The Liberator
Guavenpflücken mit Simón
Es gibt seit Anbeginn der Filmgeschichte gefühlte Fantastillionen an Historienschinken, seien es Ben Hur, Braveheart oder Der Untergang, die sich um die Taten und Untaten einiger weniger Protagonisten der Weltgeschichte drehen. Mit The Liberator (Original: Libertador) versucht Regisseur Alberto Arvelo in einer venezolanisch-spanischen Koproduktion über das Leben des Freiheitskämpfers Simón Bolívar (1783-1830; gespielt von Édgar Ramírez) einen weiteren blinden Fleck auf der Landkarte der fiktionalisierten verklärt-biografischen Verfilmungen freizurubbeln.
Ein Beitrag von Cathy und Ulf.
Wir haben den Film für euch angeschaut und klären in diesem Review, ob das Rubbellos einen Hauptgewinn oder doch nur eine Niete bereithält.
Für all diejenigen unter euch, denen der Name Simón Bolívar genauso viel sagt wie uns (nämlich nix, nada, rien) hat Pandastorm Pictures keine Kosten und Mühen gescheut, uns ein schickes, zehnseitiges Booklet mit ausführlichen Erläuterungen von Prof. Dr. Michael Zeuske (Universität Köln) zum historischen Background zu bescheren, das wir ähnlich eines Theaterprogramms vor Genuss des Filmes digestieren könnten. Haben wir natürlich nicht. Schließlich ist Glotzen das neue Lesen.
Nach den einstimmenden zwei, drei Zeilen eingeblendeten Texts – Simón Bolivar ist heldenhaft viel herumgeritten, war eigentlich cooler als Karl der Große und hat nicht erobert, sondern befreit – wird die erste Scheibe des Schinkens ganz klassisch anachronistisch abgeschnitten: Als Entrée kredenzt man uns quasi das Endstück. Der gealterte Simón wird hier in einer Hacienda von bärtigen Fackelträgern auf Pferden beim Liebesspiel gestört und muss über den Balkon über die Straße in einen Fluss fliehen. Beim Anblick der hier eingesetzten bräunlich-gelben Farbfilter drängt sich uns fast schon unweigerlich der Begriff „Telenovela“ auf. Wallendes Haar und halb geöffnete Flatterhemden machen das Ganze nicht gerade schmackhafter. Danach geht es direkt 28 Jahre in die Vergangenheit und an den spanischen Königshof in Madrid, wo Karussellfahren, Federball und Damenwahl im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Simón lernt hier seine erste Frau María Teresa del Torro y Alayza kennen, welche dann aber im heimischen Venezuela direkt an Gelbfieber stirbt. Nach einer Zeit der Unrast und Trantütigkeit erweckt ein im Film von ihm als „Maestro“ bezeichneter Freund in Simón seinen schlummernden Geist der Rebellion und Simón beschließt, das unterdrückte Volk seiner Heimat von der Knechtschaft durch die spanische Krone zu befreien. Als philosophische Untermalung wird hier immer wieder gerne Rousseau genamedropt, Simón selbst von seinem Maestro als „edler Wilder“ betitelt.
Leider fliegt der Film dabei wie ein aufgeregter Schmetterling durch das Leben von Simón und reißt viele Stationen seiner Rebellenkarriere nur an, präsentiert uns dabei viele schöne Orte und hübsch kostümierte Personen sowie pathosgeladene Dialoghülsen. Da wir als nicht-venezolanische Staatsbürger nicht schon im Kindergarten mit den Heldentaten des S.B. angefüttert wurden ertappten wir uns beim unbedarften Filmgenuss immer wieder mit großen Fragezeichen über den (hohlen) Köpfen. Dies könnte natürlich eine perfide Taktik der Produzenten des Werks sein, die Zuschauer begleitend zum Film zum offenen Dialog über die venezolanische Geschichte einzuladen (oder gar das Booklet zu lesen? Aber nicht doch!). Dies kam uns dann allerdings doch nicht nur ein wenig unwahrscheinlich vor, da der Film auf der technischen Seite mit einer gehörigen Portion Epicness aufwartet und um ungeteilte Aufmerksamkeit bittet – epische Flussläufe, epische Täler, epische Anden mit epischem Schnee, epische Liebeleien auf Blumenwiesen, epische Schlachten und Scharmützel, episches Elend gerne auch in Slow-Motion und so weiter und so fort. Dazu viele spätestens seit Der Herr der Ringe standardisierte Kamerafahrten, bei dem jedem Helikopterpiloten auf kurz oder lang schlecht werden muss. In den Schlachten auch gern abgehackt und körnig, bei Dialogen wie wir fanden unruhig und zittrig-fahrig. Der Soundtrack ist natürlich auch mega-episch und pathetisch. So gibt es natürlich die unvermeidliche Szene, in welcher der Schlachtenlärm verstummt und unhörbare Befehle zu leise wummernden Kanonen in Zeitlupe herausgeschrieen werden – 1. Semester Filmhochschule „Einführungskurs Melodrama“.
Um den Herrn Professor aus dem Booklet zu zitieren, wird uns hier der Heldenmythos Simón Bolívar als lose „Charakteristiken, Situationen und Episoden sowie Anekdoten“ 1 aufgetischt, so dass uns das als edler Serrano servierte Hauptgericht letztlich doch nur wie fade Sülze in intransparentem Aspik vom Lebensmitteldiscounter vorkam. Der Charakter des Simón Bolívar bleibt dabei blass und gesichtslos, was zu verkraften wäre, hätte man ein Netzwerk interessanter Persönlichkeiten um ihn herumdrapiert. Doch obwohl eine Revolution nicht auf den Schultern eines Einzelnen lasten kann, bleibt Simón der einzige Revoluzzer im Rampenlicht. Seine Beweggründe und Motive bleiben uns schleierhaft, wir können uns weder identifizieren, noch Empathie aufbringen oder uns dafür interessieren, was er so als nächstes vorhat. Das haben Filme wie Der Baader-Meinhof-Komplex oder Carlos – Der Schakal (in der Langfassung, auch mit Édgar Ramírez) deutlich besser gemacht.
Bleibt als Fazit: Schade Marmelade. Aus dem Stoff hätte man so viel mehr machen können. Der Film wirkt stilistisch eher wie ein verfilmtes „Was-ist-Was-Buch“ zum südamerikanischen Unabhängigkeitskrieg – für unbedarfte Europäer wie uns zudem ohne das zweite „Was“. Uns ließ auch der Verdacht nicht los, dass es eine viel längere Spielfilmfassung geben muss, die hier auf leichter zu konsumierende 119 Minuten zurechtgestutzt wurde. Immerhin die Landschaftsaufnahmen sehen gut aus und Freunde spanischer Pferde kommen auf ihre Kosten. Das vorliegende Material würde sich aber durchaus eignen, in wohl portionierte Häppchen zerstückelt serviert zu werden, unterbrochen von Experteninterviews, virtuellen Landkarten und einem väterlichen Kommentadore.
Selbstverständlich hätten wir für die full experience brav das Booklet lesen können. Doch stellt sich hier die Frage: Wieso überhaupt ein Booklet? Schließlich sind dort draußen dutzende von Historienfilmen, die auch ohne jedes Vorwissen funktionieren. Der Ausschnitt, der in einem zweistündigen Spielfilm verhandelt werden kann, eignet sich aufgrund der Kürze doch eh besser für eine pointierte Beleuchtung persönlicher Umstände der Protagonisten. Das kann dann jeder Depp nachvollziehen und sich auf dem Weg unter Umständen auch noch gleich ein bisschen mit der fremden Weltgeschichte im Hintergrund warmmachen. Offensichtlich hat man also auch beim internationalen Release feststellen müssen: „Das rafft doch keiner. Wir brauchen ein Booklet! Aber wer kennt sich denn damit aus? Ich nicht, du nicht – vielleicht der Herr Prof. Dr. von der Universität! Der kann das konzise auf 10 Seiten zusammenfassen!“ Das ist ein relativ hoher Anspruch für den 08/15-Braveheart-Zuschauer – und das dann auch nur, damit das Braveheartpathos wirken kann. Eine komplexe Obduktion der Figur des Bolívar bleibt aus (und ja, wir geben’s zu: im Nachhinein haben wir doch mal das Booklet überflogen). Sein Bestreben nach Ruhm und Ehre fällt unter den Tisch, ebenso seine 17 (!) Geliebten und sicherlich jede andere Kontroverse, die interessant gewesen wäre. Wie im Film gezeigt einen kleinen Jungen zu verprügeln, weil der einem die Stiefel geklaut hat, es danach sofort zu bereuen und sich umgehend demütig zu entschuldigen macht noch keinen kulturell zerrissenen, zweifelgeplagten Byronic hero oder Noble savage aus. Dass man Batman lieber mag als Superman ist eine menschliche Grundkonstante! Das weiß doch jeder.
Bleibt noch abschließend die eine brennende Frage offen: Hatte der mit seinen 17 Geliebten mehr Action als Rasputin? Rasputin hält da ja die Messlatte recht hoch … Und wieso kennen wir eigentlich keine Rasputinverfilmung?? Wer die erste Frage beantworten, oder uns einen Tipp zur zweiten geben kann (oder gleich den Film!), der darf gerne freudig drauflos kommentieren! Belohnung: Ruhm und Ehre.
Die Originalfassung von The Liberator ist eine Mischung aus (meist) spanischem sowie französischem und englischem Ton. Diese haben wir mit deutschen Untertiteln geschaut, es liegt natürlich auch eine deutsche Synchronisation vor. Der Film ist (ungeschnitten? Oder gibt es wirklich eine Langfassung?) von der FSK ab 12 Jahren freigegeben und ab dem 14. August 2015 überall erhältlich.
Fischpott hat eine Blue-ray Disc zu Ansichtszwecken erhalten.
- Zeuske, Michael: Simón Bolívar – Der Film und die Geschichte. Booklet zum Film. S. 1. ↩
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