Menschenjagd auf Russisch
»Child 44«, »The Secret Speech« und »Agent 6« von Tom Rob Smith
Er ist ein begnadeter Jäger. Nur besteht seine Beute nicht aus Wild. Leo Stepanovich Demidov jagt Menschen. Vermeintliche Verräter, denn Verrat ist die einzige Straftat, die die Sowjetunion der frühen Fünfzigerjahre kennt. Die Schwere des Vorwurfes entscheidet, ob der Beklagte im Gulag dahinvegetiert oder direkt exekutiert wird. Gnade kennt das System nicht.
Leo handelt im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit MGB, heute besser bekannt als KGB. Damit ist er ein Gefolgsmann Stalins. Dessen Gewaltherrschaft bildet den Ausgangspunkt für die Trilogie des britischen Autors Tom Rob Smith. In allen drei Bänden kommt Tom Rob Smith immer wieder auf diese Schreckenszeit zurück. Zu sehr hat der Tyrann über seinen Tod hinaus das Leben seiner Landsleute verseucht. Dabei ist Tom Rob Smiths Hauptfigur anfänglich ein höchst getreuer Agent für die Sache. Ein Polizist durch und durch, allerdings mit der gewissen Neigung, offensichtliche Kapitalverbrechen nicht für Unfälle erklären zu wollen. Die Devise lautet aber, dass Mord, Diebstahl und Vergewaltigung Auswüchse des Kapitalismus seien, im kommunistischen System also nicht vorkommen können. Leo wäre dennoch gerne ein Kriminalist, ein Ermittler in Sachen Mord und Totschlag. Aber dieser Wunsch bleibt Leo verwehrt.
Child 44 – Kind 44
Der erste Roman beginnt mit einem solchen Mord. Ein totes Kind wird aufs Übelste zugerichtet an Bahngleisen aufgefunden. Arkady heißt der Junge, und was zu diesem Zeitpunkt noch keiner ahnt: Er ist das vierundvierzigste Opfer eines Serienmörders, der in der ganzen Sowjetunion sein Unwesen treibt. Tom Rob Smith hat sich hier an der Geschichte des Serienmörders Andrei Tschikatilo orientiert, der in der Sowjetunion der Achtzigerjahre für mehr als fünfzig Morde an Kindern verantwortlich zeichnete. Der »Ripper von Rostow« stand schon für eine ganze Reihe von Kulturprodukten Modell, so für den Film »Citizen X« und einen Song der Metal-Band Slayer. Tom Rob Smith verlegt die Handlung in die Fünfzigerjahre, weil »der Druck auf unseren Helden an diesem Punkt der sowjetischen Geschichte viel größer gewesen wäre. Unter Stalin war das System am extremsten. Leos Leben und das seiner Familie würden auf dem Spiel stehen, wenn er sich gegen die offizielle Linie stellen würde«, so der Autor auf seiner deutschen Website.
Tatsächlich handelt »Child 44« vielmehr von dem Leben des Leo Demidov denn von dem des Serienmörders. Zentral erscheint der Konflikt mit seinem Kollegen Vasili und der daraus resultierenden lebensbedrohlichen Situation für Leo und seine Ehefrau, der Lehrerin Raisa. Leo ist sich durchaus bewusst, dass ihr gemeinsames Leben auf seinen Geheimnissen und damit auch auf Lügen aufbaut. Wie weitgehend diese Lügen aber sind, erfährt er erst, als er Vasili bei einer Menschenjagd in die Quere kommt. Der Flüchtende ist kein Verräter, zu der Erkenntnis gelangt Leo und stellt sich schützend vor den Mann. Doch Vasili exekutiert den Familienvater und dessen Frau. In der Folge sorgt er gar dafür, dass Leo seine eigene Frau wegen ihrer vermeintlich staatsfeindlichen Aktivitäten beschatten soll. Daraus ergibt sich für Leo ein Dilemma: Als ihr Ehemann wird er in jedem Fall mit verdächtigt, selbst wenn er Raisas Unschuld beweisen könnte. Und dem System reicht der alleinige Verdacht für Verurteilungen aus. Zum ersten Mal spricht Leo offen mit Raisa. Ihm ist bewusst, dass sie keine Chance haben. Aber wenn sie doch irgendwie überleben wollen, ist es nun an der Zeit, die Karten offen auf den Tisch zu legen. In dem Zusammenhang erzählen sie sich ihre gemeinsame Geschichte, doch unterschiedlicher könnten ihre Versionen kaum sein. Sieht Leo nur die Liebe eines geteilten Lebens, spricht Raisa von Angst, Terror und Schrecken, die von ihm ausgehen. Doch für verletzte Gefühle fehlt die Zeit: Unweigerlich sind die beiden aneinander gebunden.
Es ist Stalins Tod, der ihnen ein weiteres Leben beschert: In der Phase der Neuorientierung wagt kein Staatsdiener, eine Exekution anzuordnen. Stattdessen werden die beiden in den Osten verbannt und müssen unter widrigsten Umständen zurechtkommen. Vor Ort stößt Leo auf ein weiteres totes Kind, die Umstände sehr ähnlich denen des Falls Arkady. Entgegen aller Vorschriften nutzt Leo nun die Chance, seine Qualitäten als Kriminalist zu beweisen. Dabei findet er Unterstützung in einem Polizisten vor Ort, mit dessen Hilfe er eine Reihe von Morden aufdeckt, die weit zurückführen in die Vergangenheit, die auch die seine ist.
The Secret Speech – Kolyma
Während »Child 44« eine Art Happy End aufweist, ergeben sich im Folgeband die Probleme dieser vermeintlich glücklichen Umstände: Die Leitung des einzigen Morddezernats der Sowjetunion erweist sich für Leo als Mogelpackung. Auch gestaltet sich das Zusammenleben mit zwei adoptierten Mädchen als äußerst schwierig. Es sind die beiden Töchter des Mannes, den Leo einst jagte und dann nicht vor Vasili retten konnte. Zoya, die ältere der beiden, hat dies nicht vergessen. Jede Nacht wieder steht sie mit gezücktem Messer vor dem schlafenden Leo und schafft es doch nicht, ihn zu töten. Als Leo sie eines Tages ertappt, bricht er sein Versprechen, immer offen mit seiner Frau über alle Belange ihres gemeinsamen Lebens zu sprechen. So bleiben für Raisa die Umstände weitgehend unklar, als Zoya in der Folge verschwindet, schließlich Entführer auf den Plan treten und die Familie erpressen.
Einzig für Leo wird schnell deutlich, was es mit der Forderung der Entführerin namens Fraera auf sich hat. Leo schickte sie und ihren Mann einst in die Hölle des Gulags. Fraera selbst wurde nun aufgrund der geheimen Rede des Stalin-Nachfolgers Chruschtschow aus ihrem Arbeitslager entlassen und schwört Rache. Aus der einst naiven und liebenden Ehefrau ist eine harte Gang-Anführerin geworden. Von Leo fordert sie, ihren Mann aus dem Kolyma-Gulag im Nordosten Sibiriens zu befreien, will er jemals seine Tochter lebend wiedersehen. Einmal mehr entsetzt über die Konsequenzen seines ehemalig so staatsgetreuen Handelns geht Leo auf die Forderung ein. Er sucht Unterstützung bei einem ehemaligen Kollegen, ihn in das Straflager hinein- und letztlich zusammen mit dem Gefangenen wieder hinauszubringen – eine »mission impossible«.
Wie bei seinem Erstling bezieht sich Tom Rob Smith auch bei »The Secret Speech« auf historische Zusammenhänge. Chruschtschows Geheimrede (Archivlink) beim 20. Parteitag der KPdSU sollte mit den Untaten des Stalin-Regimes aufräumen und einen Wandel in der Geschichte der Sowjetunion darstellen. Selbstredend ohne dabei die kommunistische Ideologie in Frage zu stellen. Es folgten Aufstände in Polen und Ungarn, die von der Roten Armee blutig niedergeschlagen wurden. Beim Ungarischen Volksaufstand im November 1956 kamen tausende Menschen ums Leben, mehr als sechzigtausend wurden verhaftet. Schauprozesse, Deportationen und Todesurteile ließen den möglichen politischen Wandel auf drastische Weise schnell wieder vergessen. Deshalb liegt es nahe, dass auch Fraera mit ihrer Gang, zu der nun auch Zoya gehört, dem Ruf der Aufstände folgt und nach Ungarn geht. Leo, der seinem Tod im Gulag nur knapp entgehen kann, folgt ihnen zusammen mit Raisa, um seine Tochter zu finden und sie vor sich selbst zu retten.
Agent 6
Auch mit dem letzten Band der Leo Demidov-Trilogie bezieht sich Tom Rob Smith auf vergangene Ereignisse: als Leo noch staatsergeben anderer Leute Wohnungen durchsuchte und es ganz besonders auf Tagebücher abgesehen hatte. Weil Tagebücher dazu da sind, geheime Gedanken festzuhalten. Und weil ein allzu sachlich formuliertes Exemplar, das zudem auch noch offen herumliegt, den deutlichen Hinweis auf ein verstecktes Exemplar darstellt und damit als besonderes Indiz für Verrat bewertet werden kann.
Fünfzehn Jahre später entdeckt Leo das Tagebuch seiner jüngeren Tochter Elena und besiegt sein Bedürfnis, es zu lesen. Später wird er diese Entscheidung schwer bereuen, aber Leo hat seine Polizisten-Karriere lange hinter sich gelassen. Mitte der sechziger Jahre arbeitet er in einer Fabrik und lebt nur für seine Familie. Und die startet in eine besondere Mission: Raisa, Zoya und Elena reisen zum ersten Mal in ihrem Leben in den kapitalistischen Westen. Nach New York geht es zu einer Veranstaltung der UN, bei der Jugendchöre aus aller Welt zusammenkommen. Für Elena aber geht es auch nach New York, um dort einen schwarzen Folkmusiker zu treffen, der maßgeblich an der Bekanntschaft ihrer Eltern beteiligt war. Jesse Austin heißt der Musiker bei Tom Rob Smith und bezieht sich auf das reale Vorbild, den Sänger, Schauspieler, Autor und Bürgerrechtler Paul Robeson, der als ein Wegbereiter der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen gilt. Wie Paul Robeson reiste auch Jesse Austin einst in die Sowjetunion und zeigte sich begeistert von deren Verbot jeder rassistischen Diskriminierung.
Für sein öffentliches Bekenntnis zum Kommunismus wird Jesse Austin von den amerikanischen Behörden kaltgestellt. Keine seiner Platten wird mehr gespielt, geschweige denn verkauft, kein Auftritt mehr gestattet. Einzig in der Sowjetunion wird er noch viele Jahre nach seinem Besuch verehrt. So auch von Elena, die sich von ihrem Geliebten, einem Funktionär der Reise, dazu überreden lässt, Jesse Austin heimlich aufzusuchen. Der Musiker soll zu den United Nations kommen und dort eine seiner ehemals so beeindruckenden Reden halten. Beflügelt von ihrer jugendlichen Begeisterung lässt er sich überzeugen und löst damit Ereignisse aus, die Leo den Rest seines Lebens verfolgen werden und sein unbezwingbares Bedürfnis nach Rache auslösen, das über lange Jahre ungestillt bleibt. Keine Chance für den ehemaligen Geheimdienstler in den USA nach »Agent 6« zu suchen, den er verantwortlich macht für die tragischen Ereignisse. Erst ist es seine familiäre Verantwortung, die Leo zurückhält. Als er diese als erfüllt anerkennt, wird er bei dem Versuch, die Grenze nach Finnland illegal zu überschreiten, festgenommen und dazu verurteilt, als Berater für die afghanische Regierung zu fungieren. Weil dies ein Job ist, den bislang noch keiner überlebt hat.
Ein Großteil des Buches findet dann im Afghanistan Anfang der achtziger Jahre statt und zeigt einen völlig entrückten Leo. Opiumsüchtig und zerfressen von nicht enden wollender Trauer wird er durch eine seiner Schülerinnen, der begeisterten Sozialistin Nara, in die kriegerischen Handlungen zwischen den sowjetischen Streitkräften und den Mudschaheddin einbezogen, denen er trotz seiner Funktion bislang zu entgehen wusste. Letztlich sind es diese Ereignisse, die Leo nach so vielen Jahren die Möglichkeit geben, in den USA Asyl zu erhalten. Nur dass sein Ziel nie ein Leben im kapitalistischen Überfluss war, sondern rein seinen Ermittlungen in Sachen »Agent 6« dienen sollte.
Der bedeutungsvolle Stil
Tom Rob Smith hat es geschafft, jene Art von historisch-fiktionalem Romanen zu schaffen, die seine Leser hautnah spüren lassen, was einst Lebensrealität von Millionen von Menschen war: die Gefangenschaft in einem System, das menschenverachtend paranoid war. Gibt »Child 44« ob seiner Serienmörder-Geschichte der Erzählung eine leichtere Rezipierbarkeit – sind wir nicht alle mit den großen Profilern der Welt per Du? -, greifen die beiden Folgebände nicht auf derart bekannte Muster des Thrillergenres zurück. Das Bedürfnis des Autors, in »The Secret Speech« so nah wie möglich an den historischen Ereignissen zu bleiben und in »Agent 6« die jahrzehnteübergreifende Suche nach Rache mit den historischen Gegebenheiten in Afghanistan zu verbinden, machen die beiden Romane erheblich schwergängiger. Und doch bleibt Tom Rob Smith einem Prinzip immer treu: Er erlaubt tiefgehende Einblicke in ein Leben unter dem Einfluss von Angst, Terror und totaler Unfreiheit. Dabei ist sein Verständnis für die krude Logik eines höchst paranoiden Systems erschreckend. Ein Beispiel hierfür aus dem letzten Band:
Leo versucht, seinem Schüler Grigori zu erklären, was als Verrat zu gelten hat. Hierfür zitiert er seinen ersten Fall, bei dem er ein Tagebuch zu bewerten hatte und nichts Verdächtiges finden konnte. Sein damaliger Mentor aber habe einen Eintrag markiert: »December 6th, 1936. Last night Stalin’s new constitution was adopted. I fell the same way as the rest of the country, i.e., absolute, infinite delight.« Unzufrieden damit, dass der Autor hier mehr die Gefühle vom Rest der Nation zum Ausdruck gebracht hatte denn seine eigenen, kam es zu einem Verhör. Dabei befragte er den Verdächtigen zu seiner aktuellen Situation: »How do you feel right now?« »I have nothing done wrong.« »But my question is: how do you feel?« »I feel apprehensive.« »Of course you do. That is perfectly natural. But note that you did not say: ‚I feel the same as anyone would in my circumstances, i.e., apprehension.’« Der Mann wurde zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt.
BK