The Watcher Sie sieht dich von Ross Armstrong
Lily Gullick beobachtet gerne Vögel. Als Birdwatcher möchte sie aber nicht betitelt werden. Eher schon als Birder, auch wenn sie wegen einer einzelnen Vogelart wohl noch nie ins Ausland gereist ist. Ihre Beobachtungen finden alle an ihrem Balkonfenster im Norden Londons statt. Und damit die Nachbarn denken, sie interessiere sich ausschließlich für die heimische Vogelwelt, pisht sie hin und wieder dabei: »Caroo! Caroo!« In ihrem Tagebuch hält sie akribisch alle Sichtungen fest. Doch da sich das Fernglas des Hitchcock-Fans zudem gerne mal in den Fensteransichten der Nachbarschaft verirrt, kommt es auch zu Sichtungen der ganz anderen Art. Schließlich ist The Watcher Sie sieht dich von Ross Armstrong eine Crime Story und kein Handbuch für Ornithologen.
WWP – Tippi Hedren und Janet Leigh:
Waterway Apartments – im Schutz der Dunkelheit, leichte Brise, 19°C – blond und rot, weiß, weiblich, Pärchen, beide etwa 170 cm – entspannt, fröhlich
Ihr Mann Aiden hält Lilys Verhalten für bedenklich, findet an der Sichtung dieses lesbischen Paares dann aber doch Gefallen. Ansonsten lässt er sich nur sehr schwer aus seiner Zurückgezogenheit locken. Der Schriftsteller sitzt gerade an den letzten Kapiteln seines neuesten Werkes und verlässt gar nicht mehr das Haus. Oft noch nicht mal mehr das Schlafzimmer. Lily hingegen ist immer wieder unterwegs.
WW – ich, Lily:
im Spiegel – nachts in meiner Wohnung – verheiratet, absolut einzigartig – hellbraune Haare, weiß, weiblich, Pärchen, etwa 174 cm – könnte Ärztin sein, in einem anderen Leben
Denn für ihre Nachbarn ist Lily Gullick Frau Doktor, die sie regelmäßig konsultieren. Nur hat Lily weder einen Doktortitel, noch ist sie Ärztin. Eigentlich möchte sie nur ihren Internetanschluss behalten. Im Keller ihres Hauses gibt es nämlich nicht genug Anschlüsse für alle. Also zieht der technische Dienst nach dem Zufallsprinzip immer wieder einen der Stecker, um Platz für seinen Auftraggeber zu schaffen. Damit dies nicht länger bei ihr passiert, hat ihr ein Bekannter geraten, dort einfach den Hinweis »Arzt im Dienst« zu platzieren. Seither erteilt sie vermeintlich medizinische Ratschläge oder verordnet Fußpilzsalbe gegen Hautausschläge.
WW – Jean:
Canada House – warmer Abend, europäische Brise, stockfinstere Nacht – graue Dauerwelle, weiß, weiblich, 170 cm – alleine, misstrauisch, knallhart im Nehmen und Austeilen
Weil Lily nicht gut schlafen kann, wandert sie manchmal nachts in der Nachbarschaft herum. Was nicht ganz ungefährlich ist, denn in ihrem Wohnblock sorgen Abrissbirnen für sozialen Unfrieden. Einstige Sozialwohnungen sollen modernen Eigentumswohnungen weichen. Wobei nur wenige von ihren neuen Eigentümern bewohnt sind. Die meisten dienen nur als Anlageobjekte, sind bestenfalls an Touristen vermietet. Stehen gar leer. Für die bisherigen Anwohner des Viertels bieten sie jedenfalls kein Zuhause. Die müssen die Umsiedlung in unbeliebte Stadtteile ertragen. Oder sind widerspenstig wie Jean, die einfach in dem zum Abriss freigegebenen Haus wohnen bleibt. Lily war ihr jüngst begegnet und hatte die Straßenseite gewechselt. Dafür will sie sich nun des Nachts entschuldigen. Ihr Besuch endet aber fast damit, dass Jean sie mit einem Schürhaken erschlägt. Dabei ist es tatsächlich Jean, die am nächsten Tag erschlagen aufgefunden wird.
Unbekannt – unbekannt:
Killer – unser Viertel, 15°C, mild – unbekannt – unbekannt – unbekannt
Lily hat nun eine Mission: Sie will unbedingt herausfinden, wer Jean auf dem Gewissen hat. Und ob es einen Zusammenhang zu der seit Tagen als vermisst geltenden Studentin gibt. Ihre Erkenntnisse notiert Lily in ihrem Tagebuch. Das sich an ein Du richtet, von dem lange nicht klar ist, wer dieses Du sein soll. Eine Freundin vielleicht? In jedem Fall eine sehr vertraute Person, die sich so wie Lily auf das Birden versteht. Eine Person aber auch, zu der Lily keinen direkten Kontakt wünscht. So zuckt sie immer wieder zusammen, wenn das Telefon klingelt. Sie fürchtet, Du könnte ihr Dinge sagen, die sie nicht hören will. Und dabei gibt es so einiges, das Lily in ihrer eigenen Welt nicht wahrhaben will…
WM – Ross Armstrong:
wahrscheinlich ganzjährig irgendwo in London – Schauspieler und Schriftsteller, mittlerweile wohl verheiratet – braune, schon etwas schüttere Haare, weiß, männlich – Cricket-Fan, beobachtet gerne den Mond
The Watcher Sie sieht dich ist das Erstlingswerk des britischen Theater- und Fernsehschauspielers Ross Armstrong. Der laut Klappentext auf die Idee zu seinem Roman kam, als er beim Beobachten des Mondes mit dem Fernglas auch mal in die Fenster der Nachbarn schaute. Nun ist das mit dem Voyeurismus so eine Sache: Wir tun und lieben es alle, auch wenn wir dabei vielleicht keine Ferngläser benutzen und unsere Erkenntnisse auch nicht notieren. Das wusste schon Alfred Hitchcock, weshalb sich jeder, der etwas über diese Art nachbarschaftlichen Miteinanders erzählen möchte, an seinem Rear Window – Das Fenster zum Hof messen muss.
WW – Britta:
Köln – Fischpott-Rezensentin – dunkelbraune Haare, weiß, weiblich, 169 cm – entspannt, da gut unterhalten
Im Fall von The Watcher Sie sieht dich sehe ich aber neben dem offensichtlichen Vergleich vielmehr die Eigentümlichkeit der Hauptfigur, die dann mal so gar nichts mit der Hitchcocks Vorlage zu tun hat. Tatsächlich hatte ich anfänglich so meine Schwierigkeiten mit ihr, zu überspannt kam mir Dr. Lily daher. Das lag aber wahrscheinlich an meiner Vorgänger-Lektüre. Der Weg von Arne Dahl zu Ross Armstrong war dann doch ein bisschen weit. Im Laufe der Zeit wuchs aber meine Begeisterung für Lilys Betrachtungen. Seien es jene, die die Handlung vorantreiben. Oder auch jene des Lebens an sich. Denn das ist es doch, was Erzählungen interessant macht: Wenn Leute einen mit ihrem Blick, ihren – wenn auch manchmal arg abseitigen – Ansichten konfrontieren. Und somit zu denken geben.
WM – George Bristow:
Hastings, East Sussex – Ornithologe – unbekannt – des Betrugs bezichtigt wegen vermeintlicher Sichtung von 29 nicht heimischer Vogelarten, Hastings-Rarities-Affäre
Gegen Ende des Buches vergleicht Lily ihre Situation mit der Hastings-Rarities-Affäre. Der britische Ornithologe George Bristow hatte die Sichtung von 29, bislang nicht in der British Birds List geführten Vogelarten protokolliert. Offenbar einzig zum Zweck, durch den Verkauf von importierten, ausgestopften Versionen dieser Arten einen ordentlichen Reibach zu erzielen. Schließlich hatte er seinen Ruf als Birder verloren. Doch dann gab es tatsächlich Sichtungen eben dieser Vogelarten, sodass diese dann doch wieder auf der britischen Liste landeten.
Lily fragt sich nun, was die Moral aus der Geschichte sei: Vielleicht war nur sein Vorgehen der Vermarktung schlecht gewählt. Vielleicht bedeutet es aber auch, dass sich manche Lügen im Nachhinein als wahr herausstellen können. Für Lily bedeutet dies jedenfalls, dass ihr bei der Vermarktung ihrer Sichtungen definitiv etwas mehr Impulskontrolle geholfen hätte. Es bedeutet aber auch, dass nicht alles, was sie sieht, zwangsläufig der Realität entspricht. Und gerade diese Erkenntnis macht die Lektüre genauso amüsant wie verstörend.
BR – The Watcher Sie sieht dich:
England – Buch, Roman, Scherz Verlag – schwarzes Cover, grün gelber Titel – spannend, amüsant, verstörend