Stern des Nordens von D. B. John
Undercover in Nordkorea
Was haben die einfache Landarbeiterin Moon Song-ae, der Parteifunktionär Cho Sang-ho und die Assistenzprofessorin Dr. Jenna Williams gemeinsam? Sie vertreten die drei Handlungsstränge in Stern des Nordens von D. B. John. Und wie das mit Handlungssträngen eines Thrillers so ist, laufen sie aufeinander zu. Im konkreten Fall tun sie dies über den ein oder anderen Umweg. Wobei diese Umwege einen Gutteil des Reizes dieses Werkes ausmachen. Denn hier erzählt einer von Nordkorea, der sich auf Berichte von Geflüchteten bezieht. Und der zumindest schon einmal selbst in der isoliertesten Diktatur der Welt war.
»Ein Wunder, wenn ein Mann ohne seine Frau überlebt«
Frau Moon weiß, wovon sie spricht. Seit ihr Mann wegen ständiger Stromausfälle keine Arbeit mehr hat, sitzt er nur zu Hause herum und tut nichts. Und das, obwohl ihre Arbeit auf den Feldern allein zum Überleben nicht reicht. Aber Frau Moon kennt es nicht anders. Und immerhin erkennt sie Chancen, wenn sie sich ihr bieten. Und so löst ein aus Südkorea stammender Hilfsballon, den sie bei der Suche nach Essbarem findet, eine Ereigniskette aus. Die Schokoladenkekse der Hilfslieferung ermöglichen der gelernten Köchin letztlich, in der nächsten Stadt zusammen mit anderen Frauen auf einem an sich illegalen Markt eine Kantine zu eröffnen. Das Ganze funktioniert natürlich nur mit reichlich Bestechung und Schmuggelware. Aber wer hier in den Bergen an der Grenze zu China überleben will, kann nicht kleinlich sein.
Eine ganze Weile kommen die Händlerinnen sehr gut zurecht. Doch im restriktivsten politischen System der Welt lässt sich nichts auf Dauer aufrechterhalten. Und so kommt es, wie es kommen muss: Der Markt wird zerschlagen und die nordkoreanische Währung durch eine neue abgelöst. Somit verlieren die Händlerinnen von jetzt auf gleich alles, was sie sich erarbeitet haben. Das führt zu einer Revolte – und Frau Moon direkt ins Lager.
The higher you fly …
Derweil schlägt sich in Pjöngjang Oberstleutnant Cho mit ganz anderen Problemen herum. Wir schreiben den Oktober 2010, auf dem Kim-Il-sung-Platz findet gerade die Parade zum 65. Jahrestag der Gründung der Arbeiterpartei statt. Da erklärt ihm sein Bruder überraschend, er sei zum Stabschef des Privatsekretariats Kim Jong-uns, dem Sohn des Geliebten Führers Kim Jong-il benannt worden. Diese an sich großartige Nachricht hat einen Haken. Wer in einer solch gehobenen Position arbeiten will, muss eine makellose Klassenherkunft vorweisen. Doch über ihre Herkunft haben die Brüder gar keine Kenntnis. Gab ihre leibliche Mutter sie nämlich einst in einem Waisenhaus ab.
Auf den ersten Blick scheinen die Unterlagen zu ihrer Herkunft gut genug zu sein. So erhält auch Cho eine Beförderung. Weil sein Vorgesetzter plötzlich in Ungnade gefallen war, fliegt nun Cho nach New York, um von den USA Hilfslieferungen zu erpressen. Und weil er das so vorzüglich macht, erhält er einen Heldenorden. Doch selbst der linientreue Cho weiß: Heldenorden schützen vor Schuld durch Assoziation nicht.
… the deeper you fall
Schuld durch Assoziation bedeutet, dass gleich drei Generationen einer Familie die Schuld eines Vorfahren tragen müssen. Das daraus resultierende Kastensystem ist einzigartig. Abhängig davon, was die Vorfahren des Vaters zu Zeiten der Staatsgründung 1948 getan oder nicht getan haben, gehört jeder Nordkoreaner entweder der Kaste der Loyalen, der Unzuverlässigen oder der Feindseligen an. Bislang galten Cho und sein Bruder als loyal. Doch mit der Erkenntnis, dass ihr Großvater in den Fünfzigerjahren als Spion starb, gelten nun auch sie als Feinde des Systems. Also landet auch Cho direkt in einem Straflager.
Straflager gibt es in Nordkorea mit unterschiedlicher Güteklasse. Menschenrechte finden in keinem Anwendung. Zumindest aber besteht in einigen der Hauch einer Chance, den Aufenthalt zu überleben. Cho aber landet in Lager 22. Von dessen Existenz hatte er bis vor Kurzem noch gar keine Ahnung. Dann aber traf er in New York Jenna Williams. Und die hatte dieses Lager erst kurz zuvor per Spionagesatellit entdeckt.
Von der Uni in die Farm
Dr. Jenna Williams ist eigentlich Assistenzprofessorin an der School of Foreign Service der Georgetown University, dem West Point angehender Diplomaten. Dass sie ihre Doktorarbeit über die Kim-Dynastie geschrieben und gleich in zwei Sprachen verfasst hat, kommt nicht von ungefähr. Jennas Mutter ist nämlich Koreanerin. Und weil ihr Vater ein afroamerikanischer Soldat war, ist mit Jee-min »Jenna« Williams eine durchaus toughe, vor allem aber auch auffällig hübsche junge Frau geworden.
Jenna ist aber auch eine sehr traurige junge Frau. Denn vor zwölf Jahren ist ihre Zwillingsschwester Soo-min bei ihrem Studienaufenthalt in Südkorea spurlos verschwunden. Offiziell heißt es, Soo-min sei bei einem Badeurlaub ertrunken. Doch Jenna konnte das nie glauben. Zu deutlich sagt die Zwillingsstimme in ihr, dass Soo-min noch lebt. Und nun steht plötzlich der CIA-Agent Fisk vor ihr, ein ehemaliger Kollege ihres Vaters. Fisk ködert sie mit der Erkenntnis, dass reihenweise Ausländer nach Nordkorea entführt worden seien, nicht nur Japaner. Die Aussicht, ihre Schwester vielleicht doch wiederfinden zu können, bewegt Jenna letztlich dazu, sich in der Farm der CIA zur Agentin ausbilden zu lassen.
Jenna hat eine Mission
Im Rahmen ihrer Ausbildung erhält Jenna bald große Aufmerksamkeit. So nicht nur für die Entdeckung jenes Lagers 22. Vor allem ist es ihr Essay, in dem sie dringlich von weiteren Sanktionen und Beschränkungen gegen Nordkorea abrät, das bald höchste Kreise diskutieren. Der Kult, den die Kim-Familie um ihre Großen und Geliebten Führer geschaffen hat, lebe von dieser Isolation, sagt sie. Nur wenn das Volk zumindest eine Ahnung davon erhält, was Freiheit bedeuten kann, gäbe es Hoffnung auf Besserung.
Jennas vorrangige Mission ist es zwar, ihre Schwester zu finden und zu befreien. Darüber hinaus hat sie aber noch weitreichendere Absichten. Wenn es ihr nicht auf diplomatischem Weg gelingt, das nordkoreanische Volk aus der Knechtschaft zu befreien, sieht sie nur eine Möglichkeit: den Stern des Nordens zu töten.
Stern des Nordens: Leitstern Kim Jong-il
Wer es wie ich noch nicht wusste: Der Stern des Nordens (eigentlich Leitstern) war Kim Jong-il. Die Geburt des selbsternannten Geliebten Führers sei, so verkündet die offizielle Staatsmythologie, durch das Erscheinen eines neuen Sterns angekündigt worden. Als Staatsoberhaupt hat er den Staatsgründer jedoch nie abgelöst. Kim Il-sung ist laut Verfassung und trotz seines Todes 1994 bis heute Ewiger Präsident Nordkoreas. Weshalb zur Zeit, in der die Geschichte spielt, jeder Haushalt in Nordkorea ein stets staubfreies Vater-Sohn-Portrait besitzen und zur Schau stellen musste.
Es sind solche Details wie dieses Portrait und die nachbarschaftliche Kontrolle dessen staubfreien Zustands, die das Buch so spannend und aufschlussreich machen. Doch die Bezüge zu wahren Begebenheiten gehen erheblich weiter. Wie weit, das verraten die Anmerkungen. Von denen der walisische Autor, der lange Jahre in Südkorea gelebt hat, im Vorwort sagt, dass man sie erst zum Schluss lesen sollte.
Fazit: Plichtlektüre!
Ich habe mich an den Rat gehalten. Und tatsächlich dünkte mir erst sehr spät, dass hier wahrscheinlich weit mehr auf Basis wahrer Begebenheiten entstanden ist, als ich es während der Lektüre für möglich gehalten hätte. Doch was ich für fiktionale Freiheit des Schriftstellers gehalten hatte, basiert auf dem Wahnsinn dieses menschenverachtenden Regimes. D. B. John bezieht sich bei fast allen Aspekten seines Thrillers auf Fachlektüre und Berichte Geflüchteter, so auch auf die Fluchtgeschichte Schwarze Magnolie: Wie ich aus Nordkorea entkam, die er zusammen mit Hyeson-seo Lee (hier in einem TED Talk) veröffentlicht hat.
Sicher, es gibt die ein oder andere Actionszene zum Schluss von Stern des Nordens, die ist ein bisschen drüber. Vielleicht auch arg drüber. Immerhin sprechen wir hier aber von einem Thriller. Und ich denke, der darf das. Das ändert auch nichts an meinem Urteil, das klar sagt: Dieses Buch sollte Pflichtlektüre sein. Vor allem für all jene, die glauben, hierzulande kein Recht auf freie Rede zu haben. Die ihre Freiheit eingeschränkt sehen, weil sie wegen ihrer Hassreden, Verunglimpfungen oder ihrem Bedürfnis, sich sonstwie rassistisch hervorzutun, mindestens mal hinterfragt, bestenfalls zur Rechenschaft gezogen werden.
Vielleicht sollten all jene aber direkt mal einen kleinen Kururlaub in Nordkorea buchen und ausprobieren, wie weit sie mit ihrer freien Rede dort kommen. Aber Obacht, das könnte schnell in einen ausgedehnten Lageraufenthalt münden.