The Nightingale
TRIGGERWARNUNG: Dieser Film diskutiert sensible Themen und zeigt sehr explizite Szenen körperlicher und sexueller Gewalt. In diesem Artikel werde ich auf die Schilderung von grausamen Details verzichten – trotzdem wird diese Kritik zumindest andeutungsweise auf diese Gewaltszenen eingehen. Wer damit, aus welchen Gründen auch immer, ein Problem hat, sollte an dieser Stelle aufhören zu lesen.
Zu einer meiner eindringlichsten und besonders schwer verdaulichen Filmerfahrungen gehört der Tag, an dem ich das erste Mal den russischen Film Komm und sieh von 1985 sah. Das Meisterwerk von Elem Klimov ist bis heute einer der ganz wenigen Filme, der sich das Prädikat „ANTI-Kriegsfilm“ wirklich verdient. Komm und sieh ist grausam und brutal auf eine Weise, die – anders als ein Großteil der vielen, vielen Kriegsfilme da draußen – nicht sensationsheischend oder spektakulär in Szene gesetzt wird und die Grausamkeit des Krieges für den Zuschauer wirklich erlebbar macht. Sobald der Abspann läuft, fühlt man sich leer, erschöpft, abgestumpft und entsetzt zugleich. Es ist einer der besten und wichtigsten Filme aller Zeiten – und ich habe große Schwierigkeiten, mir ihn nochmals anzusehen.
Wer diese Einleitung liest und sich denkt: Oha, das verheißt nichts Gutes für den Rest dieser Review … nun ja, der hat Recht. Denn heute reden wir über The Nightingale – Schrei nach Rache, der neue (nun ja, zumindest in Deutschland, in den USA ist der Film schon 2018 erschienen) Film von Jennifer Kent nach ihrem gefeierten Horror-Erstling The Babadook. Titel und Trailer lassen auf einen konventionellen Rachethriller im Stile der Rape ‘n’Revenge Exploitation-Filme aus den 70ern schließen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit – wenn überhaupt. Denn The Nightingale spielt in einer hochbrisanten Zeit: die australische Kolonialzeit. Na dann mal rein ins Vergnügen …
Das Jahr 1825 in Australien, genauer die britische Strafkolonie Tasmanien. Britische Soldaten befinden sich in einem grausamen Krieg mit den vertriebenen Ureinwohnern. Inmitten dieses Wahnsinns befindet sich die verurteilte und damit nahezu rechtelose Irin Clare (Aisling Franciosi) mitsamt Ehemann und Baby. Die junge Frau mit dem Spitznamen „Nachtigall“ hofft, nach einer Reihe erniedrigender Dienste für den englischen Lieutenant Hawkins (Sam Claflin) von diesem endlich freigesprochen zu werden. Nachdem er aber nach einer Auseinandersetzung mit Clares Ehemann um seine bevorstehende Beförderung gebracht wird, brechen Hawkins und zwei weitere Soldaten (gespielt von Damon Herriman und Harry Greenwood) in Clares Unterkunft ein, quälen sie und töten Mann und Kind. Alles, was der traumatisierten Clare noch bleibt, ist Rache und so nimmt in der tasmanischen Wildnis die Verfolgung auf. Unterstützt wird sie von dem fährtenlesenden Ureinwohner Billy (Baykali Gamambarr), der selbst mit dem Trauma durch die Grausamkeiten der britischen Siedler zu kämpfen hat.
Welcome to the world, boy!
Von Sekunde 1 an wird klar, dass die Sichtung von The Nightingale eine hässliche, unangenehme Erfahrung wird. Vor dem Hintergrund der britischen Kolonialzeit in Australien singt die Irin Clare vor Soldaten mit dünner, aber wunderschöner Stimme ein Lied. Das bleibt der einzige musikalische Moment des Films, der ansonsten bemerkenswert soundtracklos bleibt. Die Welt, die Jennifer Kent hier trocken präsentiert, ist eine schmutzige und erbarmungslose. Britische Soldaten nutzen ihre Macht und die Abwesenheit von Autoritäten, die sie zur Rechenschaft ziehen könnten, voll aus. Und so ist dem Zuschauer von dem ersten Moment, in dem Clare, ihr Ehemann und ihr Baby vorgestellt werden, klar, wohin die Reise geht. Es stellt sich ein Gefühl der Unausweichlichkeit ein – wir wissen, dass es zur Katastrophe kommen wird – und doch ist man nicht auf das pure Ausmaß der Grausamkeit gefasst, das Jennifer Kent auf dem Bildschirm zeigt. Selbst Sam Peckinpah hätte an dieser Stelle die Kamera gesenkt und gesagt: „Alter, chillt mal!“ Die Antagonisten werden hier fast zur Karikatur, das Leid, das Clare erfahren muss, derart brutal überzogen, dass man sich nach Ende der ersten halben Stunde nahezu so leer wie die Protagonistin selbst fühlt. Und der Film ist gerade erst gestartet.
Wird es im Anschluss leichter, The Nightingale zu gucken? Überhaupt nicht. Denn der Rache-Teil, der einen Großteil der Laufzeit einnimmt, bietet keine Katharsis. Für einen Exploitation-Film ist Kents Werk zu freudlos, die Gewalt wird nicht spektakulär aufgeladen, sondern ist einfach nur hässlich. Grausamkeit reiht sich an Grausamkeit und wirkt ab einem gewissen Zeitpunkt fast schon ermüdend. Oder eher erschöpfend. Der Satz: „Welcome to the world, boy! Full of misery, from top to bottom“ wirkt wie ein Leitbild für den gesamten Film. Es macht keinen Spaß, The Nightingale zu gucken. Irgendwann werden sogar Gewaltakte gegen Kinder nur noch als Randnotiz wahrgenommen.
Und ja, das ist halt auch irgendwie der ganze Punkt des Films.
Jennifer Kent ist nicht Eli Roth
Für Clare und den Ureinwohner Billy ist diese Grausamkeit Alltag. Die Geschichte um die australischen Strafkolonien ist eine, die nicht häufig erzählt wird. Jennifer Kent ist nicht Eli Roth. Die übertriebene Gewalt ist kein Selbstzweck, sondern ein bitterer Schlag ins Gesicht. The Nightingale ist eine Aufarbeitung einer historischen Epoche, die nur selten zur Sprache kommt. Aber das Trauma ist echt und es wurde nie vernünftig aufgearbeitet. Einer der herzzerreißendsten Szenen des Films ist der Moment, in dem Billy zusammenbricht und schluchzt: „Das hier ist mein Land! Das ist mein Zuhause!“ Tasmanien im Jahr 1825 ist keine abstrakte Hölle, sie war einmal grausame Realität. Und Kent hat nicht vor, diese zu verwässern oder durch erzählerische Klischees abzuschwächen.
Mit Trauma kennt sich die Regisseurin schließlich aus. Bereits ihr Erstlingswerk, der überaus erfolgreiche The Babadook war schlussendlich ein Charakterdrama im Horrorgewand. Und wie schon in jenem Film ist es auch hier die starke Performance der Hauptdarstellerin, die das Leid der dargestellten Szenen schmerzhaft erlebbar macht. So schwer The Nightingale auch anzugucken ist, so sehr erdet Aisling Franciosis grandiose Schauspielleistung die Handlung des Films. Clare ist dabei trotz der Sympathie, die man für ihren Rachefeldzug zu Beginn noch verspürt, ein komplexer Charakter: Ihr Rassismus und ihre Vorurteile gegen Billy, ihren Führer durch die Wildnis, ist extrem und spätestens nachdem sie sich an dem ersten Soldaten brutal gerächt hat, wird klar, dass der Zyklus aus Gewalt und Gegengewalt ein Malstrom ist, der nirgendwo anders hinführt als abwärts.
Dem gegenüber steht der von Baykali Gamambarr verkörperte Billy, dessen Tortur-Performance der von Aisling Franciosi in nichts nachsteht. Zwischen den beiden Figuren entsteht niemals eine klischeehafte Freundschaft – es bleibt eher eine grimmige Zweckgemeinschaft. Beide leben in einer Welt des Leids, aus der es kein Entkommen gibt. Sie stützen sich gegenseitig in ihrem verzweifelten Aufbegehren gegen eine weiße, patriarchale Übermacht, weil sie keine andere Wahl haben. Wenn sie dann am Lagerfeuer in ihre jeweiligen Muttersprachen verfallen – irisch für Clare und die aboriginale Sprache Palawa kani für Billy – wird klar, wie viel sie verloren haben.
Wie bereits erwähnt, hat The Nightingale, von einigen diegetisch eingebundenen Liedern abgesehen, keinen Soundtrack. Überhaupt inszeniert Jennifer Kent die Reise durch die tasmanische Wildnis sehr dreckig und finster, aber eben auch geerdet und realistisch. Die einzigen Ausnahmen bilden diverse Alptraumsequenzen, in denen Kents Horrorwurzeln durchscheinen. Diese Szenen sind effektiv genug, gleichzeitig aber auch ein wenig überflüssig.
Aufbäumen gegen das Patriarchat
Wohlgemerkt ist The Nightingale nicht bloß eine brutale Geschichtsstunde. Denn die Themen, die der Film anspricht, haben leider einen erschütternden Bezug zur Moderne. Es ist kein Wunder, dass als Protagonisten eine Frau und ein Ureinwohner gewählt wurden – zwei Personengruppen, die von einer weißen, männlichen Überzahl als weniger wert angesehen werden. Der gesamte Auslöser der zweistündigen Gewaltodyssee ist ein solcher Mann: Lieutenant Hawkins ist es gewohnt, zu nehmen. Für ihn ist Clare eine Hure, nichts weiter als ein Besitzstück, über das er nach Belieben verfügen kann. Als dieses Verhalten ein einziges Mal tatsächlich Konsequenzen zu haben droht, lässt er seinen gesamten Frust an Schwächeren aus. An Clare, an Ureinwohnern, an Kindern, sogar an ihm Untergebenen. Auf seiner Reise durch die tasmanische Wildnis lässt er seinen Frust an Damon Herrimans Ruse aus – und der gibt diesen Frust wiederum an den ihm Untergebenen aus. Es wird permanent und mit absoluter Selbstverständlichkeit nach unten geschlagen – mit dem einzigen Ziel der Demütigung.
Kommt das irgendwem bekannt vor?
Rassismus, Sexismus, Unterdrückung, Entmenschlichung – wer sich fragt, ob ein extrem brutaler, freudloser, grausamer Film wie The Nightingale wirklich notwendig ist, erhält hier vielleicht eine Antwort. Denn diese Themen sind auch losgelöst von dem historischen Kontext des Films schmerzhaft aktuell. Sam Claflin spielt den hassenswerten Lieutenant Hawkins effektiv als Sinnbild für männliche Privilegien und Besitzdenken, der, als ihm die Position, von der er überzeugt ist, dass sie ihm gehört, entzogen wird, wie ein Kleinkind in einem Tobsuchtsanfall reagiert – nur halt mit tödlichen Folgen. Er ist es gewohnt zu nehmen, er ist es gewohnt, Macht zu haben. Er ist es nicht gewohnt, dass man „Nein“ zu ihm sagt.
Und genau deshalb sind die letzten Szenen von The Nightingale so kraftvoll und machen eine Sichtung trotz des ermüdend brutalen Inhalts so wichtig. In einem verzweifelten wie ausgelaugten Monolog bringt Aisling Franciosi all den aufgestauten Frust, all das Leid, all das Trauma, all die Machtlosigkeit in den Vordergrund. Aus dieser Szene spricht Erschöpfung und Resignation…aber auch eine innere Stärke, die all die mächtigen Männer in Uniform, an die diese Worte gerichtet sind, niemals haben werden. In der letzten Szene des Films zeigt sich dann schließlich ein winziger Funke Hoffnung, der vielleicht etwas klischeebehaftet ist, gleichzeitig aber nach zwei Stunden purer Finsternis dringend benötigt wird.
Gewalt als Plädoyer gegen Gewalt
„Warum sollte ich mir so einen Film angucken?“ Eine berechtigte Frage. The Nightingale macht keinen Spaß. Die Brutalität des Gezeigten ist derart schonungslos und abscheulich, dass ich es niemandem verüble, der diesen Film nicht anrühren möchte. Und doch finde ich es wichtig, dass er existiert und dass er geguckt wird. Denn das Medium Film kann mehr als bloß unterhalten. Komm und sieh von 1985 macht ebenfalls keinen Spaß zu gucken. Aber es ist eindringlich. Es bleibt im Gedächtnis. Und in beiden Filmen ist die dargestellte Brutalität kein Selbstzweck. Kein Spektakel. Sondern es macht die Ungerechtigkeit dieser Welt erlebbar.
Weil sie real ist. Weil sie heute noch existiert. Und es wird höchste Zeit, dass wir etwas dagegen tun.
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