Ridley Pearson
Portrait eines rockenden Schriftstellers
Hierzulande dürfte der Name Ridley Pearson weitgehend unbekannt sein. Bestenfalls meldet sich eine leise Stimme, die sagt: »Moment, war das nicht der mit der Lou Boldt-Serie? Irgendwas mit Seattle? Ziemlich clever geschrieben?« Lange ist es her, dass seine Bücher ins Deutsche übersetzt wurden. Dabei schaut der US-amerikanische Schriftsteller und Musiker auf eine respektable Karriere zurück: 27 Bücher für Erwachsene und 17 für Kinder und Jugendliche hat er in 70 Ländern veröffentlicht, übersetzt in 22 Sprachen. So manche Bühne hat er zusammen mit Stephen King gerockt. Von Vergleichbarem können die meisten deutschen Autoren nur träumen.

Ridley Pearson
Foto unter (CC BY-SA 3.0) von Wikipedia-Nutzer Ridley’s sidekick
Mir begegnete mein erster Ridley Pearson vor mehr als zehn Jahren. »Das erste Opfer« hieß die Geschichte, fiel mir beim Stöbern in einer Buchhandlung in die Hände und begründete meine Begeisterung für den Output des mittlerweile 60-Jährigen: Im Pudget Sound (der Meerenge vor Seattle) wird ein Container mit drei toten und neun halb verhungerten Chinesinnen angeschwemmt. Offensichtlich handelt es sich um illegale Einwanderinnen, die von Schlepperbanden ins Land gebracht und Sklavinnen gleich missbraucht werden sollten. Der tatsächlich sechste Fall von Lou Boldt, der als Lieutenant der Mordkommission zusammen mit seinem Sergeant John LaMoia und der forensischen Psychologin Daphne Matthews bislang in insgesamt neun Romanen ermittelt hat, führte mich in die Abgründe des Menschenhandels, des Behörden-Gerangels und der Korruption. Vor allem aber begeisterte er mich ob des Erzählstils und der Zeichnung der Charaktere. Was manch anderem als langatmig erscheinen mag, macht für mich den Reiz aus: Dialogisch in eine Szene geführt zu werden, ohne sofort zu verstehen, welche Bedeutung sie haben mag. Oder über eine Figur mehr zu erfahren, als für das Verständnis der Gesamthandlung dringend notwendig ist. Und als Fan des informellen Lernens bin ich immer glücklich, wenn mir in einer spannenden Geschichte etwas erklärt wird, das ich bislang noch nicht wusste. So führen die Ermittlungen in »Über dem Abgrund« das Team zum Beispiel in die unterirdischen Überbleibsel des vergessenen alten Seattle, das 1889 einem Großbrand zum Opfer gefallen war. So habe ich im Rahmen klaustrophobischen Thrills wieder etwas gelernt, womit ich im Zweifel bei »Wer wird Millionär?« punkten könnte.
Rockende Autoren
Lernen spielt für den gebürtigen New Yorker, der mit seiner Frau Marcelle und seinen Töchtern Paige und Storey (können Töchter eines Schriftstellers anders heißen?) irgendwo im Mittleren Westen der USA lebt, eine große Rolle. Als erster Amerikaner überhaupt erhielt er 1991 das »Raymond Chandler Fulbright«-Stipendium der Universität zu Oxford. Und zuletzt unterrichtete er am College of International Language and Literature der Fudan University in Shanghai. Sicherlich eine willkommene Abwechslung in seinem schriftstellerischen Alltag, der ihn eigenen Aussagen zufolge an sechs von sieben Wochentagen je zehn Stunden lang an den Schreibtisch fesselt. Eine andere sehr willkommene Abwechslung stellte über zwanzig Jahre seine Mitgliedschaft in der Rockgruppe »Rock Bottom Remainders« dar. Von ihrem ersten Auftritt 1992 auf der »American Booksellers Association Convention« in Anaheim südöstlich von Los Angeles bis zu ihrem Abschlussgig im August 2012 in der Late-Night Talkshow von Craig Ferguson bewiesen die rockenden Schriftsteller (unter ihnen auch Journalisten und Drehbuchautoren) wahrscheinlich mehr Humor als musikalisches Können. Allein der gewählte Bandname zeugt schon von reichlich Ironie: Frei übersetzt bezeichnet er einen am Boden liegenden Ladenhüter. Dabei wissen die Mitglieder dieser Combo schon lange nicht mehr, wie sich so ein Ladenhüter anfühlt. Wenn sie auch nicht alle in Deutschland bekannt sind, ihr Rhythmus-Gitarrist und Sänger Stephen King ist es allemal. Backgroundsänger Matt Groening als Erfinder der Simpsons sollte es auch sein. Von Gitarrist und Sänger Greg Iles kennt man wahrscheinlich die Verfilmung seines Romans »24 Hours«, von Backgroundsängerin Amy Tam vielleicht die Verfilmung ihrer »Töchter des Himmels«. Ridley Pearson jedenfalls hat bei den Ladenhütern die Bassgitarre übernommen und manchmal auch gesungen. Wie großartig diese Coverband, die angeblich nur selbstgeschriebene Stücke gespielt hat, sein konnte, durfte nicht nur Steve Martin feststellen, als er mit dem selbsterklärten »No Hit Wonder« zusammen auftrat.
Roger McGuinn, Ridley Pearson und die Rock Bottom Remainders mit Steve Martin am Banjo:
„We play music as well as Metallica writes novels“, sagten die Hobby-Musiker über sich selbst und freuten sich wie Schneekönige über das Statement von Bruce Springsteen, der einst zu einem ihrer Gigs gekommen war: »Your band’s not too bad. It’s not too good either. Don’t let it get any better, otherwise you’ll just be another lousy band.« Lousy oder nicht: Insgesamt zwei Millionen Dollar sollen die Remainders eingespielt und Charity-Projekten zur Verfügung gestellt haben. Das kann sich sehen lassen. Nach dem Tod ihrer Gründerin Kathy Kamen Goldmark, einer Teilzeit-Musikerin und Publizistin, haben sie nun gemeinsam ein Buch über ihre Bandgeschichte herausgebracht: »Hard Listening: The Greatest Rock Band Ever (of Authors) Tells All« heißt das Werk, das dieser Tage als Amazon Kindle erschienen ist. Einen Ausschnitt der Sammlung von Erinnerungsfragmenten an ihre unnachahmliche Rocker-Karriere kann man auf der Band-Website anschauen.
Serien-Junkies unter sich
Eines haben Ridley Pearson und ich auf jeden Fall gemeinsam: Wir sind beide Serien-Junkies. Ich mehr so, indem ich sie konsumiere. Er mehr so, indem er sie schreibt. Tatsächlich gibt es von ihm auch einige Standalones, von denen ich wiederum einige gelesen habe. Sein Schwerpunkt liegt aber auf der Serie. Die aktuelle trägt Zwei-Wort-Titel, deren erstes Wort immer »Killer« lautet, und spielt im luxuriösen Sun Valley (ein Urlaubsort vor allem für Wintersportler in Idaho). Hauptfigur Walt Fleming, der Sheriff des 1500-Seelen-Städtchens, schlägt sich hier mit den Verbrechen schnöseliger Touristen herum, die glauben, in der Provinz lassen sich Straftaten ungestrafter begehen. Mit »In Harm’s Way« schlug Ridley Pearson zuletzt eine Brücke zwischen Seattle und Sun Valley. Ich habe es noch nicht gelesen, freue mich aber schon auf die Rückkehr des Boldt-Teams auf meinen Nachttisch.
Bibliographie (eine kleine Auswahl)
Lou Boldt-Serie
- 1988: Undercurrents (1989: Cross-Killer – Roman eines Verbrechens)
- 1998: The Pied Piper (2001: Der Rattenfänger)
- 1999: The First Victim (2001: Das erste Opfer)
- 2000: Middle of Nowhere (2002: Die einzige Spur)
- 2002: The Art of Deception (2005: Über dem Abgrund)
Walt Fleming-Serie
- 2007: Killer Weekend (2008: Der blinde Tod)
- 2008: Killer View (nicht in Deutschland erschienen)
- 2009: Killer Summer (nicht in Deutschland erschienen)
- 2010: In Harm’s Way (nicht in Deutschland erschienen – Crossover zu Lou Boldt)