Meine Nachbarn die Yamadas
Que sera?
Es war einmal, vor langer, langer Zeit, auf einem heimischen (halbfranzösischen) Fernsehsender, da ergatterte ich beim Umherschalten die letzten Szenen eines ungewohnt anmutenden Animationsfilms. Der japanische Ursprung war dabei schnell ausgemacht, ging es doch um die Familie ‚Yamada‘. Auch ohne dass es einen Autohersteller gleichen Namens gibt, hat man diesen Namen, in Japan so gewöhnlich wie Meier, Schmitt und Müller, schon einmal gehört. Schnell war das Konzept des Films vermittelt: Japanischer Durchschnittsfamilienalltag (daher wohl auch der Durchschnittsname) mit Vater, Mutter, zwei Kindern und Oma, keine ergebnisorientierte Storyline, sondern kleine Häppchen, aus der Mitte gegriffen. Slice-of-Life in Episodenform. 2008 wurde der Film in Deutschland auf DVD veröffentlicht, nun gibt’s die schicke Blu-ray – und hier auf Fischpott ein Review.
Der Animationsfilm aus dem Jahre 1999 basiert auf dem Manga im sogenannten yonkoma Format (pointierter, meist vierpaneliger Comicstrip) von Hisaichi Ishii und übernimmt kompromisslos dessen skizzen-, oder storyboardhaften Zeichenstil und knubbelig-cartooniges Charakterdesign. Eine Ähnlichkeit zu dem üblichen Ghiblistil lässt sich allenfalls einbilden. Am ehesten kann man den Film optisch mit Prinzessin Kaguya von Studio Ghibli in eine Schublade stecken – aber Schubladen mögen wir ja eh nicht. Oder vielleicht doch? Schubladen sind schließlich Grundlage für Satire und Karikatur. Aber Schublade ist nicht gleich Schublade. Die Yamadas überzeugen jedenfalls durch einige altbekannte Qualitäten einer stereotypisch verschrobenen Familie und wecken schnell Sym- und Empathiegefühle. Irgendwie beruhigend, dass es auf der anderen Seite des Globus (oder zweidrittel herum) ganz ähnlich abläuft im Familienalltag – oder man dort zumindest ähnliche Nachbarn hat, wenn man sich nicht gleich selbst wiederentdeckt.
Da hat man Vater Takashi Yamada. Dieser schuftet als typischer japanischer ’saririman‘ (oder ein bisschen englischer: Salaryman – vom Produkt weit entfremdeter Büroangestellter) und bekommt, schwer erschöpft von der Arbeit und vielleicht auch vom anschließenden obligatorischen After-Work-Drink mit den Vorgesetzten, von der Ehefrau eine lumpige Banane als Abendessen serviert. Vater Yamada schmollt gerne, scheint sich aber nichts sehnlicher zu wünschen, als respektiertes Familienoberhaupt zu sein. Seine Bemühungen bleiben jedoch gerne vom Rest der Mischpoke unbemerkt (großartig: Das Familienfoto im Schnee!).
Matsuko Yamada, Hausfrau und Mutter, kümmert sich lieber nur um das Nötigste, als um zu viel, zeigt jedoch ein bisschen Tiger-Mom-Ambition als Sporn in den Rippen des büffelnden Sohns. Von Mutter Yamada lernen wir: bei unangekündigtem Besuch macht man die unordentliche Wohnung ruck-zuck noch unordentlicher, am besten im großen Stil, und behauptet, man sei mitten im Frühjahrsputz. Guter Tipp! Sohn Noburo Yamada macht gerade ‚diese‘ Phase durch und versucht sich zaghaft im Dating, rebelliert gegen die Eltern (Wärt ihr doch beide gutaussehend, oder wenigstens reich!) und hat – ganz japanisch – immer viele Hausaufgaben. Die kleine Tochter Nonoko überzeugt durch Gelassenheit und Frohsinn und stört sich nicht weiter daran, nach dem Einkaufsbummel auch einmal im Kaufhaus vergessen zu werden. Zu guter Letzt ist da Shige, Großmutter Yamada (väterlicherseits). Frau Yamada sen. scheint etwas griesgrämig und weiß meistens alles besser. Damit liegt sie nicht immer richtig, aber, muss man sagen, richtiger als die anderen. Sie übernimmt liebend gerne eine Kommentatorenrolle, in welcher sie zur treibenden Kraft für viele Pointen wird. Auch wenn dies bedeutet, die Autorität des Sohns bei der Familienführung dann und wann untergraben zu müssen. Shige reflektiert außerdem gerne ein bisschen Vergänglichkeit und das Älterwerden und ist somit wichtiges, altersweises Element im Drei-Generationen-Haushalt. Ab und an erheischt der Zuseher außerdem einen Blick vom unbeeindruckt dreinschauenden Hundchen Pochi, welches in die Hundehütte im Garten ausgelagert ist. Pochi macht zwar nichts, soll aber trotzdem erwähnt werden.
Selbstverständlich bietet Meine Nachbarn die Yamadas dem nicht-japanischen Zuschauer nicht nur bekannte Familienszenen, sondern auch einen Einblick in japanische Gepflogenheiten, die uns unter Umständen etwas befremdlich erscheinen können. Da dieser Einblick jedoch nicht als interkulturell intendiert ist von der japanischen Produktion (für japanisches Publikum), wirken die Ungewöhnlichkeiten authentisch und die Reaktionen der Charaktere so natürlich, dass dem europäischen Publikum vermutlich das Wenigste als ‚wirklich abgefahren‘ auffällt. Keine Höschenautomaten (waren in dieser Form schon immer nicht mehr als eine Urban Legend), keine Shut-Ins, keine zugestellten Miniwohnungen, kein köstlich zubereiteter Wal oder Maid Cafés und sonstig Skandalöses, was uns der ein- oder andere Bericht – no racism intended – über das freakige, ferne Land der aufgehenden Sonne gerne vor den Latz knallt. Bei den Yamadas bleibt es moderat. Was hier unter Umständen für den einen deutschen Zuschauer schon ungewöhnlich sein mag, ist für den anderen normal: Die Oma beherrscht die Kunst des Sushiselbermachens, im Garten wird Ingwer angepflanzt, Vater und Mutter schlafen, wie es scheint, nicht im selben Zimmer, in Japan gibt’s delinquente Halbstarke auf Rollern und Motorrädern, die Familie Yamada sitzt gerne auf dem Boden. Abgefahren. (Wem etwas tatsächlich Freakiges aufgefallen ist: Kommentarfunktion!)
Die Pointen zu den humorigen Situationen sind dezent und subtil, gerne zynisch, aber wohlwollend. Der Humor entsteht durch die scharfe Beobachtung und detaillierte Darstellung, durch gut geschriebene Dialoge und häufig durch Sprachlosigkeit. Auf Kalauer, Erklärbären, Ekelwitze und sonstige simple Komödienbausteine wird verzichtet. Fremdscham gibt es, aber in harmloser Form – beispielsweise wenn Mutter Yamada Vater Yamada bei einer Hochzeit mit dem Einkaufszettel anstatt mit den nötigen Notizen zum Rednerpult schickt. Das Ergebnis ist eine angespannte, stirnverrunzelte, aber hervorragend improvisierte Impulsrede, über familiären Zusammenhalt, selbst bei schweren Patzern, Verrat und Betrug – bei ständigem Blickkontakt mit der schuldbewussten Ehefrau.
Auffällig ist, dass Tragik und Boshaftigkeit, beides Elemente, die in Familienporträts bekanntlich durchaus ihren Platz haben können, außen vor gelassen werden. Den Yamadas geht’s gut und letztlich haben sich alle lieb. Der Film taugt also als herzerwärmender ‚Feel-Good-Streifen‘, ganz ohne Kitsch und Schmalz. Abgerundet werden die Episoden durch den Einsatz teils zynisch-nüchtern, teils liebevoll wirkender Haikus, welche in ruhigen Momenten kalligraphisch über den Bildschirm laufen. (Wenn es sich dabei nicht um Haikus handelt – ich habe vom Silbenzählen abgesehen – Kommentarfunktion!). Die hervorragende Musik (inklusive eines Familienständchens eines eingejapanischten ‚Que seras‘) von Joe Hisaishi (abgesehen von ‚Que sera‘), Hauskomponist bei Studio Ghibli, untermalt die Handlungen sehr stimmungsvoll und hilft, die Einzelbilder zusammenzukleben. Die Yamadas sind eine liebenswerte, lebendige Karikatur, bei der die subtil parodierten Stereotypen über ihre Rollen hinaus Individualität entwickeln. Außerdem sagt ja niemand, dass Stereotypen nicht wirklich existieren können. Lieschen Müller und Otto Normal stehen mit Sicherheit im Telefonbuch (gibt es noch Telefonbücher?).
Als ich also in grauer Vorzeit die letzten Minuten im TV sah, wusste ich gleich, dass ich hätte früher einschalten sollen. Erst ein paar Jahre später konnte ich eine englisch untertitelte Version (Details sind heute vernebelt im Gedächtnisschwund) zur Gänze schauen und war sehr angetan. Nun, wiederum Jahre später, sehe ich den Film erneut, auf schicker Blu-ray in HD, deutsch untertitelt (Synchro-Option ist natürlich ebenfalls vorhanden, keine Sorge!) und stelle fest: Der Charme ist auch nach mehrmaligem Schauen nach wie vor vorhanden. Doch heute betrachte ich das ein oder andere Mini-Tableau ein wenig anders. Bin ich älter geworden? Sprechen mich nun andere Themen an? Identifiziere ich mich nun, anstatt mit dem Teenager-Sohn (oder der Grundschüler-Tochter) mit der Mutter? Und wann wird meine Hauptidentifikationsfläche verschoben zur Oma?! Haufenweise Fragen, die sich mir im Nachhinein stellen. Ohne dass es sinnvolle Antworten darauf geben würde (wer eine weiß, kann gerne die Kommentarfunktion nutzen), zeigt mir dies dennoch, wie spielend leicht man sich in den lebendigen Charakteren wiederfindet, trotz erwähntem Skizzenstil, trotz ein paar milden kulturellen Unterschiedlichkeiten. Letztlich brauchen wir nicht viele optische Details, um lebendige Charaktere zu sehen. Wir brauchen nicht einmal einen stringenten Stil; die eine Mini-Episode kommt nahezu hintergrundlos daher, mit Autos und Häusern gezeichnet auf Kritzelniveau, eine andere weist beinahe das Detailreichtum von Gerichtsskizzen auf, dynamisch animiert, mit lebensnahen Bewegungsabläufen. Da sollte für jeden was dabei sein. Die unterschiedlich detaillierten Stile passen dennoch gut zusammen und verstärken den Fokus auf das jeweils Wesentliche.
Wer Ghiblifilme mag greift sicherlich sowieso zu, aber insbesondere Animationsmuffel sollten den Yamadas eine Chance geben. Animationsfans hingegen, für die alles unter Attack on Titan-Digital-Animationsniveau zu minimalistisch erscheint, sollten sich nicht vom schmucklosen Zeichenstil abschrecken lassen und einen Blick riskieren. Lediglich der archetypische Actionfan, welcher/welche verheerende Explosionen, spätestens zu Filmende und/oder klassischen Verwechslungshumor erwartet, mag unter Umständen nicht ganz auf seine/ihre Kosten kommen.
Gereviewt wurde die japanische OV mit deutschen UT.
Studio Ghibli Collection Blu-ray Version, ungeschnitten, FSK 6, 70 Minuten Bonusmaterial (u.a. Originaltrailer und Promofilme, komplette Storyboards) inklusive drei Postkarten (Erstauflage). Ton: DTS-HD Master Audio 5.1, Deutsch und Japanisch, Untertitel deutsch.
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Universum Film.
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