Layers von Ursula Poznanski
Ich sehe was, was du nicht siehst
Die österreichische Meisterin des Jugendthrillers ist tatsächlich auch nur ein Mensch. Anzunehmen war dies bereits nach der Lektüre ihrer Erwachsenen-Romane rund um die Salzburger Ermittlerin Beatrice Kaspary. Im Jugendbuch-Bereich hingegen hat sie bislang derart brilliert, dass die Vermutung der übermenschlichen Genialität nahelag. Mit Layers liefert Ursula Poznanski nun ein Werk aus der Kategorie okay: nicht schlecht, aber bei Weitem nicht so mitreißend und überzeugend wie Erebos, Saeculum oder die von mir zuletzt so gelobte Verratenen-Trilogie. Also, ich finde das irgendwie beruhigend.
Dauerschicht auf der Straße
Dorian Rogner lebt auf der Straße. Seit der siebzehnjährige Ex-Gymnasiast vor seinem prügelnden Vater geflohen ist, hat er gelernt, in einer Großstadt zu überleben, ohne dabei seine eigenen Werte zu vergessen. Statt zu klauen oder zu betteln, lebt er von den Abfällen einer Luxusgesellschaft, die Nahrungsmitteln Verfallsdaten gibt und Altkleidersammlungen betreibt. Dorian möchte nicht erscheinen wie einer, der auf der Straße lebt. Am schlimmsten erlebt er aber die Untätigkeit, zu der ihn dieses Leben verdammt. Voller Neid schaut er auf seine Alterskollegen, die ihren Tag mit Schule oder Arbeit gestalten können, während er nach der Essensbeschaffung gelangweilt im Park sitzt und sich nur noch mit der Frage beschäftigt, wo er die kommende Nacht einigermaßen sicher verbringen kann. Eine dramatische Wendung tritt in sein Leben, als Dorian eines Nachts in einer U-Bahn-Station neben der Leiche eines anderen Obdachlosen aufwacht. Mit Emil hatte er sich kurz zuvor noch um seinen einzigen Besitz geprügelt: ein Taschenmesser. Nun liegt der unsympathische Kollege mit durchgeschnittenem Hals neben ihm in einer riesigen Blutlache, zwischen ihnen eben dieses Taschenmesser. Und Dorian, der desorientiert und mit rasenden Kopfschmerzen erwacht, hat nicht die geringste Ahnung, was passiert sein mag. »Es war Notwehr«, sagt ein Fremder, der plötzlich vor ihm steht und sich als Mitarbeiter einer Organisation vorstellt, die jungendliche Obdachlose von der Straße holt. Nach anfänglichem Zögern folgt Dorian dem Fremden, steigt in den fensterlosen Ladebereich eines Transporters und läuft auch dann nicht alarmiert davon, als die Fahrt vor einer Villa am Stadtrand endet und er dort mit Namen angesprochen wird, obwohl Dorian den noch gar nicht genannt hatte.
Eine Villa am Stadtrand
In der Villa, die einem Umweltaktivisten namens Bornheim gehört, erlebt Dorian in der Folge nahezu paradiesische Zustände: Er bekommt sein eigenes Zimmer, Kleidung und ausgewogene Mahlzeiten und erhält sogar das Angebot regelmäßigen Unterrichtes, unter anderem im Fach Ethik. Den Unterricht genießt Dorian besonders dann, wenn Stella, die er gleich an seinem ersten Tag kennen und lieben lernt, auch daran teilnimmt. So ist es auch Stella, die ihm die Sorge nimmt, an diesem Rundumsorglos-Paket könne vielleicht doch irgendetwas faul sein. Natürlich erfordert diese wunderbare Versorgung eine Gegenleistung. Dorian verdient sich fortan wie Stella das neue Zuhause mit dem Verteilen von weitgehend inhaltsleeren Flugzetteln und beweist hierbei seine große Bereitschaft zu Loyalität. Auf gar keinen Fall dürfe er sich mehr als zehn Meter von seinem zugewiesenen Ort entfernen, hatte man ihm gesagt. Daran hält sich Dorian selbst dann, als eine Gruppe Jugendlicher ihre überschüssigen Energien an ihm austobt. Auf Dorian ist eben Verlass. Und doch kennt auch der Loyalste seine Grenzen. Mit der Änderung seines Aufgabenbereiches ändert sich auch Dorians Linientreue. Werbegeschenke soll er fortan zu Kunden bringen. Dabei reagieren diese Beschenkten höchst unterschiedlich, von total begeistert bis zu Tode erschreckt. Als zuletzt ein Mobilfunkunternehmer das Geschenk auf gar keinen Fall annehmen, stattdessen die Polizei rufen will, bleibt Dorian nur noch die Flucht zum Treffpunkt mit seinem Fahrdienst. Der schien bislang immer genau gewusst zu haben, ob und wann eine Übergabe stattgefunden hatte – und bleibt nun dem Treffen fern. Eine missliche Situation für den höchst irritierten Dorian, der nicht die geringste Ahnung hat, wie er ohne Fahrer zurück zur Villa und damit zu seiner geliebten Stella kommen soll. Also öffnet er das Werbegeschenk und findet in dem Kästchen eine …
Wenn die Liebe nicht wär
Knapp das erste Drittel des Buches erzählt von einem Jungen, der sich so sehr nach einem neuen Zuhause, einer Normalität sehnt, dass er dabei all seine Warnsysteme ignoriert. Statt sich anderweitig Hilfe zu suchen – sei es bei Beratungsstellen, dem Jugendamt, gar der Polizei – vertraut er lieber einer dubiosen Organisation, die ihm Unterschlupf gewährt, ohne das Thema des getöteten Obdachlosen noch einmal aufzunehmen (immerhin ist hier ein Mensch gestorben). Oder Dorian selbst in dieser Hinsicht irgendeine Form der Unterstützung anzubieten (immerhin vermutet er sich als Täter). Da könnte auch der naivste Jugendliche durchaus mal stutzig reagieren. Doch zum Glück gibt es ja die Liebe, die so herrlich blind macht. Für Stella vergisst Dorian alles andere. Er sehnt sich sogar noch in die Villa zurück, als er schon längst verstanden hat, dass von dort großes Übel ausgeht. Während die ersten 140 Seiten des Buches also noch suggerieren, hier ginge es im Wesentlichen um einen jungendlichen Obdachlosen, den sein Bedürfnis nach einem sicheren Hort zu einem gefügigen Erfüllungsgehilfen macht, kommt mit dem Öffnen des Kästchens ein ganz neues, das eigentliche Thema ins Spiel. In dem Kästchen befindet sich nämlich eine Datenbrille.
Auch Layers lügen und betrügen
Diese Datenbrille ist weit mehr als eine Google Glass und liefert Dorian im Sinne der augmented reality (computergenerierte Zusatzinformationen oder virtuelle Objekte mittels Einblendung und/oder Überlagerung, jener Layers also, die dem Buch den Titel geben) erstaunliche Ansichten seiner Umwelt. Nicht nur vermittelt die Gesichtserkennung Erkenntnisse über die privatesten Hintergründe von Menschen, die ihm auf der Straße begegnen; auch markieren diese Layers zum Beispiel eine Bank als »Mörder!« oder rufen zur Meidung von Geschäften oder Arztpraxen auf. Manchmal erzeugt die Brille auch visuelle Eindrücke, die wie frisch aus einem Horrorfilm importierte Monstren erscheinen, um im nächsten Moment reale Objekte wie Autos aus dem Gesichtsfeld herauszufiltern. Über ihn selbst verraten die Layers Dorian, dass er zur Jagd freigegeben sei, und dies erlebt er auch sehr real. Zwischenzeitlich würde er diese Datenbrille am liebsten vernichten und einfach die Stadt verlassen, doch auch dafür hält die Brille den passenden Layer bereit: Sollte er einfach davonlaufen, droht seiner geliebten, nichtsahnenden Stella das baldige Ableben. Auch glaubt Dorian verstanden zu haben, dass weit mehr Menschen sterben könnten, wenn er nicht etwas gegen den großen Showdown unternimmt, für den die Brille einen Countdown liefert. Immerhin glaubt Dorian zu wissen, dass Bornheim schon mehrere Menschen, die nicht seinen ethischen Vorstellungen entsprechen wollten, auf dem Gewissen hat.
Erebos lässt grüßen
Während der Lektüre musste ich immer wieder an Nick Dunmore, die Hauptfigur aus Erebos, denken. Jenen Jungen, dessen Leitmotiv die Zugehörigkeit zu seiner Community ist und der gar nicht fassen kann, dass die anderen etwas teilen, von dem er nicht weiß, was es ist. Als er endlich Zugriff auf das Spiel bekommt, droht Nick seine Integrität zu verlieren: Er würde fast alles tun, um das nächste Level oder später den Neustart zu erreichen. Erst die Liebe zu einer Mitschülerin lässt ihn den Weg zurück zu sich selbst finden. Ebenso vergleichbar ist die Idee, eine gegenwärtige Technologie (Computerspiel / Datenbrille) innovativ zu erweitern und ihr dabei Funktionen zu gönnen, die es so (noch?) gar nicht geben kann. Beide Technologien dienen dabei als Mittel zur Manipulation. So weit so gut. Wo liegt nun das Problem? Während Nick ein Jungendlicher wie so viele andere ist – ein netter Kerl, dem es in jeder Hinsicht gut geht und der einfach nur dieses Spiel spielen möchte –, hat Dorian eine eigene, durchaus bemerkenswerte Geschichte, die in meinen Augen so gar nicht zu der Thematik der Datenbrille passen will. Diese Datenbrille würde auch einen weit abgeklärteren Erwachsenen an seine Grenzen führen, und dann bekäme die Macht der Manipulation tatsächlich weittragende Bedeutung. So aber verführt sie einen hilflosen Jungen, der ob seiner Sehnsucht nach Bezogenheit und Anerkennung extrem leicht verführbar ist. Auf seine Weise kämpft auch Dorian (ähnlich wie Nick, aber auch Saeculum Bastian und Die Verratenen Eleria) um die Aufrechterhaltung seiner Integrität – damit auch für seine Stella und für mehr oder weniger unbeteiligte Andere –, geht dabei aber selbst (fast) über Leichen. Wenn es also eigentlich um die Manipulation mittels Datenbrillen geht, dann ist für meinen Geschmack die Rahmenhandlung für diese Message eher ungünstig gewählt.
Dass Ursula Poznanski dennoch mein Interesse aufrechterhalten konnte, lag an ihren auch in diesem Buch zelebrierten Fertigkeiten als Erzählerin, die Teile streut und erst zum Schluss zu einem Ganzen zusammenfügt. Dass sie ihre Leser zu jedem Zeitpunkt x dazu bringt, das zu glauben, was sie sie glauben lassen will, ist dabei eben die große Kunst und das Handwerk einer gewieften Schriftstellerin. So wollte auch ich wenigstens die Auflösung verstehen und habe mich immerhin streckenweise gut unterhalten gefühlt.