Jahresrückblick 2020: Fabian
Jede weitere Einleitung zu 2020 erübrigt sich, denn wer das hier liest, war mittendrin.1 Ja, auch ich hatte viel Zeit für Netflix, Zocken, Bücher und so weiter. Aber um meine Liste eingermaßen kurz und übersichtlich zu halten schreibe ich hier (fast) nur über Dinge, die auch 2020 erschienen sind.
gesehen
2020 habe ich ziemlich viele Anime-Serien und Zeichentrickfilme gesehen. Darunter Dorohedoro, eine satanische Melange aus Murakami und Moebius. Eine wundervolle Welt, aber leider voller bräsig-dämlicher Protagonist*innen. Die Geschichte des Gyoza-liebenden Echsenmannes Cayman hat mich aber dazu animiert, selbst einmal die Gyoza-Zubereitung auszuprobieren. War lecker.
Ebenfalls schön anzusehen war Great Pretender, eine animierte Heist-Serie, die mich bisher ganz gut unterhalten hat. Allerdings habe ich die erste Staffel noch nicht fertig geschaut. Und die neue Staffel von Rick and Morty ist wie gewohnt ziemlich viel Dead-Baby-Comedy2 mit einem Arschlochprotagisten, aber recht unterhaltsam. Blood of Zeus ist nett anzuschauen, schafft es aber auch, die griechische Mythologie in einer albernen Gut-gegen-Böse-Geschichte zu banalisieren. Die Geheime Welt Idhún ist eine so durchschnittliches Young-Adult-Fantasy-Setting, dass es stellenweise schon beinahe wieder überraschend ist.
Im Kino war ich dann trotz Pandemie auch ein paar Mal. Außer Tenet erinnere ich mich aber fast nur noch an Peninsula. Der koreanische Film setzt die zombiekalyptische Erzählung Train to Busan sehr unterhaltsam mit einer Mad-Max-artigen Reise ins Herz der Dunkelheit der zombifizierten Halbinsel fort. Nur das unendlich erscheinende „Wer darf sich am Ende für die Kinder opfern“-Spiel am Ende ist fast unerträglich kitschig und … Apropos kitschig: Wer knatschbunte Animationsfilme mag, wird Over the Moon lieben. Die chinesisch-US-Koproduktion stellt so gut wie jeden Disney-Realfilm der letzten Jahre in den Schatten, wobei aus dem namhaften Voice-Cast der fantastische Ken Jeong als Schuppentier vom Mond besonders hervorsticht.
Ganz real hat mir die Rohwedder-Doku auf Netflix die beginnende Nachwendezeit wieder ins Gedächtnis gerufen. Und die spekulative Doku Außerirdische Welten fing etwas schleppend an, aber nach Folge Vier war ich dann doch enttäuscht, das schon wieder alles vorbei war.
gelesen
Spontan verliebt habe ich mich in die Welt von The Haunting of Tram Car 015 von P. Djèlí Clark.3 Ägypten blüht auf und befreit sich von kolonialer Vorherrschaft, als Ende des 19. Jahrhunderts die Tore zur Welt der Dschinns aufgestoßen werden. 1912 untersuchen zwei Beamte des Ministeriums für Alchemie, Verzauberungen und übernatürliche Wesenheiten den Spuk in einem Straßenbahnwagen.
2020 hat Jim Butcher endlich die nächsten zwei Romane um den Chicagoer Magier Harry Dresden rausgehauen. Den Inhalt von Peace Talks stellt man sich am besten bildlich umgesetzt so vor, dass Butcher sich eine Schutzbrille aufsetzt und einen Vorschlaghammer bereitmacht. In Battle Ground holt er aus und kloppt mit dem Hammer auf der Welt von Harry Dresden rum. Sehr schmerzhaft, sehr spannend, sehr lesenswert und sehr emotional. Ein bisschen 2020 in Buchform.
Richtig gut gefallen hat mir Totes Zen von Jasper Nicolaisen. Als ich die Buchbeschreibung in Judith C. Vogts Liste über das literarische Phantastik-Jahr 2020 gelesen habe, musste ich mir den Kurzroman über den/die Barbar/in Krass sofort zulegen. Totes Zen ist ein bisschen eine Ersatzdroge für alle, die von Walter Moers neueren Zamonien-Romanen enttäuscht sind. Das Orm ist stark in diesem Buch.
Das neueste Buch von Matt Ruff musste ich natürlich sofort lesen. 88 Namen ist so etwas wie die erwachsenere, durchdachtere Version von Ready Player One. In der nahen Zukunft arbeiten Leute als Videospiel-Sherpas. Wer neu in ein Game einsteigt und nicht als Noob auffallen möchte oder schnell hochleveln will, heuert Sherpas an. Das Team von Sherpa John Chu lacht sich einen mysteriösen Klienten an, der zu viel Geld bezahlt, um ihn abzulehnen. Die meiste Action in 88 Namen findet in einem Spiel statt, das sehr stark an World of Warcraft erinnert und eine kritische Hommage an den Franchise darstellt. Die Near-Future-Welt ist nicht so abgefahren wie die in Ruffs Meisterwerken G.A.S. oder Mirage, aber eine sehr unterhaltsame Lektüre für Nerds.
gehört
Das Team der großartigen Hörspielserie Caiman Club hat das Beste aus den wegen Corona geschlossenen Tonstudios gemacht: In Caiman Crap treten die Autoren Edgar Linscheid und Stuart Kummer mit dem ganzen Sprech-Team als sie selbst auf, aber ähnlich wie in der Serie Jerks verkörpern alle fiesere Versionen ihrer selbst. Als Koksschmuggler, Belästiger, sexuell Frustrierte und Untreue wird hinter den Kulissen von Caiman Club gelogen, betrogen und sich gegenseitig tief unter der Gürtellinie fertig gemacht. Fast könnte man da auf künftige Abenteuer von Hagen von Grau verzichten. Pünktlich zum Jahreswechsel ist Jenseits der Zeit, die brandneue Vertonung von Band Drei der Trisolaris-Trilogie erschienen. Die Hörspielreihe habe ich mir auch schon runtergeladen, aber noch nicht die Zeit zum Anhören gefunden.
Die Eels haben mit Earth to Dora ein neues Album veröffentlicht und das wahrscheinlich fantastischste am schön melancholischen Gitarrenpop ist das Musikvideo zu „Are We Allright Again“ mit Jon Hamm. 2020 haben auch Zombi und Zombie Hyperdrive neue Alben herausgebracht. 2020 von Zombi war etwas unterwältigend und reicht nicht annähernd an vergangene Werke wie Spirit Animal oder Shape Shift heran. Imperium von Zombie Hyperdrive ist fluffiger Sythwave, der einen bequemen Klangteppich über die Ohrmuscheln legt. Etwas fordernder ist das bayrische Dark-Synth-Album Weida von Diaf, das den perfekten Begleitsound für Schwarze Messen im digitalen Zeitalter liefert.
gespielt
Außer diversen Rätselbüchern habe ich 2020 kaum analog spielen können. Allerdings haben ich und meine Mitspielenden festgestellt, dass Pen-and-Paper-Rollenspiele online sehr gut funktionieren können und Coriolis, Das Schwarze Auge (Erste und fünfte Edition) sowie Dungeons & Dragons gespielt. Am Spieltisch konnte ich immerhin Colt Super Express und die Catan – Jubiläums-Edition 2020 austesten. An digitalen Spielen habe ich in diesem Jahr vor allem meinen Pile of Shame angespielt und unter anderem All Walls Must Fall, Assassin’s Creed Origins4und XCOM 2 angefangen.
besucht – mit Maske und Abstand!
Besucht? 2020? Ja, ging. In der Lockdown-Zwischenphase habe ich Jahrzehnte nach meinem jeweils ersten Besuch das Aquarius Wassermuseum und das Kölner Schokoladenmuseum besichtigt. Ersteres hat vor allem ein schönes Ambiente, beim zweiten ist vor allem der Teil über die Kakaobohne in mittelamerikanischen Kulturen sehr interessant. Und tatsächlich war ich in diesem Jahr beim Phobos XI. Das Wuppertaler Dark Ambient Festival fand mit viel Abstand, Masken und in einer größeren Location als sonst statt. Ein ungewohntes aber gutes Erlebnis.
So long, 2020
Trotz tödlicher Pandemie, Politikversagen auf mehreren Ebenen, Kulturpleiten, galoppierendem Kapitalismus, weltweiter Dürre und anderer Hitzekatastrophen: Die Kultur hat 2020 einigermaßen aushaltbar gemacht. In diesem Sinne: Euch allen ein verspieltes, erlesenes, audiovisuell anregendes, Corona-negatives und nebenwirkungsfrei geimpftes Jahr 2021!
- Es sei denn, es ist das Jahr 2040+, aber dann kann mensch das hoffentlich immer noch irgendwo nachlesen. Und hoffentlich war 2020 bis dahin wirklich das schmlimmste Jahr seit langem. ↩
- Die absurderweise immer noch Genitalien verpixelt und „Fuck“ überbleept. ↩
- Ups, geschummelt. Das Buch ist schon 2019 erschienen. ↩
- Endlich das Alte Ägypten besuchen! ↩