Nullsummenspiel von S.L. Huang
Ein Nullsummenspiel ist per Definition die Art von Spiel, bei dem der Sieg des Einen verrechnet mit dem Verlust des Anderen in Summe null ergibt. Im einfachsten Sinne heißt dies: Einer gewinnt gerade so viel wie der andere verliert. Wie zum Beispiel bei einer Wette. Im Nullsummenspiel von S.L. Huang jedoch gibt es mehr als zwei Spieler. Auch solche, die gar nicht wissen, dass sie mitspielen. Und gerade die sind es, die zu guter Letzt als einzige dazugewinnen. In der Höhe, in der alle anderen verlieren? Ich weiß es nicht. Ich bin aber auch kein Mathegenie wie Hauptfigur Cas Russell.
Berufsbezeichnung Wiederbeschafferin
Cas Russell ist nicht nur ein Mathegenie. Vor allem ist sie eine genauso erfolgreiche wie skrupellose Wiederbeschafferin. Was genau sie normalerweise so alles wiederbeschafft, bleibt unerzählt. Im Nullsummenspiel, dem Debütroman von Stuntfrau und Waffenexpertin mit MIT-Abschluss S. L. Huang, ist es eine junge Frau. Courtney Polk hat als Schmugglerin für ein Drogenkartell gearbeitet und ist dabei in Ungnade gefallen. Und weil sie von der Polizei zudem auch noch als Mörderin gesucht wird, engagiert sie nach ihrer Befreiung aus den Fängen des Kartells nun wiederum Cas Russell, ihr das Leben wiederzubeschaffen. Irgendwo im Ausland untertauchen, so wie es Auftraggeberin Dawne Polk für ihre Schwester vorgesehen hat, will Courtney jedenfalls nicht.
Dass an diesen Aufträgen irgendwas faul sein muss, wird Cas Russell erst klar, als der einzige Mensch, dem sie vertraut, sie darauf aufmerksam macht. Er habe ihr diesen Job entgegen Dawne Polks Angabe gar nicht vermittelt, erfährt sie von Rio. Auch macht Rio ihr deutlich, dass sie sich irrational verhält. Statt das Offensichtliche näher zu betrachten, beharrt Russell nämlich auf ihr vermeintliches Bauchgefühl. Und das sagt, dass ihre Auftraggeberin eine nette, liebende Schwester sei und Courtney ein naives Mädchen, das eigentlich nur spielen will. Dabei steht Dawne Polk einer dubiosen Organisation vor – oder ist zumindest eine wesentliche Vertreterin. Auch das bleibt unklar.
Mathe schützt vor Gedankenkontrolle nicht
Über diese Organisation weiß Rio jedenfalls weit mehr, als er Russell erzählen will. Die muss selbst herausfinden, dass diese Organisation mittels Gedankenkontrolle die Machtverhältnisse weltweit neu sortieren will. Längst steht Russell unter deren Einfluss, will es nur nicht wahrhaben. Mit allen Kräften wehrt sie sich dagegen, doch Mathe schützt vor Gedankenkontrolle nicht. Dabei spielt sie für die Organisation gar keine große Rolle. Auf Rio hingegen hat Dawne Polk es abgesehen. Denn der ist bislang der einzige Mensch, der sich ihrer Kontrolle entziehen kann. Dass das etwas mit seiner ausgeprägten soziopathischen Störung zu tun haben könnte, muss Dawne Polk aber erst noch genaustens untersuchen.
Nun habe ich schon mehrfach den Begriff Mathe benutzt, ohne deutlich zu machen, was der in diesem Zusammenhang für eine Bedeutung hat. Cas Russell ist ein Mensch, der schon im Alltäglichen ständig und überall Gleichungen, Vektoren und Formeln sieht und berechnet. Im Beruflichen bietet ihr dies kaum schlagbare Vorteile. Denn sie sieht die Gleichungen, Vektoren und Formeln nicht nur – sie weiß diese auch augenblicklich umzusetzen. In welchem Winkel und mit welcher Wucht muss sie ihrem Gegenüber ins Gesicht schlagen, damit der zu Boden geht? Wie wird sich die Flugbahn eines Gegenstandes genau entwickeln, sodass er einen Gegner tödlich am Kopf trifft? Im Zweifel schießt sie auf Basis ihres Genies also mit absoluter Treffsicherheit und dies meist auch noch schneller als ihr eigener Schatten.
Mathe hilft auch bei Selbsteinschätzung nicht
In der Welt der wandelnden Rechenmaschine dreht sich aber nicht alles nur um Zahlen. Ihr Selbstbild spricht von einer rationalen Frau, die auf Basis von Zahlen und Fakten handelt. Ein Nerd, der keine Freunde hat und diese auch nicht braucht. Tatsächlich aber reagiert sie ständig hochemotional. Wobei sie im Wesentlichen die Grundemotionen Wut und Ärger bedient. Und da sie auch noch eine extrem geringe Frustrationstoleranz hat, zu der sich eine extrem hohe Gewaltbereitschaft gesellt, komme ich auf die Idee, auch sie als ausgemachte Soziopathin zu beschreiben. Wie auch immer: Es ist kein Wunder, dass sie und Rio sich so gut verstehen. Im Gegensatz zu ihr foltert er seine Opfer zwar gerne vorher, aber davon abgesehen … ein Traumpaar!
Für die Geschichte rund um die Organisation, die per Gedankenkontrolle die Welt verändern will, spielt die mathematische Kompetenz der Hauptfigur in meinem Verständnis aber nur bedingt eine Rolle. Sicher, da ist die Sache mit dem Nullsummenspiel. Irgendwann stößt Cas auf einen USB-Stick, auf dem Unmengen an Zahlenkolonnen gespeichert sind. Das Mathegenie entdeckt den Sinn dieser Zahlen und damit auch die Schwachstelle der Organisation, gegen die sie kämpft. Doch wenn sie diese Schwachstelle ausnutzt und einen entscheidenden Schlag gegen die eine Organisation fährt, werden andere Organisationen, deren Ziele nicht minder übel sind, davon profitieren. Was dieser Schlag zudem mit ihr selbst macht und dem Team, das sich im Laufe der Geschichte um sie bildet, steckt in dieser Rechnung noch gar nicht drin.
Fazit
Vielleicht ist Nullsummenspiel zwar der Debütroman von S.L. Huang, nicht aber das erste Buch mit der Hauptfigur Cas Russell. Das würde erklären, warum ich beim Lesen immer wieder das Gefühl hatte, dass Aspekte der Hauptfigur bereits an anderer Stelle erzählt und hier wieder aufgenommen wurden. Wer weiß, vielleicht hat die Autorin bereits eine ganze Serie geschrieben. Das würde mich nicht wundern, gehe ich nämlich davon aus, dass Frau Huang ihre Hauptfigur ganz schön toll findet.
In dieser Geschichte jedenfalls gibt es nur wenige Szenen, in denen die mathematische Kompetenz eine wesentliche Rolle spielt. Und von denen ist nur eine tatsächlich lehrreich für solch Mathe-Doofis wie mich. Um ein Gespräch besser belauschen zu können, organisiert Russell Gegenstände in ihrer Umgebung neu. Das sorgt dafür, dass sich der Schall »im Zentrum einer architektonischen Ellipse oder Parabel bündeln und verstärken« kann. Daran sollte man fortan immer denken, wenn man mit jemandem über andere lästert und hofft, die könnten einen nicht hören. Alles andere ist entweder ganz heftig auf die Kacke gehauen. Oder dient nur den unzähligen Gewaltmomenten, in denen die Hauptfigur nahezu wahllos tötet oder schwer verletzt. Aber diese Momente könnten auch Teile einer ganz anderen Geschichte sein.
Fischpott Disclaimer: Wir haben ein Rezensionsexemplar vom Heyne Verlag erhalten.