THE KNIFE / MAJOR LAZER
Eine kulturtheoretische Betrachtung
Obwohl ich Festivals nicht mag, verschlug es mich nach drei Jahren Abstinenz im Juli 2013 auf das Summerjam in Köln und das MELT! in Ferropolis. Dort sah ich MAJOR LAZER und THE KNIFE, zwei Elektro-Acts, die zunächst wenig miteinander zu tun haben, mich jedoch gleichermaßen mit ihren Bühnenshows zum Nachdenken brachten. Über den Live-Charakter elektronischer Musik. Und Konzerte im Allgemeinen.
Ein Gastbeitrag von Thomas Spitzer, Poetry-Slammer und Co-Autor von Bunt und kühl.
Ich mag Festivals nicht. Nenn mich spießig, aber ich finde keinen Gefallen daran, an einem Fünf-Euro-Bier zu nuckeln, das wie schon mal getrunken schmeckt und auf eine Leinwand zu blinzeln, die so weit weg ist, dass selbst meine Adleraugen nicht erkennen können, ob da jemand gerade den Ton seines Lebens trifft oder spektakulär abkratzt. Was vor allem dann nicht leicht ist, wenn man eine Palette Dixiklos im Nacken hat, die schon am Freitag Vormittag nach allen Regeln der Kunst zugeschissen wurde.
Moderne Festivals stehen in meinen Augen sinnbildlich für so ziemlich alles, was schief läuft. Kultur als Abzocke. Events, die wie Fast Food konsumiert werden. Und eine allgegenwärtige Alternativität wie sie nerviger kaum sein könnte. Mein Standardspruch beim MELT! lautete: „Hi, ich mache grad fünf Jahre Work-And-Travel durch Lappland.“ („Wirklich? Nein! Mensch, wie toll. Ist bestimmt ne wichtige Erfahrung.“) Und erst heute sah ich eine Werbung für ein Reiseunternehmen mit dem Slogan: „Reise dich interessant!“ Das trifft es eigentlich ganz gut.
Ingesamt überraschten mich Summerjam und MELT! jedoch positiv. Gut, meine bisherigen Referenzen Rock im Park und Southside gelten nicht gerade als die Cohiba Esplendidos unter den Festivals. Aber selbst das Frequency in Österreich vor drei Jahren, das sich mit seiner Night-Stage und Acts wie Nero oder Deadmau5 nebst einem überraschend heterogenen Tagesprogramm (Element of Crime, Jan Delay, Skunk Anansie) alle Mühe gab, verbuchte ich unter semi-geil. Wahrscheinlich, weil ich mich dort zum ersten Mal alt fühlte. Oder generell, weil ich Menschen hasse. Keine Ahnung.
Jedenfalls wurde meine persönliche Festival-Historie 2013 mehr zufällig und über den Poetry Slam um ein Kapitel erweitert. Beim Summerjam hatte ich einen Auftritt, zum MELT! wurde ich von einer befreundeten Bühnenpoetin überredet.
Und keine Angst: Das Wetter war gut, die „Atmosphäre“ auch. Ob das nun daran liegt, dass auf beiden Festivals Alkohol jeweils nicht die vorherrschende Droge ist, darüber darf freilich orakelt werden. Jedenfalls wurden mit MAJOR LAZER und THE KNIFE glücklicherweise genau die „Bands“ (besser: Acts, dazu gleich mehr) präsentiert, deren Live-Shows mich 2013 interessierten.
MAJOR LAZER ist eine von zwei DJs gegründete – ja, nennen wir es – „Formation“, die elektronische Musik produziert, welche wiederum wie „schwarze“ Musik klingt.
Also Funk, Reggae, HipHop, Dancehall und Soul. DJ Diplo erklärt das Credo der Band einmal mit der Frage: „Wie weit kann man gehen ohne die Grenzen der Pop-Musik zu überschreiten?“ Also Verrücktheit im Rahmen der Hörgewohnheiten von Otto Normal. Ähnlich könnte man das Getröte von Lady Gaga beschreiben. Doch – so plump es klingt – MAJOR LAZER sind wirklich verrückt. Auf ihrem Debütalbum beispielsweise gibt es einen Song „Baby“, dessen Beat nur aus elektronisch verzerrtem Babygeschrei besteht. Der Text schließt mit den Worten: That Breast is yours, this breast is mine / Don’t get out of line.
Oder „What U Like“, ein Reggaesong, der von (versehentlicher) Vergewaltigung handelt – aus Sicht des Vergewaltigers: When we took it off like a fight / I thought she like / Screamed til she had no voice / I thought she like.
Dabei spielen MAJOR LAZER damit wie Jamaika im Rest der Welt wahrgenommen wird. In den Videos hüpfen die männlichen Darsteller wie – man kann es nicht anders sagen – Buschmänner durchs Bild. Die Frauen sind stets gleichermaßen üppig wie luftig bekleidet. Und natürlich darf auch der landestypische Discotanz nicht fehlen, bei dem man nie so recht weiß, ob das noch ein Balzspiel ist oder schon das Balzen selbst. Auf die Spitze getrieben wird die Optik von einer eigens konzipierten Comic-Figur, nämlich dem Major Lazer, der so etwas darstellt wie der ultimative jamaikanische Proll. Mit Guevara-Mütze, Mikrofon-Patronengürtel und Lazer-Kanone im Anschlag.
Textlich bewegen sich MAJOR LAZER irgendwo zwischen Politik und Blödsinn. Sporadisch wird zur Revolution aufgerufen. Meist zur Party bis die Hütte kracht. In der Hymne „Get Free“ heißt es: Look at me / I just can’t believe / What they’ve done to me / We can never get free. Die Titel der bisherigen Alben „Guns Don’t Kill People… Lazers Do“ und „Free the Universe“ lassen allerdings nur schwer auf eine Art politisches Programm schließen. Oft ist sie ja schmal, die Grenze zwischen einer super-ironischen Ironie und dem totalen Schwachsinn… Mutig ist das alles trotzdem. Vor allem, wenn man bedenkt, dass beide DJs weiß sind.
Auf der anderen Seite der Erdkugel lebt und wirkt THE KNIFE, ein schwedischer Act, der zwar ebenfalls zweiköpfig ist, sich jedoch klarer als Band definiert, zum Beispiel indem auf den ersten drei Alben – beinahe stur – nie mit anderen Musikern kollaboriert wird. Außerdem gibt es eine Rollenverteilung: Der Bruder macht die Musik, die Schwester singt. (Ganz recht, THE KNIFE sind Geschwister.) Ähnlich wie bei MAJOR LAZER treten in den Videos die Musiker selbst nur kurz oder gar nicht Erscheinung, stattdessen geht es bei THE KNIFE um Geschlechterrollen. Zum Beispiel wenn der Club-Hit „Pass This On“ im Video von einem Transvestiten gesungen wird. Oder wenn man bei „A Tooth For An Eye“ ein Mädchen einer Gruppe von Männern Ballettunterricht gibt. In anderen Fällen tragen die Figuren geschlechtsneutrale Masken, passend zum Gesang, der nicht nur extrem vielseitig ist (die Amerikaner haben den schönen Begriff „mind-blowing“), sondern auch im Lauf jedes Songs förmlich mit Effekten beschossen wird. Und zwar so, dass man oft nur schwer erkennen kann, wer oder was da überhaupt singt. Ein alter Mann? Eine laszive Frau? Eine Hexe? Ein Mädchen, Roboter, Alien?
Musikalisch bietet das Duo nichts weniger als einen wilden Ritt durch die Musikgalaxie. Das offizielle Motto: Sich nie wiederholen, immer zu neuen Ufern. Das erste Album war experimentell, das zweite bespickt mit Club-Hits und Hymnen wie „Heartbeats“, das dritte eher sphärisch und das aktuelle – nun ja – nennen wir es… noisy.
MAJOR LAZER und THE KNIFE lassen sich – nicht nur geografisch – als zwei Seiten einer einzigen großen Elektro-Pop-Medaille betrachten. Stellen wir sie uns als Actionfilme vor, MAJOR LAZER wäre Sharknado. Also ein Trash-Streifen, in dem eine Strandgegend von einem mit Haien gefüllten Tornado heimgesucht wird. THE KNIFE wäre Anti-Action, vielleicht Spionage, zum Beispiel Die Bourne Verschwörung. Also ein Actionfilm, der wie ein Kammerspiel wirkt. Avantgardistisch. Wenige Darsteller, wackelige Kameras, eine Farbpalette, die stark ins Duochrome spielt und Verfolgungsjagden, die – vergleichsweise – realistisch sind. Der Sound von THE KNIFE ist reduziert und roh.
Bequem sind die Schweden trotzdem nicht. Auch unter ihren Videos finden sich youtube-Kommentare à la „What the fuck did I just watch?“ Zum Beispiel, wenn die Sängerin einen Preis nicht nur in einer Art Burka entgegen nimmt, sondern auch – anstelle einer Dankesrede – zweimal ins Mikrofon röchelt und wieder von der Bühne geht. Oder, wenn bei „Full Of Fire“ eine normal wirkende Frau Mitte vierzig in der Öffentlichkeit die Hose runterzieht und auf die Straße pinkelt. Dagegen wirken die Großaufnahmen von einem in Zeitlupe wackelnden „Bubble Butt“ im gleichnamigen Videoclip von MAJOR LAZER geradezu harmlos.
Beide Seiten der Elektro-Pop-Medaille haben seit Jahren eine stetig wachsende Fanbase. Beide wirken wie die ewigen Underdogs. Und beide zertrümmerten sich wohl das Hirn darüber, was sie bei einem Konzert so präsentieren.
Der Begriff „Konzert“ wird im Pop- und Fernsehbereich in einer gedehnten Form verwendet. Er bedeutet meist: Eine Sängerin tut so als ob sie singt vor einer Band, die so tut als ob sie spielt vor einem Publikum, das so tut als ob es nichts bemerkt. Dabei ist es schwer, den „Live-Charakter“ auszumachen. Als ich die Beach Boys beispielsweise vor einem Jahr in der Berliner O2-World sah, saß der 71-jährige Frontmann Brian Wilson an einem Flügel und fuchtelte mit den Armen. Nur selten berührte er die Tastatur. Daneben standen seine alten Kollegen, dahinter eine kleine Armee junger Musiker, die sogar den Gesang übernahmen. Hin und wieder humpelte ein Beach Boy zum Mikrofon und sagte wie schön es doch in Deutschland sei. Das Publikum war begeistert. Sogar die Kritiken fielen gut aus. Aber ich würde nicht einmal behaupten, dass ich die Band „live“ gesehen habe. Schließlich hatte ich die 50 Euro nicht ausgegeben, um zu wissen, welche Hose Brian Wilson trägt. Ich wollte Musik sehen. Und zwar die Mechanik der Musik. Ich wollte verfolgen wie der Musiker selbst einen Ton erzeugt, indem er eine Taste drückt.
Doch von der Hoffnung, irgendwen irgendwo tatsächlich musizieren zu sehen muss man sich wohl trennen. Aber um was geht es dann bei einem Konzert? Geht es darum, Teil von etwas zu sein – von irgendwas? In diesem Fall würde es keinen Unterschied machen, ob ich mir nun ein Konzert anschaue oder bei einer Fußball-WM zum public viewing gehe. Außer vielleicht, dass Thomas Müller den Ball noch selber kickt.
Geht es darum, eines der zahlreichen Publikumsspielchen des Frontmanns mitzumachen? Versteh mich nicht falsch, ich mag diese Spielchen. Gerade als Poetry Slammer ist es immer wieder schön zu sehen, was man alles mit einem Publikum machen kann. Vor allem, da die Publikumsinteraktion – auch durch die Möglichkeiten der modernen Technik – mittlerweile weit über das typische „When I say ‚ha’, you say ‚ho’!“ hinausgeht.
Wenn bei den Bloodhound Gang beispielsweise ein Foto mit einer Sofortbildkamera geschossen und ins Publikum geworfen wird. Wenn Musiker der Beatsteaks mit einem gigantischen Schlauchboot über die Köpfe der Fans hinwegschippern. Wenn Deichkind die „Zitze“ auf die Bühne holen, ein drei Meter hoher Sangria-Tank und zum „Eimersaufen“ mit der kompletten ersten Reihe lädt. Oder wenn Jan Delay 5000 Menschen dazu auffordert, synchron eine SMS mit bestimmtem Inhalt an Angela Merkel zu senden. Dann ist das natürlich schön anzusehen. Und man bekommt etwas, an das man sich erinnern kann. Trotzdem sind das Gimmicks, nicht die Substanz eines Konzerts. „Live sind die voll geil!“ heißt schon lange nicht mehr, dass die Band musikalisch zu überzeugen weiß. Aber was heißt es dann?
Geht es denn gar nicht mehr um Musik? Trübt es nicht die Wahrnehmung, wenn man weiß, dass eine Band live nicht das spielen kann, was sie auf CD spielt? In meiner Teenagerzeit war das noch ein Grund mit Bands zu brechen. System of a Down und Queens of the Stone Age waren meine Lieblingsbands. Bis ich sie live sah und Zeuge wurde von ihrem schier unerträglichen Sound-Brei, einem akustischen clusterfuck, der nichts – aber auch gar nichts – mit den Songs zu tun hatte. War ich zu hart zu ihnen? Ein Skrillex beispielsweise kann sich – wie jeder andere DJ – gar nicht verspielen. Klar, der Strom kann ausfallen und ein Meteor vom Himmel stürzen. Aber macht die Möglichkeit einer Naturkatastrophe ein Konzert zu einem spannenden Erlebnis?
Denn darum geht es ja auch, bei einem Live-Konzert: Um Fehler. Die Leistung eines Bühnenkünstlers wird – ähnlich die eines Akrobaten – auch an ihnen gemessen. Dabei geht es nicht um Katastrophengeilheit, mehr darum zu beobachten, wie bei Fehlern reagiert wird. Gibt sich der Gitarrist als hätte er nichts bemerkt? Lässt er den falschen Ton bewusst nachwirken? Oder schaut er zum Schlagzeuger und zuckt lachend mit den Schultern? Das alles sagt viel über ihn aus. Und erklärt, wieso ich den Satz „Die klingen live wie auf CD“ hasse. Weil das nicht die Aufgabe der Musiker ist, eine Tonfolge nachzuhampeln.
Natürlich ist man auch enttäuscht, wenn ein Sänger gar nicht mit dem Publikum kommuniziert. Wenn die Band einfach nur ihre Songs herunternudelt. Aber zu einem gelungenen Konzert sollte immer auch Musik gehören. Oder nicht?
Hier scheint sich in den letzten Jahren eine Kluft aufzutun. Einerseits finden Festivals immer größeren Zulauf. Andererseits eignet sich ein gros aktueller Musik nur schlecht oder gar nicht für Live-Konzerte. Dazu sind die Festival-Auftritte für die Musiker selbst – genau wie eine facebook-Seite – mittlerweile überlebensnotwendig. Physisch gibt so ein Electro-Act allerdings nur wenig her. Einem DJ am Laptop von vorne bei der Arbeit zuzusehen ist in etwa so spannend wie das Mienenspiel eines Kumpels beim Zocken.
Schon HipHop-Konzerte empfand ich – bei aller Affinität zum Sprechgesang – immer als ein bisschen langweilig. Denn selbst ein guter Freestyle oder eine schöne Tänzerin kann nicht über den Umstand hinweg täuschen, dass dort jemand steht und spricht.
Absurder wird es, wenn der DJ Flying Lotus sogar hinter einer Leinwand verschwindet, um dort aufzulegen, während ein Film läuft. Das ist im Grunde nichts anderes als wenn ein Pianist zu einem Stummfilm improvisiert. Das hatten wir doch schon – vor hundert Jahren!
So schön die so genannten Visuals, ein Konglomerat aus Licht, Bild, Tanz und Kostüm, auch sind, so oft verfehlen sie ihren eigentlichen Zweck, das Unterstreichen und „Aufblasen“ eines musikalischen Happenings. Meist übertünchen sie dieses. Oder – noch schlimmer – es gibt überhaupt nichts, das man hätte aufblasen können. Ja, treffen wir uns doch in Zukunft bei einem Konzert im Autokino und gucken youtube-Clips!
Man kann sich streiten, ob das Auf-die-Bühne-bringen rein elektronischer Musik zum Scheitern verurteilt ist. In jedem Fall ist es eine komplizierte Aufgabe für einen Musiker, der mehr sein will als ein DJ, welcher ja – wie ein Poetry Slammer auch – hauptsächlich Dienstleister ist. Wie wird diese Aufgabe von MAJOR LAZER und THE KNIFE gelöst?
Das Konzert von MAJOR LAZER leitet ein Videoclip auf einer großen, die Bühne füllenden Leinwand ein. Darauf ist (unter dem tosenden Applaus des Publikums) zu sehen, wie der Major Lazer gerufen wird, seine Waffen zückt, in ein Raumschiff steigt und los fliegt. Danach ein Countdown von 30 runter, das Publikum zählt mit.
Als Diplo die Bühne betritt, geht er nicht ans DJ-Pult, sondern schwenkt erst einmal eine Viertelstunde lang eine riesige Fahne, zündet Konfettikanonen oder steigt in einen mannshohen Plastikball und nimmt ein Bad in der Menge. Die DJ-(Drecks)arbeit übernehmen zwei Kumpels. Dass von dem ursprünglichen Duo Diplo/Switch inzwischen nur noch Diplo übrig ist, erfahre ich erst nach dem Konzert. Aber ist ja auch irgendwie egal, wenn auf CD bei jedem Song zwischen ein und vier Gaststimmen zu hören sind, von denen live natürlich keine einzige kommt. (Wie auch – bei Namen wie Bruno Mars oder MIA?) Stattdessen: Zwei exotische Tänzerinnen, die an einem der vielen Höhepunkte der Show ihre Geschlechtsteile in einer Art Mega-Lapdance an einem erlesenen Konzertbesucher reiben.
Das Konzert besteht nur aus solchen Höhepunkten. Man kann beinahe seine Uhr danach stellen, dass alle drei Minuten irgendwas Verrücktes passiert. Zum Beispiel, wenn mehrere tausend Menschen auf Wunsch ihr T-Shirt auszuziehen und in die Höhe schmeißen. Oder, wenn der Major Lazer tatsächlich noch auf der Bühne erscheint – als Plüschmaskottchen. Oder, wenn – zusätzlich zum gewöhnlichen Tanz-Arsenal – noch Europas „beste Bauchtänzerin“ auf die Bühne gebeten wird, um mehrere Songs hindurch auf dem Kopf stehend mit dem Hintern zu wackeln oder im Spagat vom Mischpult auf den Boden zu springen. Was in der Tat beeindruckend ist. Fehlt eigentlich nur noch ein Salto Mortale schlagender Monstertruck. Mit Piranhas.
Und die Musik? Wird kaum gespielt, zumindest nie ausgespielt. Dafür bleibt ja auch viel zu wenig Zeit. Vielmehr ist das Konzert eine Art Hatz durch alles, woran MAJOR LAZER in den letzten Jahren seine Finger hatte. Das ist eine beeindruckende Liste an Party-Hits, die allerdings auch dann noch beeindruckend wäre, würde man die Songs nicht nach acht Takten abbrechen und zum nächsten wechseln.
Ja, MAJOR LAZER zeigen sich meisterhaft in der Kunst, das Publikum einerseits optisch zu „flashen“, es andererseits musikalisch nie vollständig zu sättigen, um dann – ganz unmissverständlich – gegen Ende zu rufen: WER SIND WIR? WIE HEIßT UNSER ALBUM? LIEBT UNSER ALBUM! KAUFT UNSER ALBUM!
In meinen Augen war das alles relativ grauenhaft. An manchen Punkten fühlte ich mich wie in einem 2-Sterne-Hotel auf Ibiza, wenn ein besoffener Animateur die Kinder beschäftigt… Das war kein Konzert. Das war auch kein ironisches Konzert. Das war eine Werbekampagne. Beeindruckend nur, weil sie so verdammt gut funktioniert. Ja, den Leuten gefiel es.
Im krassen Gegensatz dazu stand THE KNIFE. Hier begann das Konzert so wie MAJOR LAZER endete. Mit einem Animateur, der das Publikum eine halbe Stunde lang mit Aufwärmspielchen à la „geht nach links, geht nach rechts, umarmt euren Nebenmann“ in Stimmung bringen sollte. Und dabei immer wieder beteuerte, THE KNIFE käme erst dann auf die Bühne, wenn alle bereit wären. Dabei hatte er mäßigen Erfolg. Meist wurde er belächelt.
Als er endlich die Bühne räumte und diese mit schummrigem Licht beschienen wurde, sah man sperrige Gegenstände, die von schwarzen Tüchern verhüllt waren. THE KNIFE, die bekannt sind für ihre Experimentierfreudigkeit, stellten diese in vergangenen Konzerten oft mit selbst gebastelten Instrumenten zur Schau. Manchmal erinnern die alten Konzertaufnahmen fast an Shows der Blue Man Group. Dazu muss man wissen, dass sich THE KNIFE jahrelang gänzlich weigerte aufzutreten, dann zunächst maskiert. Generell zeigt sich die Band nur spärlich und wenn, dann nie, um sich selbst oder ihre Musik zu erklären. Während auf der anderen Seite der Medaille Diplo sogar seine benutzten Kondome fotografiert und die Fotos im Internet teilt.
Als die ersten Klänge des – sehr schweren – Songs „A Cherry On Top“ ertönen, kommen nicht zwei, sondern rund zehn vermummte Gestalten auf die Bühne und geben – ebenfalls unter tosendem Applaus – die Gerätschaften frei. Diese sehen aus wie jene Lampen aus Schickimicki-Möbelhäusern, die 5000 Euro kosten. Und wie bei diesen kann man sich nur schwer vorstellen, dass sie auch funktional sein können.
Nachdem THE KNIFE schon zehn Minuten auf der Bühne stehen und noch nichts gespielt haben, was auch nur im Entferntesten tanzbar ist, erkenne ich die Geschwister Karin und Olof unter ihren Kutten. Aber auch nur, weil ich in den inzwischen fünf Jahren als Fan ein entsprechend geschultes Auge habe. Für jemanden, der kein THE KNIFE-Freak ist oder einfach zu weit von der Bühne entfernt, könnten da genauso gut zehn Plüschmaskottchen stehen. Oder Europas beste Bauchtänzerin. Entsprechend macht sich – ganz langsam – eine gewisse Unruhe im Publikum breit.
Doch anstatt der – vorwiegend unter Drogen stehenden – Menschenmasse das zu geben, wonach sie förmlich giert – Hits! Stars! Interaktion! Musik! – macht THE KNIFE genau das Gegenteil, um sich im weiteren Verlauf nach und nach von den Instrumenten wegzubewegen. Und zwar so lange bis alle „Musiker“ in der Mitte der Bühne stehen und rhythmische Sportgymnastik betreiben. So dass auch der letzte Depp merkt: Hier handelt es sich um Vollplayback.
Ganz recht, THE KNIFE, eine der heißesten Elektrobands der Welt geben ihr nach sieben Jahren lang ersehntes Comeback in Vollplayback. Und zwar ohne das zu kommentieren. Oder gar zu vertuschen. Ganz im Gegenteil: Die Sängerin macht sich einen Spaß daraus, sich immer dann, wenn ihr Gesicht großflächig auf den Bildschirmen erscheint, prominent zu räuspern oder an der Nase zu kratzen.
Für mich kommt das einem kulturellen Schock gleich. Vollplayback ist ein Tabu, genau wie Ideenklau. Eigentlich möchte ich die Band hassen. Ich stelle mir vor, ich hätte – wie mein Bruder vor kurzem – 60 Euro für eine Konzertkarte gezahlt. Ich hätte der Band diese Karte um die Ohren geschlagen! Stell dir vor du gehst auf ein THE KNIFE-Konzert und sitzt hinter einer Säule. Dann hörst du 80 Minuten lang 1:1 die aktuelle CD.
Ich muss diesen Schock erst mal verarbeiten. Ich will die Band nicht hassen. Nicht jetzt, nach all dem, was wir miteinander durchgemacht haben. Zumindest nicht so schnell. Das Publikum um mich herum sieht das wohl anders. Mehr und mehr Menschen machen ein enttäuschtes Gesicht, immer wieder ruft jemand empört: „Die spielen ja gar nicht!“ und kommt sich dabei ganz besonders pfiffig vor. Nach einer guten Hälfte hat sich die Menge zerschlagen, sodass ich bequem zur ersten Reihe spazieren kann. Während auf der Bühne inzwischen ein männlicher Tänzer am Mikrofon steht und so tut als würde er inbrünstig singen.
Irgendwann geht – vollkommen willkürlich – eine Person ans Mikrofon und sagt: „We are THE KNIFE. Thank you.“ Ein kleines Live-Atom zum Schluss. Mehr wird es nicht geben. Wahrscheinlich knobelt das Ensemble vor jedem Auftritt, wer diesen Satz sagen darf. Anschließend verschwindet es unter zähem Applaus. Ein Großteil der Menschen ist enttäuscht. Ich verfalle in eine nachdenkliche Starre, welche sich auch nicht ändert als ich erfahre, dass die Konzerte auf der Tour explizit nicht als Konzert, sondern Show angekündigt werden. (Was auf einem Festival freilich nicht geht.) Und auch die Tatsache, dass das Album „Shaking The Habitual“ heißt, kann eine derartige Dreistigkeit nur schwer rechtfertigen.
Auf der anderen Seite waren die Band-Mitglieder immerhin körperlich anwesend und haben die, teils nicht unkomplizierten, Choreografien mitgetanzt. Wieso hinterlässt eine solche Darbietung ein schales Gefühl, während ein am Klavier sitzender mit den Armen wackelnder Brian Wilson alle zufrieden stellt? Wenn fast alle großen Pop-Sänger mittlerweile mit einprogrammierten Gesangslinien, automatischer Tonhöhenkorrektur arbeiten sowie so vielen Sound-Effekten, dass sie eigentlich nur in ihr Mikrofon hinein blasen müssen? Was ist so schlimm daran, wenn ein Musiker nicht die Hits spielt, die jeder im Publikum sowieso schon hundert Mal gehört hat? Ja, inwiefern hat sich das THE KNIFE-Konzert von den restlichen auf dem Festival unterschieden? War es tatsächlich ein einziger großer Stinkefinger – nicht nur in Richtung des Publikums, sondern auch zu den Veranstaltern und Kollegen?
Schließlich boten THE KNIFE trotz allem mehr als ihre Musik. Und sie lösten im Publikum etwas aus an das es sich lange erinnern wird. Wenn auch – im Gegensatz zu MAJOR LAZER – Empörung.
Auch wenn ich den Auftritt von THE KNIFE seitdem vor meinen Freunden und Geschwistern stets verteidige, bin ich nicht zufrieden damit. Das kann man gar nicht. Denn auch für eine Show war es viel zu wenig. MAJOR LAZER bot eine Show, THE KNIFE nicht. MAJOR LAZER begeisterte, THE KNIFE nicht. Aber die Schweden machten wenigstens insofern große Kunst, als dass sie mich zum Nachdenken brachten und eine schier unerträgliche Unruhe in mir auslösten, die hoffentlich nach Fertigstellung dieses Textes ein Ende findet.
Denn ich werde das Gefühl nicht los, dass das Spektrum meines Festival-Hasses um eine weitere Farbe ergänzt wurde. Dass moderne Auftritte ausschließlich der Werbung dienen. Dass die Witzlosigkeit populärmusikalischer Darbietungen einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Und, dass THE KNIFE wenigstens so freundlich waren, mich darauf hinzuweisen. Wenn auch nur, um – genau wie ihre jamaikanischen Gegenspieler – ein neues Album zu verkaufen. Den heißen Scheiß, um genau zu sein. Allerdings nur dann, wenn man ihn auf CD hört. Oder bei youtube. Und nicht auf einem blöden Festival.
Disclaimer: Der Artikel erschien auch schon bei www.regensburg-digital.de, da wir für diesen Zweck unseren Wirkkreis einfach mal als ‚nördlich des Weißwurst-Äquators‘ definieren, passt das aber auch so.
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