Rebel Ridge
Über versteckte Perlen, den Untergang des klassischen Filmmodells und den Fluch und Segen unserer modernen Streaming-Realität.
Ein Mann auf der Durchreise. Eine Kleinstadt in Amerika. Ein tyrannischer, willkürlich handelnder Polizeiapparat, der diesem Mann das Leben schwer macht. Aber sie haben einen kapitalen Fehler gemacht. Sie wissen nicht, wer dieser Mann tatsächlich ist. Sein Name ist John Rambo…oh. Halt, falscher Film.
Ein Mann auf der Durchreise. Eine Kleinstadt in Amerika. Ein tyrannischer, willkürlich handelnder Polizeiapparat, der diesem Mann das Leben schwer macht. Aber sie haben einen kapitalen Fehler gemacht. Sie wissen nicht, wer dieser Mann tatsächlich ist. Sein Name ist Terry Richmond.
Man verzeihe mir den zynischen Einstiegsgag. Trotz der oberflächlichen Ähnlichkeit mit dem Sylvester Stallone-Actiondrama ist Rebel Ridge alles andere als eine bloße Rambo-Kopie. Doch eines hat Rebel Ridge, dem neuen Netflix-produzierten Thriller, mit diesem seminalen Klassiker gemeinsam: er ist simples und doch hochgradig effektives Spannungskino, von dem wir in den heutigen Franchise-Zeiten viel zu wenig bekommen.
Rambo auf dem Rennrad
Wir treffen Terry Richmond (Aaron Pierre) auf einem Fahrrad, ein großer Rucksack auf dem Rücken, laute Metalmusik auf den Ohren. Er hört den Streifenwagen hinter ihm nicht, der ihn wie aus dem Nichts rammt und von seinem Fahrrad schleudert. Der Beamte steigt aus, bedroht ihn mit einer Waffe, aber Richmond bleibt ruhig, kooperativ, versucht zu deeskalieren, selbst als ein zweiter Beamter androht, ihn zu tasern. Sie durchsuchen seinen Rucksack, finden 10.000 Dollar in Bar. Terry, in Handschellen, kann genau erklären, woher das Geld kommt, trotzdem beschlagnahmen die Beamten das Geld. Verdacht: Drogengeld. Das Problem: Terry braucht dieses Geld dringend, um seinen Cousin aus der Haft freizukaufen, bevor er ins Gefängnis transportiert wird. Doch seine Versuche, die 10.000 Dollar wiederzubekommen treffen auf Widerstand und sogar aktive Bedrohungen von Chief Sandy Burnne (Don Johnson). Das Geld ist weg. Verschwinde! Diese Polizisten machen das nicht zum ersten Mal, haben das amerikanische Recht auf ihrer Seite, werden von oben gedeckt. Dumm nur, dass Terry Richmond nicht einfach irgendein hilfloser Bürger ist. Und dass er nicht vorhat, einfach klein beizugeben.
Rebel Ridge tauchte recht unvermittelt auf dem Streaming-Dienst Netflix auf und so könnte vielen Zuschauern verborgen bleiben, dass dahinter tatsächlich einer der fähigsten Erzähler des modernen Thriller-Kinos steckt: Jeremy Saulnier. Der amerikanische Regisseur machte 2014 mit seinem intelligenten Rachefilm Blue Ruin auf sich aufmerksam, bevor er mit dem düsteren, unerträglich spannenden Green Room an die Spitze der Liebhaber des gepflegten Mitternachtskinos katapultierte. Der Mann versteht es, hart an der Spannungsschraube zu drehen und setzt auf atmosphärische Eskalationen seiner im Kern simplen Plots. Nach dem eher zwiespältig aufgenommenen, für Netflix produzierten Wolfsnächte wurde es lange Zeit ruhig um Saulnier. Tatsächlich hatte ich nicht mal mitgekriegt, dass Saulnier einen neuen Film rausbringt, bis die Benachrichtigung zufällig in meiner Netflix-Abo-Box aufploppte.
Gebt Aaron Pierre bitte alle Filmrollen
Und was für ein Film das ist. Rebel Ridge ist weit von der ultrabrutalen Gnadenlosigkeit seiner Vorgängerfilme entfernt. Tatsächlich fließt in dem Film nur wenig Blut. Doch sein Talent für spannungsgeladene Eskalation hat Jeremy Saulnier nicht verloren. Vielmehr würzt er sie hier mit einem neuen Element: Coolness. Und das hat er vor allem seinem herausragenden Hauptdarsteller zu verdanken. Dass Rebel Ridge so gut funktioniert und so fesselnd anzusehen ist, liegt zum Großteil an Aaron Pierre. Seine stoische Performance birgt eine unterschwellige Bedrohlichkeit, die früh in diesem Film deutlich wird. Sein Charakter Terry Richmond verliert selten die Fassung, bleibt gelassen, versucht zu deeskalieren, wo er nur kann. Aber er lässt sich nicht herumschubsen. In den Momenten der Konfrontation zwischen ihm uns Don Johnsons Antagonisten knistert die Luft und beide Schauspieler spielen großartig gegeneinander auf. Allein basierend auf seiner Leistung in diesem Film verdient es Aaron Pierre, ein Filmstar zu werden. Die Sequenz, in der er auf einen Polizisten zustürmt und dabei die Patronen aus seiner Shotgun herauspumpt, ist jetzt schon ikonisch. Ganz zu schweigen von seinem finalen Telefonat mit Don Johnson, das, da bin ich mir sicher, in einem Kinosaal zu Zwischenapplaus geführt hätte.
Auch wenn der Plot Kleinstadtpolizei gegen Ein-Mann-Armee, wie eingangs erwähnt, sehr an Rambo erinnert (die späteren Rambo-Sequels lassen gerne mal vergessen, wie reduziert und intelligent der erste Film damals war), hat Rebel Ridge einen Handlungsüberbau, der ihn einzigartig macht. Denn das Beschlagnahmen von Terrys Geld, einfach auf der Basis eines unbegründeten Verdachts (die Tatsache, dass Terry afroamerikanisch ist und die weißen, muskulösen Polizisten sofort davon ausgehen, dass das Geld etwas mit Drogendelikten zu tun haben muss, spricht Bände) hat in Amerika tatsächlich eine legale Basis. Als Zuschauer sieht man diese himmelschreiende Ungerechtigkeit und ist sofort auf der Seite der Hauptfigur, denn auch wenn Terry ruhig bleibt – gelassen oder gelangweilt ist er keinesfalls. Für ihn geht es um Leben oder Tod.
Das Resultat ist ein Film, der dynamisch erzählt ist und den Blutdruck nahezu kontinuierlich ansteigen lässt, obwohl, damit hier keine falschen Erwartungen entstehen, die Action verhältnismäßig reduziert bleibt. Terry fräst sich hier nicht mit einem Maschinengewehr durch den kompletten Polizeiapparat – im Gegenteil schließt er sich mit der empatischen Justizangestellten Summer McBride (AnnaSophia Robb) zusammen und versucht so, das Netz der Korruption in dieser Kleinstadt auszuheben. Nach hinten raus führt das zu einigen etwas holprig erzählten Auflösungen und einigen etwas unglaubwürdigen Momenten – aber das Gesamtpaket stimmt. Rebel Ridge ist 80er-Jahre Spannungskino im besten Sinne.
Angeln im Content-Meer
Aber Kino ist hier das entscheidende Wort. Rebel Ridge gibt es nicht im Kino. Es gibt ihn auch nicht auf DVD oder BluRay. Rebel Ridge erschien ohne viel Werbung oder Tamm-Tamm auf Netflix, wurde gefühlt zwei Sekunden auf der Startseite gezeigt und ist, sofern sich die Empfehlung nicht herumspricht, zu dem Schicksal beinahe jeden Netflix-Films verdammt: Versunken in einem Meer aus Content. Es gibt einige Momente in Rebel Ridge, die so viel dadurch gewinnen würden, wenn man sie gemeinsam mit einer großen Gruppe Menschen in einem dunklen Kinosaal sehen würden. Das wird nicht passieren. Genauso wenig wird der Film eine BluRay-Auswertung erhalten. Und wenn Netflix irgendwann entscheiden sollte, den Film von den Servern zu nehmen, ist er für immer verschwunden – ein Schicksal, das für viele Disney-Plus-Filme und -Serien bereits Realität geworden ist.
Das ist der Fluch und der Segen der Streaming-Dienste. Denn auf der einen Seite muss man froh sein, dass Jeremy Saulnier die Möglichkeit gegeben wurde, seinen Film zu verwirklichen. Rebel Ridge ist die Art Film, die Hollywood nur noch selten macht; auf der Großleinwand regieren die Fortsetzungen, die Remakes, die Comic-Adaptionen, die bekannten Marken. Auf der anderen Seite ist Netflix eine Umgebung, in der Filme nur selten glänzen können. Zu sehr ist der Streamer darauf aus, ein stetigen Fluss an Content zu generieren, mit dem Ziel Abonnentenzahlen in die Höhe zu treiben. Die neue Hitserie von heute ist morgen schon wieder Schnee von Gestern – alle Folgen werden auf einen Schlag rausgehauen, im Binge-Modus reingeschaufelt und dann muss auch schon wieder Platz auf der Startseite gemacht werden für die nächste Staffel Stranger Things.
Die von Netflix eigenproduzierten Filme leiden da oft am stärksten drunter – auch wenn oder gerade weil sie in der Regel nicht besonders gut sind. Massenproduziert, algorithmusoptimiert, auf den größten gemeinsamen Nenner gebracht. Wie geschaffen zum wahllos auswählen und nebenher gucken, ohne das Smartphone weglegen zu müssen. Das ist ein Großteil der Netflix-Filme und das System ist genau darauf ausgelegt. Dumm nur, dass es in diesem Meer aus belanglosem Content-Schlamm ein paar echte Perlen gibt: The Old Guard. The Killer. The Night Comes For Us. Apostle. The Ballad of Buster Scruggs. Roma. I’m Thinking Of Ending Things. The Power Of The Dog. Glass Onion. They Cloned Tyrone. The Wonderful World Of Henry Sugar. Manchmal setzen sich einzelne Filme aufgrund von Mundpropaganda oder durch diverse Oscar-Nominierungen durch. Aber der Rest ist dazu verdammt, nach seinen zwei Tagen auf der Startseite in dem Meer der Anonymität zu versinken. Und auf der Großleinwand haben wir demnächst den Minecraft-Film, nach dem niemand gefragt hat.
Rebel Ridge ist ein sehr guter Film. Bitte lasst ihn nicht wieder verschwinden.
Kleine Korrektur: 36000$ nicht 10000$.