Joker – Folie à Deux
JOKER – FOLIE À DEUX und die Geburt des Post-Sceleratismus1
Derselbe Eifer, mit dem vor fünf Jahren Joker gefeiert wurde, zeigt sich heute im Verriss der Fortsetzung. Zu Unrecht, denn Joker – Folie à Deux ist der Film, der sein Vorgänger hätte sein sollen.
Was bisher geschah
2019 wurde Joker, ein verhältnismäßig kleines Projekt über Batmans Lieblingswidersacher, zum Überraschungserfolg des Jahres. Es stimmt, Joaquin Phoenix liefert eine unfassbare Leistung als psychisch belasteter Komiker, dessen Frustration über die Welt sich in spektakulärer Gewalt entlädt. Auch der Rest des Cast ist fantastisch, genau wie der Soundtrack von Hildur Guðnadóttir.
Die Kritik war entsprechend leise, aber doch vernehmbar und berechtigt. Der Plot ist ein wässriger Aufguss alter Scorsese-Filme, der sich an den entscheidenden Stellen in Klischees verliert und den eigenen Anspruch nicht einlösen kann. Der Vorwurf, dass Joker reaktionäre Incel-Weltbilder bediene, passt zwar auf die Trailer, findet sich im Film aber nur bedingt. Trotzdem, und das ist das Schlimmste, wurde Phoenix‘ Joker zum Helden einer ganzen Bewegung zweifelhafter Personen (genauer: Männer), und man fragt sich, ob die Leute den Film über den erbärmlichen Komiker Arthur Fleck überhaupt gesehen haben. Aber das haben sie, nur haben sie ihn durch eine einseitige Interpretationsbrille betrachtet. Folie à Deux lässt ihnen hierzu keine Chance.
Wie ging es mit Arthur Fleck weiter?
Circa zwei Jahre sind vergangen, seit Fleck (Joaquin Phoenix) als Joker sechs Menschen getötet und so gewalttätige Ausschreitungen in ganz Gotham City verursacht hat. Nun vegetiert er im trostlosen Hochsicherheitstrakt von Arkham vor sich hin. Bei einem Ausflug trifft er bei der Musiktherapie die Brandstifterin Lee (Lady Gaga), von der nicht nur Batman-Fans wissen, dass es sich um die seit Jahren allgegenwärtige Figur „Harley Quinn“ handelt. Sofort verliebt, findet sich Arthur, der bekanntermaßen schon zuvor anfällig für Halluzinationen war, zunehmend in Musical-Einlagen wieder, die seinen neuen Gefühlszustand beschreiben.
Im krassen Gegensatz zu diesen Träumen steht die noch immer zynische Realität. Anstelle der dringend nötigen Therapie wird Arthur in Arkham nur Schikane und Erniedrigung zuteil. Seine Anwältin (wie immer wundervoll: Catherine Keener) drängt ihn in eine Rolle, die ihm so gar nicht entspricht, für ein Ziel, das er nicht will. Der Ankläger Harvey Dent (Harry Lawtey als Proto-Two-Face) ist offensichtlich mehr an der eigenen Karriere interessiert als an Gerechtigkeit und die Presse (verschwendet: Steve Coogan) ereifert sich darin, Arthur öffentlich zu entmenschlichen.
Angeregt von Lee und ermutigt von lautstarken Unterstützern aus der Bevölkerung, die ihn zu ihrem Idol erkoren haben, findet Arthur wieder Gefallen an seinem Alter Ego. Und als endlich sein Prozess als gewaltiges Medienereignis beginnt und ihn mit seiner Vergangenheit konfrontiert, bricht er schließlich zusammen und wird wieder zum Joker, der den Gerichtssaal zur Bühne macht.
Vorsicht Spoiler
Was folgt ist einer der schlimmsten klimatischen Einbrüche der Filmgeschichte. Gerade im entscheidenden Moment sieht sich Arthur mit den Konsequenzen seiner Handlungen konfrontiert – und gibt einfach auf. Er mag aufgrund seiner Psyche nicht völlig schuldfähig sein, aber er ist trotzdem verantwortlich. Und mit dem Joker hat er sich nur zu dem gemacht, worunter er am meisten leidet: ein weiterer narzisstischer Bully, für den andere Menschen nicht zählen. Mit seinem letzten Witz erklärt er, dass es nur Arthur gibt, keinen Joker.
Das Ende ist tragisch: Lee verlässt ihn, weil sie sich nur den Joker für ihr eigenes Ego brauchte und sich nicht weiter für den Menschen Arthur Fleck interessiert. Von seinen Fans wendet sich Arthur verschreckt ab, obwohl diese ihn nach dem Urteilsspruch befreien. Und schließlich wird er auf dem Weg in den Besuchsraum von einem Mitinsassen (Connor Storrie) getötet, der sich daraufhin die Mundwinkel zum Grinsen aufschlitzt.
Wer Arthur besuchen wollte, bleibt offen.
Es geht um Dich!
Vorab: Joker – Folie à Deux ist tatsächlich so langweilig, wie die Kritiken behaupten. Als Musical ist er nicht unterhaltsam, als Psychothriller nicht spannend und sein Rhythmus ist miserabel. Obwohl alle Darsteller grandios sind, allen voran Phoenix und Gaga, ist das Gesamtwerk endlos dröge.
Aber gerade das macht es zu so einem wichtigen und grandiosen Film.
Alan Moore, der mit The Killing Joke die Vorlage für Joker geschrieben hat, äußerte später Batman und Joker besäßen als Figuren nicht die nötige Tiefe, als dass sie eine komplexe Charakterzeichnung in einem realistischen Setting tragen könnten. Das scheint widerlegt. Schließlich ist das exakt die Prämisse des Films von 2019, der mit Lob, Preisen und einer traurigen Fan-Base belohnt wurde. Aber gerade deren Rezeption erzählt auch eine andere Geschichte.
Denn Joker ist eben nicht Taxi Driver oder King of Comedy, die er so schamlos kopiert. Es ist ein Film, der bei allem Anspruch doch der standardisierten Struktur des Hollywood-Mainstreams folgt. Der Plot entspricht der Heldenreise nach Joseph Campbell, es gibt Save-the-Cat-Szenen und weitere typischen Klischees, um die Identifikation mir Arthur zu stärken. Hinzu kommt ein Publikum, das durch einstudierte Sehgewohnheiten eine klare Rezeptionsbrille für Adaptionen von Superhelden-Comics hat. Da ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen Arthur Fleck als Helden und seine Gewaltausbrüche als gerechte Selbstermächtigung verstehen.
In Agonie des Eros beschreibt der Philosoph Byung-Chul Han eine momentane gesellschaftliche Entwicklung wie folgt. In den Beziehungen zueinander und zur Welt, geht die Idee des „Anderen“ verloren, die die Grundlage für Erotik und Liebe ist. Anstatt das Gegenüber in seiner Andersartigkeit wahrzunehmen, zu schätzen und sich dazu in Beziehung zu setzen, lädt man es mit sich selbst auf.
Das ist es, was dem Film Joker und Arthur in Folie à Deux widerfährt. Die Figur wird zur reinen Projektionsfläche der eigenen Machtphantasien und Wünsche. Lee brauchte den Joker nur, um sich selbst zu profilieren. Die Anhänger im Film benutzen Arthur als Entschuldigung für die rein destruktive Entladung ihrer Frustration. Und genauso identifizieren sich in der Realität unzählige Menschen mit einem Zerrbild der Figur des Jokers für eine simple Selbstaufwertung. Anstatt sich mit den wechselseitigen Beziehungen von Gesellschaft und psychischer Belastung auseinanderzusetzen, setzen sie den Joker als Helden und werden so, wie Arthur, Teil des Problems.
Diese Lesart verhindert Folie à Deux konsequent. Diverse Kritiker*innen haben bereits darauf hingewiesen, dass der Film eine Kritik an Joker darstellt. In dieser Interpretation steht Lee für die toxischen Fans, die sich von der Erzählung des ersten Teils haben einfangen lassen und etwas glorifizieren, das bei näherer Betrachtung hochproblematisch ist. Auch bei Lee ist es ein Film über Arthur, der ihre Besessenheit begründet. Selbst die „Joker-Treppe“ ist ein Phänomen innerhalb der Geschichte.
Die Idee der Kommentierenden Fortsetzung erinnert an Der Pate II, der seinerzeit ebenfalls von vielen als zu langweilig, überlang und konfus abgelehnt wurde. Heute hat sich das allgemeine Urteil bekanntermaßen gewandelt. Aber Folie à Deux geht noch weiter, indem eine ganze Tradition des Filmemachens kritisiert wird. Gerade in seiner Form, in der Art des Erzählens, widerspricht der Film der gefährlichen Deutung, die Joker zuteil wurde. In seiner Absage an einen erzählerischen Realismus gleicht Folie à Deux darin dem Epischen Theater von Bertolt Brecht und Erwin Piscator. Es geht nicht darum, die Zuschauenden vergessen zu machen, dass sie einen Film sehen, indem man sie emotional und affektiv fesselt. Der Trick besteht darin, das Publikum auf Distanz zu halten, auch durch Langeweile und den wiederholten Verweis darauf, dass alles nur ein Film ist. Letzteres beginnt bereits mit einem netten Looney-Tunes-Intro, aber auch durch die eingestreuten Musical-Nummern. Gerade das Musical ist ja das Film-Genre, das vielleicht am wenigsten Anspruch auf Realismus erhebt und seinen artifiziellen Charakter mit Stolz trägt. Und Folie à Deux versucht nicht einmal die Nummern in realistische Setting einzufügen, wie seinerzeit Dancer in the Dark.
Die hierfür aufschlussreiche Schlüsselszene des Films ist eine Traumsequenz Arthurs. Hier sind er und Lee die Stars in einer Version der Sonny & Cher Comedy Hour, in der seinerzeit das berühmte Pärchen seine schon längst erloschene Liebe theatralisch inszenierte. Und wie Sonny Bono sieht Arthur seine eigene Relevanz schwinden. Aber da ist noch mehr. Er erkennt den eigentlichen Kern und Sinn des Ganzen nicht mehr. Und schließlich spricht er den wichtigsten Satz des gesamten Films aus: „I don’t think we’re giving the people what they want.“
Nein, Folie à Deux gibt dem Publikum nicht, was es will. Es ist kein Film über einen brillanten, psychopathischen Superschurken. Es ist keine Anklage gegen eine Welt, von der das Individuum sich durch die Transgression befreien kann. Die Menschen sind keine Monster und keine Helden, psychische Probleme sind keine Superkraft, die, die sich „das Volk“ nennen, sind nicht automatisch im Recht. Hier wird das gesamte zeitgenössische Verständnis von US-Film infrage gestellt.
Es geht um etwas völlig anderes. Wenn Arthur erstmals in seiner Zelle gezeigt wird, ist er nackt und verletzlich. Und genau das ist der Punkt. Arthur ist kein Held und kein Superschurke, sondern ein verletzlicher, von allem entkleideter Mensch: verängstigt, unsicher, schuldbeladen, krank, traurig, mit Bedürfnissen, einsam, liebebedürftig, gut und böse, genial und dumm, charismatisch und gleichzeitig öde.
Und dieser Mensch findet sich in einer Welt, deren Institutionen, Ideologien und Strukturen sich als gänzlich inadäquat für Menschen erweisen. Weder die Psychiatrie, noch das Gericht oder die Öffentlichkeit sind in der Lage, Arthur, diesem Täter und Opfer, irgendwie gerecht zu werden. Alles ist verrückt, weil alle nur noch in den Kategorien von Helden und Schurken denken und jede Gelegenheit nutzen, sich für ein bisschen Überlegenheitsgefühl zu korrumpieren. Entsprechend bleibt das Ende des Films so wunderbar unbefriedigend. Wenn es eine Lösung gibt, dann nicht auf der Leinwand, sondern nur davor. Wie in Brechts Der Gute Mensch von Sezuan werden die unlösbaren Widersprüche dargestellt, aber nicht aufgelöst. Mit der Moral, der Paradoxie und der Lösung, muss jede*r Zuschauer*in sich selbst abmühen.
Und damit kritisiert der Film nicht nur seinen Vorgänger, sondern das gesamte Blockbusterkino, indem inzwischen keine Menschen, sondern gottgleiche Superwesen (nicht nur Superhelden, sondern beispielsweise auch der inzwischen hauptberufliche Stunt-Prahler Tom Cruise) für uns die Welt retten. Scorsese dürfte seine Freude daran haben.
Alan Moore hat vielleicht Recht. Der Joker verfügt eventuell nicht über die nötige Tiefe, um uns etwas über uns Menschen und unsere Gesellschaft zu sagen. Arthur Fleck dagegen schon.
- Es handelt sich um das schurkische Pendant zum Post-Heroismus, das ich mir hiermit als Begriffsschöpfung sichere. Tip Top! (L.B.) ↩