Kind 44 (Film)
Im Paradies gibt es keine Mörder
Das nenne ich mal eine Karriere: Gerade war der englische Schriftsteller Tom Rob Smith noch froh, überhaupt einen Verlag für sein Erstlingswerk Kind 44 gefunden zu haben, da meldete sich kein Geringerer als Ridley Scott bei ihm und lud ihn in das Londoner Büro seiner Produktionsfirma ein. Sich zwischen Requisiten aus Gladiator und Alien über die Verfilmung seines Buches zu unterhalten, fand der Sohn einer schwedischen Mutter und eines englischen Vaters schlicht surreal. Nur wenige Jahre später erscheint Kind 44 (Child 44) als Film nun auch in den deutschen Kinos. Die Regie hat Ridley Scott, der für die Produktion verantwortlich zeichnet, dann doch einem anderen überlassen: dem Schweden Daniel Espinosa, von dessen Easy Money der Großmeister so angetan war, dass auch hier wieder eine dieser Einladungen stattfand. Mr. Scott, möchte man da fragen, wann rufen Sie einen von uns mal an?
Menschenjagd auf Russisch
Über die Story von Kind 44 hatte ich mich eigentlich bereits in meiner Rezension zu der Leo Demidow-Trilogie1 ausgelassen. Dennoch hier der Plot des Films; zur Erinnerung – oder weil Verfilmungen immer die ein oder andere Änderung mit sich bringen: Wir schreiben das Jahr 1953, somit das letzte Jahr von Stalins Diktatur. Leo Demidow (Tom Hardy) ist Geheimdienstoffizier und jagt für das Ministerium für Staatssicherheit MGB Regimekritiker und andere subversive Elemente. Am liebsten erzählt er aber von der Jagd, die vor dem Standesamt endete. Dass seine Frau, Lehrerin Raisa (Noomi Rapace), es ihm damals gar nicht leicht gemacht, ihm gar einen falschen Namen genannt hatte, ist dabei eine seiner Lieblings-Anekdoten. Raisa trägt es mit Fassung. Viel anderes bleibt ihr auch gar nicht übrig. Immerhin lebt sie in einem Land zu einer Zeit, in der eine eigene Meinung zu haben, schnell mit dem Tod enden kann. Einem gefeierten Kriegshelden und unkritischen Staatsbeamten Widerworte zu geben, ist jedenfalls keine gute Idee. Leos Staatstreue gilt uneingeschränkt, bis er eines Tages zusammen mit seinem Kollegen Wassili (Joe Kinnaman) einen der Spionage verdächtigten Tierarzt jagt und auf einem abgelegenen Bauernhof stellt. Ohne nachvollziehbaren Grund exekutiert Wassili die Bauersleute und macht deren zwei Töchter somit zu Waisen. Leo, selbst ein Waisenkind, schlägt daraufhin Wassili nieder und macht ihn damit zu seinem ärgsten Feind. Dass der verhaftete Tierarzt später unter Folter mit den Namen seiner vermeintlichen Mitverschwörer auch den von Raisa nennt, spielt Wassili in die Karten. Leo soll der Denunziation nachgehen und weiß dabei sehr wohl, dass seine Vorgesetzten damit von ihm einen Loyalitätsbeweis verlangen. Doch mit der Loyalität tut er sich gerade sehr schwer. In der Nähe von Bahngleisen wurde die Leiche eines Jungen gefunden. Alles deutet auf Mord hin, doch Leo muss der Familie des Jungen mitteilen, dass es ein Unfall gewesen sei. Nein, der Junge sei nicht vollständig entkleidet, sein Körper nicht mit Messerstichen verstümmelt worden. Wer anderes behauptet, spielt mit dem Feuer, denn: Im Paradies gibt es keine Mörder.
So schön kann Paradies: Ein Drecksloch im Ural
Schwer unter Druck gesetzt, trifft Leo zwei folgenreiche Entscheidungen: Er überstellt seine Frau nicht dem MGB, und er ordnet eine vollständige Obduktion der Jungenleiche an. Eine dieser beiden Taten alleine könnte schon für seine Hinrichtung ausreichen. Doch statt seines realen Todes gibt es für ihn und Raisa nur den sozialen: Wassili, der mittlerweile Leos Job übernommen hat, verbannt die beiden nach Wualsk, eine über 1100 Kilometer östlich von Moskau gelegene finster-trostlose Industriestadt im Ural. Unterkunft finden sie in einem Drecksloch über einer Kneipe. Für Raisa bleibt ein Putzjob in einer Schule, während Leo den Gehilfen des örtlichen Miliz-Generals Nesterow (Gary Oldman) geben muss. Unter diesen schier unerträglichen Bedingungen – schlimmer geht nimmer – ist es für das Ehepaar Demidow erstmals möglich, offen miteinander zu sprechen und einen neuen Bund einzugehen. Denn: Auch hier findet sich eine Jungenleiche, ebenso verstümmelt wie das Kind in Moskau. Zusammen mit Nesterow ermitteln Leo und Raisa, wie viele weitere vermeintliche Unfälle dieser Art es in den vergangenen Jahren gegeben hat, und finden eine Spur, die nach Rostow am Don führt…
Kind 44 – ein imperialistischer Orks-Film?
Noch ist Kind 44 in Deutschland nicht angelaufen, da steht bereits fest, dass der Film in Russland niemals gezeigt werden wird. Zu sehr war man dortzulande davon entsetzt, welches Bild der Film über die Sowjetunion der Stalin-Zeit zeichnet. Wir hatten auf unserer Facebook-Seite darüber berichtet: »Stalins Sowjetunion werde in dem Film dargestellt „wie Mordor und ihre Bewohner wie dreckige, unmoralische feige Orks“«, hatte Spiegel Online die Zeitung Kultur zitiert. Nun, das mit Mordor kann ich nicht bestätigen. Mordor, wir erinnern uns, ist dank des feuerspuckenden Schicksalsberges ein Ort großer Hitze und starker Trockenheit. In Wualsk hingegen steht der Eindruck von viel Wald und viel Schlamm eher im Vordergrund. Auch kann ich in den Gesichtern der Bewohner nicht wirklich die typische Orks-Physiognomie erkennen. Aber vielleicht steckt in diesem Vorwurf gerade die Tücke der Selbsterkenntnis: Orks, so lernen wir, erkennen wir also nicht zwangsläufig an ihrem Äußeren oder ihrer doch recht überschaubaren Kommunikationskompetenz. Orks können sich offenbar gut als vermeintlich normale Menschen tarnen. Menschen, deren Schicksal es war, in der finsteren Zeit der Stalin-Tyrannei geboren worden zu sein, und die deshalb glaubten, menschliche Werte ablegen zu müssen.
Nun kann man Buch und Film tatsächlich die Geschichtsverfälschung anlasten, die Kulturminister Wladimir Medinsky vorwirft. Tom Rob Smith hatte mit Kind 44 zwei Ereignisse, die zu unterschiedlichen Zeiten stattgefunden hatten, miteinander verknüpft: Die Taten des realen Serienmörders Andrei Tschikatilo, der in den Achtzigerjahren aktiv war, hatte er in die Fünfzigerjahre verlegt. Aber so ist das mit dem westlichen Verständnis von Fiktion nun mal: Sie ist keine faktentreue Darstellung geschichtlicher Ereignisse. Die es nach unserem Verständnis sowieso nicht gibt, wird Geschichte doch immer von den Siegern geschrieben. Wie schwer es ist, schwerste Verbrechen, übelste Untaten und selbstblinde Fehleinschätzungen der eigenen Geschichte einzugestehen, wissen wir selbst und beobachten es bei anderen Nationen. So sieht sich zum Beispiel die türkische Regierung nicht imstande, den von ihren Landsleuten während des Ersten Weltkrieges begannen Völkermord an den Armeniern anzuerkennen. Ja, Stalin hat maßgeblich dazu beigetragen, die Welt vor den Nazis zu befreien. Das kann man gerne jedes Jahr wieder am 08./09.Mai feiern. Doch zeichnet Stalin aus Sicht der Ukrainer auch verantwortlich für den Holodomor, der menschengemachten Hungersnot Anfang der Dreißigerjahre, aufgrund derer Millionen Ukrainer starben. Weitere Millionen fielen seinen politischen Säuberungen zum Opfer, wurden hingerichtet, zu Zwangsarbeit verurteilt oder in Gulags deportiert. Dennoch gibt es auch heute noch Tendenzen in Russland, die Person Stalin zu glorifizieren. Aber fassen wir uns ruhig an unsere eigenen Nasen und bekennen: Wirklich verstanden, warum unsere Vorfahren einen Wahnsinnigen wie Hitler bewunderten und entweder dabei mitgemacht oder zu- beziehungsweise weggesehen haben, wie er alles jüdisches Leben vernichten wollte, haben wir trotz aller Aufklärung auch nicht wirklich. Und auch unter uns gibt es noch immer Individuen und Gruppierungen, die alles verleugnen.
Wenn nicht imperialistische Orks, was dann?
Kind 44 ist nicht nur eine historische Fiktion und ein Serienmörder-Thriller. Vor allem handelt es sich um die Geschichte einer Beziehung zwischen zwei Menschen, die unter den gegebenen Umständen lernen müssen, dass nur absolute Offenheit und gegenseitiges Vertrauen sie weiterbringt. Hauptdarsteller Tom Hardy, aber vor allem Noomi Rapace (die uns bereits als Lisbeth Salander in der schwedischen Verfilmung der Millennium-Trilogie so begeisterte) liefern hier einen absolut überzeugenden Job ab. Wenn ihr Filmgatte zu Beginn im Freundeskreis die Geschichte ihres Kennenlernens erzählt, schafft es Frau Rapace mit einem derart feinen Mimenspiel, den Eindruck einer Frau zu vermitteln, die die so oft wiedergegebene Geschichte einfach nur nicht mehr hören kann und die sich dabei auch wegen der vorgetragenen Großkotzigkeit ihres Mannes schämt. Und wenn ihre Raisa später im Film beweist, dass sie sich sehr wohl zu verteidigen weiß, setzt die schwedische Schauspielerin dies sehr schlagkräftig um.
In Prag und einer Industriestadt in der Nähe der tschechischen Hauptstadt hat das Team um Daniel Espinosa und Ridley Scott Bilder gefunden, die tatsächlich in weiten Teilen deckungsgleich mit jenen sind, die ich während der Lektüre des Buches im Kopf hatte. Einzig über einige Veränderungen in Hinblick auf den Handlungsverlauf musste ich mich schon wundern. Während ich die Modifikationen in der Biographie der Hauptfigur und damit auch der durchaus komplexen Zusammenhänge zwischen ihm und seinen Erkenntnissen bei der Fallermittlung nachvollziehen kann (auch ohne diese Komponenten kommt der Film auf satte zwei Stunden siebzehn), konnte ich den Sinn der Verlegung von Stalins Tod aus der Mitte des Buches an das Ende des Films nicht nachvollziehen. Ihrer Exekution entgehen Leo und Raisa also nicht, weil sich nach Stalins Tod all seine Schergen schlicht nicht mehr trauen, Hinrichtungen durchzuführen (Wer weiß schon, wer zukünftig das Ruder in der Hand hat und sie dafür zur Rechenschaft zieht?). Im Film ist es die Entscheidung Wassilis, der somit noch mehr Bedeutung erhält. Was in meinen Augen nicht nötig gewesen wäre, um zu verstehen, dass wir es hier mit einem ganz üblen Gesellen zu tun haben.
Alles in allem hat mir der Film Kind 44, dessen FSK 16 durchaus ernst zu nehmen ist, gut gefallen. So gut sogar, dass ich gespannt bin, ob sich das Filmteam an die beiden weiteren Teile der Trilogie, die so viel komplexer und schwieriger sind, auch noch heranwagt.
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Fischpott Disclaimer: Wir haben die deutsche Fassung des Films in einer Pressevorführung gesehen.
1 Oder auch: Demidov. Ich hatte die Bücher seinerzeit im Original gelesen, und das Englische bevorzugt das v gegenüber dem deutschen w für die Darstellung des Russischen. Dies gilt auch für Wassili im Vergleich zu Vasili.