Schmalz und Rebellion
Udo? Schon ruft einer Lindenberg, ein anderer Jürgens. Manchmal ist auch noch Udo Lattek im Angebot, aber der tut hier nichts zur Sache, auch wenn Udo Jürgens dem Fußballer mal ein Ständchen im TV widmete. Jürgens fiel zeitlebens damit auf, dass er zu jedem Problemchen der Welt ein Liedchen lieferte, manch eines davon musikalisch und lyrisch gar nicht von schlechten Eltern. Bei Lindenberg war es eher umgekehrt, da kam mit dem Song oft erst das Problem, das man ohne diesen Udo gar nicht gehabt hätte. Hier wie dort oder auch bei Sängern wie Herbert Grönemeyer, Reinhard Mey, Herman van Veen und wem noch alles fällt auf, dass viele Fans ein Lied mehr des Textes als der Musik wegen mögen. Autor Jens Balzer, der auch für das ehrenwerte Musikmagazin „Rolling Stone“ schreibt, zieht daraus den richtigen Schluss und packt die Sprache des deutschen Pop beim Revers. Schmalz und Rebellion von den 50er-Jahren bis heute sind das lesenswerte, lehrreiche und amüsante Ergebnis dieser Kreuzfahrt durch teutonisches Liedgut. Bei nur knapp 200 Seiten – der Rest entfällt auf Vorspann und Anhang – ist kein Werk mit lexikalischem Anspruch zu erwarten. So sei niemand geplättet, wenn Silbermond, Glasperlenspiel oder Rosenstolz fehlen. Auch die endlos lange Riege an Neo-Schnullis, die sich in Dauerschleife durch gängige Radiosender winden, kriegen bei aller Popularität keine Schnitte – und das Buch dafür vom Rezensenten schon mal einen Pluspunkt. Denn mal ehrlich: Kann irgendjemand, der klar denkt, bestätigen, dass die Menschen hinter Hamburg, Berlin oder Köln aufhören, Fragen zu stellen? Und liegt ein poetischer Glückstreffer vor, wenn sich „Köln“ auf „stellen“ reimt? Muss sich überhaupt irgendwas reimen, um Songtext zu werden? Fällt noch irgendwem auf, dass Andreas Bourani Quatsch singt, wenn er behauptet, „wir gehen auf anderen Wegen“? Was er ja eigentlich meint, sind verschiedene oder unterschiedliche Wege. Um das Versmaß ins Lot zu bringen und den Songtitel zu bewahren, hätte er seiner „Dam Dam Dam Dam“ nur nachsingen müssen: „Du gehst auf anderen Wegen.“ Aber dazu müsste er erst einmal bemerken, dass da was schräg ist.
The learned Lords
Nun darf man gespannt sein wie ein Flitzebogen, wie Autor Balzer mit den Fehltritten im Heute umgeht. Dass sich „The Lords“ 1966 im verzweifelten Ringen um Schulterschluss mit englischen Bands um Kopf und Kragen krähten, haut er den Jungs schon auf den ersten Seiten um die Ohren: „My mother worked each day and she learned me to say.“ Ja, das Vergeigen von Schulenglisch schmerzt, hinderte die Lords aber 2022 nicht an einer Abschiedstour – möglicherweise nicht der letzten. Schließlich haben sich auch die richtig Großen im Geschäft schon mehrfach zum letzten Mal verabschiedet.
Wir kommen vom Thema ab. Herr Balzer, das ist Ihre eigene Schuld. Denn Schmalz und Rebellion kommt auch immer wieder vom Thema ab, was wirklich nicht weiter stört, denn in den Seitensprüngen des Autors stecken aufschlussreiche Details. Was zum Beispiel lässt sich daraus ableiten, dass Rudi Schuricke seine „Capri-Fischer“ mit rollendem „R“ aufs Meer hinaus schickte? Nun, es waren die späten 40er-Jahre, die Deutschen hatten noch den „Föhrer“ im Ohr, wie er auf die „Herrrrrenrrrrasse“ und den „Krrrrieg“ einschwor, und nun verkleisterte ein Schlager den unbehaglich arischen Laut mit der scheinexotischen „bella, bella Marie“, um mit Deutschlands uralter Italiensehnsucht ins Reine zu kommen. Italien, Heimat auch der ersten „Gastarbeiter“, die im Wirtschaftswunderland schufteten, um sich Geld und den sauer verdienten Arschtritt abzuholen. Vico Torriani, im richtigen Leben Schweizer, surfte gnadenlos auf der Italienwelle, stellte aber fest, dass die Deutschen auch für fernere Gefilde empfänglich wurden. „Kalkutta liegt am Ganges“ hatte er im Köcher und dürfte im Leben nicht dort gewesen sein, denn Kalkutta hat mit Fernweh so wenig zu tun wie Ludwig van Beethoven mit Atomkraftwerken.
Gejodeltes Olé
Um Himmels willen, wie kann man nur so sehr abschweifen? Wie gesagt: Balzers Schuld. Und das macht richtig Spaß! So erzählt er, dass eben dieser Torriani auch sang: „Pedro aus Caracas handelt mit Ananas“. So Dämliches muss man sich erst mal trauen. Nur dass derlei Dämliches 1957 zur Wiederwahl von Kanzler Adenauer niemandem auf die Nüsse ging. Wer mal ins Lied reinhören und dem musikalischen Schlamassel dieses Schmachtfetzens auf den Zahn fühlen möchte: Torriani lässt das „Olé, Olé“ in einem Schweizer Jodler auslaufen. Würde man das als gewieften Eklektizismus interpretieren und den Wunsch nach Völkerverständigung unterstellen? Andere Zeiten, andere Werte: Heute gehen wir klar von kultureller Aneignung aus.
Und schon malt man sich Vico mit Rasta-Locken aus – auch eine Option. Herrlich, bei diesem Buch gehen Pferde und Phantasie mit einem durch, die schönsten Bilder laufen vor dem inneren Auge ab. Ein köstlicher Genuss, verknüpft mit Erinnerungen an süße Kindheit und Jugend. Dass nach Interpretation von Balzer mit dem Kriegsende 1945 die deutsche Popgeschichte begann, muss man erst einmal verdauen. Ich selbst, eingeschult Anfang der 60er, habe das jedenfalls noch nicht gespürt. Die Eltern legten Rudi Schuricke und Willy Schneider auf, pfiffen letztlich auf musikalischen Anspruch, verwahrten aber die große Schellackplatte der Deutschen Grammophon, auf die Verdis „Gefangenenchor“ gepresst war, wie einen Schatz und holten ihn nur an Feiertagen hervor. Noch heute rollen mir die Tränen bei den Zeilen: „Va, pensiero, sull’ali dorate, va, ti posa sui clivi, sui colli.“ Ich sehe, wie sich die harte Diamantnadel auf die Rillen senkt, der Plattenteller, der LPs später mit 33 rpm drehen wird, noch mit 78 rpm jagt und das traurige Wohlgefühl viel früher ausklingt, als der Durchmesser der Schallplatte es erwarten lässt.
Schmalz und Rebellion und Proust
Und nun Schluss mit den viel zu persönlichen Entgleisungen. Aber der dringende Rat ergeht, sich genau über dieses Buch in solchen Welten und Träumereien zu verlieren. Die Alten packt es noch zu Zeiten von knisterndem Schellack, die Boomer und Nach-Boomer in der Ära Nina Hagen, die heute jungen Eltern vielleicht bei Rammstein oder Kollegah. Den Abgesang, man staune, findet Balzer bei Marcel Proust: „Les beaux livres sont écrits dans une sorte de langue étrangère“ – in einer Art Fremdsprache seien die guten Bücher geschrieben. Balzer resümiert: „So ist es auch mit den guten Songs: Sie lassen die eigene Sprache fremd werden und weisen dadurch den Weg zu einem anderen Bild von sich selbst.“ Er hat ein gutes Buch geschrieben, dans une sorte de langue étrangère.
Jens Balzer: „Schmalz und Rebellion“. 224 Seiten, Berlin (Duden) 2022