Schatz gesucht von MEL 1970
Es gibt diese Tage. Weihnachten gehört dazu. Dann tapern einsame Seelen verloren Richtung Notaufnahme und hoffen auf Balsam unter psychiatrischer Betreuung. Klar, in dem Stadium ist es allemal fünf nach zwölf. Wohl dem/der also, der/die vorbeugt und noch vor Saft strotzt, wenn er/sie mit Cupidos Pfeil und Flitzebogen auf die Pirsch geht. Als es den Genitiv noch gab, geschah das mit Zeilen wie: „Des Alleinseins müde, möchte ich auf diesem ungewöhnlichen Wege … spätere Heirat nicht ausgeschlossen.“
O tempora o mores – heute baggert man rabiater, ist auf mehreren Dutzend Plattformen mit variantenreichen Profilen unterwegs und schließt die Heirat vielleicht ebenso aus wie überhaupt ein Treffen im Analogen. MEL 1970 hat ein paar Jahre in dieser Welt zugebracht, in der Fake und Fakt verschwimmen. Anfangs, das räumt er ein, wühlte er sich in aufrichtiger Junggesellenabschiedslaune durch das digitale Dickicht von tausend und keiner Möglichkeit. Später wurde daraus der Vorsatz, die Erfahrungen zu einem Leitfaden für Mitleidende und Mithoffende zu knüpfen. Demnach ist MEL einer von uns, einer der Spacken, die an Bushaltestellen die Modelle auf Parship-Plakaten studieren und grübeln: Wenn selbst so ein Geschoss das Glück im Netz sucht, dann muss sich die herkömmliche Kontaktaufnahme totlaufen.
Schatz gesucht heißt der gut 200 Seiten starke Ratgeber, der im Ton munter zwischen Beipackzettel und amüsantem Lesestück pendelt. Dieser Zickzack sollte nicht weiter verwundern, denn MEL hat eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Romanautor. Marterpfahl etwa handelt von einem Jugendstreich, der tödlich endet und als Geier über dem Leben aller Beteiligten kreist. Da wird so sanft-perfide der Tod zelebriert, dass Lesern kaum der Spurwechsel zum Ratgeber gelingt.
Als Schatzsucher ermahnt MEL schon in den ersten Lektionen, den Aliasnamen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Notstopfen08/15 oder Graumausschmaus sollten nicht mal auf einen Idiotenbonus hoffen, sie würden erbarmungslos als Jammerlappen verheizt. Aber MEL mit dem offenkundigen Zusatz des Geburtsjahres 1970 taugt? Mel Gibson? Mel Brooks? Meldeoffizier? Nein, es ist das Kürzel, unter dem Autor Stefan Melneczuk bereits als Journalist schrieb. Fast 30 Seiten von Schatz gesucht sind umgeblättert, bevor er in die Tasten haut, um Corinna, Julia oder auch Falbala aus dem digitalen Dunkel ans Licht zu holen. Falls das einigen Ratsuchenden zu lange dauert: Geschmäcker, Strategien, Erwartungshaltungen und was noch alles sind verschieden. Im Umkehrschluss sollten sich Suchende vor Augen führen, dass am anderen www-Ende mit beängstigend hoher Wahrscheinlichkeit jemand sitzt, der einem anderen Traum nachhängt. Vielleicht ein bärtiger Afghane, der diskrete Zahlungen für erhoffte Intimfotos an ein Konto der Taliban weiterleitet?
Vor solchen und vielen anderen Fallstricken warnt MEL, arbeitet dabei gern mit Bildern, die der Partnersuche im Netz ein Kleid geben, erweist sich als sorgsamer und versierter Schreiber. Dies nun ist eine Kunstfertigkeit, die sich nicht wie von einem Cyrano borgen lässt, um Roxane einzuwickeln. Und so werden trotz des Leitfadens die Totschlagparolen durchs Web jagen: „Eh, Alte, willst du f***en oder was?“
Ohne Quatsch, geistigen Tieffliegern hat MEL rein gar nichts zu vermitteln. Ein gerüttelt Maß an Niveau ist vielmehr erforderlich, damit die Saat der guten Ratschläge auch wirklich aufgehen kann. Schatz gesucht taugt also für das Mittelfeld, für ernsthaft Suchende, Besonnene, Wissbegierige, Zaghafte. Mit hohem Einfühlungsvermögen und stoischer Gelassenheit lässt Melneczuk auch Pleiten, Pech und Pannen vorüberziehen. Das beruhigt ungemein, denn eines ist nach der Lektüre besonders klar: Die Suche im Netz verschafft zwar Deckung und das eine oder andere Date, aber nicht die Gewissheit, schnurstracks in den Siebten Himmel aufzusteigen. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass das Boot wieder und wieder am Hafen der Liebe oder Ehe vorbei tuckern und never ever den Anker auswerfen wird. Wenn dann schon die Ratten das sinkende Schiff verlassen haben, sitzt der Kapitän immer noch am Bordcomputer und funkt sein Mayday. Wussten Sie übrigens, woher dieser Notruf kommt? Angeblich lautete er zunächst „venez m’aider“ – kommt und helft mir. Das, so weiß man dank MEL, wird nicht passieren, denn den Letzten und den Verzweifelten beißen die Hunde. Auch und gerade im World Wide Web.
MEL 1970: „Schatz gesucht! Liebe finden im 21. Jahrhundert“. Hamburg (Tredition) 2020, 208 Seiten, 12 Euro