aber ich kann nicht zu jedem Film einen ganzen Riesenabsatz schreiben, Fabian kriegt sonst die Krise“ finden sich weitere Produktionen aus dem Hause Netflix: The Old Guard und The Devil All The Time sind prominent besetzte, durchaus sehenswerte, wenn auch nicht perfekte Filme, deren gemeinsamer Nenner kurioserweise Ex-„Dudley Dursley aus Harry Potter“-Darsteller Harry Melling ist, der übrigens auch in der erfolgreichen Netflix-Miniserie Das Damengambit auftauchte. Letztere erwies sich darüber hinaus als mitreißende, hervorragend gespielte Serie, selbst für Schachmuffel wie mich. Der große Hit im ersten Frühjahrs-Lockdown, Tiger King, ist extrem unterhaltsam und kurzweilig, gerade als vermeintliche Dokumentation aber in meinen Augen überaus problematisch und parteiisch inszeniert.
Um auch mal ein Nicht-Netflix-Projekt unterzubringen, sei hier noch kurz Porträt einer jungen Frau in Flammen erwähnt, der zwar bereits letztes Jahr erschienen ist, aber den ich erst 2020 gesehen habe: Ein beeindruckender, emotionaler und fantastisch gefilmter Liebesfilm mit subtilen Performances seiner zwei Hauptdarstellerinnen, die den kompletten Film quasi allein mühelos tragen. Hätte ich Porträt einer jungen Frau in Flammen bereits 2019 gesehen, es wäre ein Kandidat für den besten Film des Jahres gewesen. Als Überbleibsel der „Vor-Corona-Zeit“ Anfang 2020, die ich tatsächlich noch im Kino (!!!) gesehen hatte, bleiben schließlich noch Leigh Whannells Neuverfilmung von Der Unsichtbare und Guy Ritchies Gangsterstreifen The Gentlemen übrig – beides unterhaltsame Genrefilme, die jetzt keine preiswürdigen Meisterwerke sind, aber mindestens das Prädikat „sehenswert“ erhalten.
Gehört
Wenn als Freizeitaktivitäten an der frischen Luft nur noch „alleine spazieren gehen“ oder „alleine schneller spazieren gehen aka joggen“ verbleiben, brauche zumindest ich ein wenig Zündstoff für die Ohren, denn Natur und Vogelgezwitscher reichen meinen dauergeschädigten Lauschern einfach nicht. Glücklicherweise hat der Musiksektor 2020 geliefert: Das Doppelalbum Of Truth And Sacrifice von Heaven Shall Burn zum Beispiel. Gewohnt heftig-stampfendes Gitarrengeballer und sozialkritische Texte von Marcus „Ich seh aus wie ein Steuerberater, aber brülle wie ein geistesgestörter Gorilla“ Bischoff bietet schon die Überhymne „Thoughts and Prayers“ zur Albeneröffnung – vielleicht einer der besten Songs der Bandgeschichte. So ganz kann Heaven Shall Burn dem altbekannten Problem, über Albumlänge zunehmend eintönig zu werden, nicht entkommen, aber gerade experimentierfreudigere Songs wie „Übermacht“ oder „La Resistance“ massieren zünftig die Ohrmuscheln.
Auf einer etwas sperrigeren, aber nicht minder einschlagenden Ebene fand 2020 endlich das neue Album des deutschen Progressive Death-Kollektivs The Ocean seinen Weg durch meine Kopfhörer. Sagte ich sperrig? Der flockig-leichte Albumtitel Phanerozoic II: Mesozoic / Cenozoic ist Programm, denn hier wird sich Ocean-typisch durch bis zu 15-minütige Songungetüme gewütet und geklungen, mit abwechselnd harten, durchschlagenden Passagen und leichten, melodiösen Unterbrechungen – und ich habe jede einzelne Sekunde geliebt. Sicherlich keine Band für Zwischendurch – aber in einem Jahr ohne neues Tool-Album muss man sehen, wo man bleibt.
Anders als The Ocean halten sich Lamb Of God gar nicht erst mit komplex-intellektuellen Albumnamen auf: Die neue Platte von Randy Blythe und seinen Spießgesellen heißt, man höre und staune, Lamb Of God, Maul halten, ab dafür. Glücklicherweise gestalten sich die Songs auf dem Album etwas einfallsreicher; mit „Memento Mori“ ist sogar ein Killertrack, der es mit dem Bandklassiker „Redneck“ aufnehmen kann, enthalten. Ansonsten ist bei der Thrash Metal-Combo Business as usual angesagt: Flotte Tracks, schreiender Randy, geile Riffs. Mehr braucht man nicht, um glücklich zu sein.
Wer es 2020 extremer mochte, war mit neuen Releases von Napalm Death („Throes of Joy in the Jaws of Defeatism“) und Anaal Nathrakh („Endarkenment“) gut bedient. Erstere kommen leider auch auf dem aktuellen Album trotz solider Blastbeats nicht mehr an vergangene Glanztage heran, letztere hingegen haben ihre Mixtur aus ultraschnellem Grindcore und fast schon poppigen Refrains mittlerweile verfeinert, auch wenn ein, zwei Passagen dann doch etwas unfreiwillig komisch geraten („A thousand cocks…“, Moment, was singt der da? „…begin to crow“ Puh, nochmal Glück gehabt!)
Bei Igorrr von Experimentierfreudigkeit zu reden, wäre extrem redundant, denn, ich bitte euch, es ist Igorrr. Der Franzose hat 2020 mal eben eines der besten Musikvideos überhaupt rausgehauen (selbst wenn ihr kein Fan der Mucke seid, guckt euch auf Youtube „Very Noise“ an, der Mindfuck lohnt sich!) und das Album selbst ist nicht weniger verrückt. Die scheinbar wild zusammengewürfelten Klangwelten hier beschreiben zu wollen, ist ein sinnloses Unterfangen, doch auch auf dem neuen Album Spirituality and Distortion gilt: Der Wahnsinn hat immer Methode. Hundertprozentige Kaufempfehlung.
Von etwas enttäuschender Natur war Triviums What the Dead Men say, das nach dem doch recht ordentlichen letzten Album The Sin and the Sentence leider recht belanglos und uninteressant ausfiel. Metallicas zweiter Ausflug in die bunte Welt der Symphonie mit dem Live-Album S&M 2 hingegen konnte mich nicht groß enttäuschen, da ich schon kein großer Fan der ersten Kollaboration mit dem San Francisco Symphonic Orchestra war – ein Klassik-Arrangement von Metallica-Klassikern kann sicherlich wunderbar funktionieren, tut es hier aber in meinen Augen überhaupt nicht. Nicht unerwähnt bleiben sollte noch Code Orange, eine einfallsreiche und cool klingende Hardcore Punk Band, die 2020 ihr neues Album Underneath rausgehauen habe und die ich in diesem Jahr für mich entdecken durfte.
Gelesen
So viel Zeit auf dem Balkon verbracht wie 2020 habe ich noch nie. Entsprechend konnte ich auch einiges an Lesestoff abarbeiten. Besonders gefreut hatte ich mich dabei auf David Wongs wie immer kreativ betiteltem Zoey punches the Future in the Dick, die Fortsetzung von, wie sollte es anders sein, Futuristic Violence and Fancy Suits sowie Lindsay Ellis’ (sehr empfehlenswerte Filmkritikerin auf Youtube) Debütroman Axiom’s End. Darüber hinaus kann ich an dieser Stelle leider nicht viel zu Neuerscheinungen 2020 erzählen, da mich in diesem Jahr die „Witcher“-Bücher in Beschlag genommen haben – eine polnische Fantasy-Buchreihe und Vorlage zu den gleichnamigen Videospielen beziehungsweise der Netflix-Serie. Diese Bücher gibt es schon lange, aber ich hab halt erst dieses Jahr damit angefangen, also geht kacken, das ist mein Jahresrückblick! Die Witcher-Bücher überzeugen durch einen extrem guten Schreibstil und einen tiefschwarzen Humor, während die Geschichten selbst teilweise tief philosophisch und moralisch komplex angelegt sind, was in den Büchern noch viel deutlicher als in den Spielen oder in der Serie wird.
Gespielt
Jawollo, gespielt hab ich auch in diesem Jahr. Zwar hatte ich nicht widerstehen können und ein weiteres Mal hunderte Stunden in The Witcher 3 gepumpt, aber daneben war auch Zeit für Neues. Hades zum Beispiel. Hades ist der Hammer! Ein Roguelike (oder Roguelite?) von den Machern des Indie-Hits Bastion mit genialer Story, genialem Soundtrack, genialem Voice-Acting und genialem Fortschritt-System, das dafür sorgt das jeder Tod durch ein permanentes Upgrade-System nicht ganz so frustrierend wird. Die Versuche von Zagreus, aus der griechischen Unterwelt zu entkommen, werden von den anderen griechischen Göttern mit kraftvollen Upgrades unterstützt, während Vater Hades dem Spieler die Legionen der Hölle auf den Hals hetzt, um ihn aufzuhalten. Alle Systeme sind perfekt miteinander verwoben und hochgradig liebevoll umgesetzt. Supergiant Games, das Entwicklerstudio von Hades, erweist sich ein weiteres Mal als absoluter Qualitätsgarant.
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