Traue keinem Rentner mit Wohnmobil
Stephen King warnt: »Man weiß nie, wer darin sitzt.
Oder was.«
In letzter Zeit tauchte in meiner Facebook-Timeline mehrfach der Hinweis auf, dass »Steam« irgendwie nicht funktioniere und man deshalb früh ins Bett gehe. Ich war reichlich irritiert, denn in meiner Welt der letzten Zeit stand »Steam« für die Lieblingsdroge von bösartigen Rentnern. Vorzugsweise in Wohnmobilen unterwegs, sind diese Alten immer auf der Suche nach Kindern, die das Shining haben. Denn deren Steam wirkt auf die unmenschlichen Senioren wie ein Jungbrunnen. Sollte es in meiner Timeline tatsächlich solch fiese Wesen geben? Muss ich mir jetzt Sorgen machen?
Die große Fortsetzung von Shining
Lange ist es her, dass ich »Shining« von Stephen King las. So lange, dass ich wohl etwas Steam bräuchte, um mich an die Details erinnern zu können. Irgendwas mit einem Hotel, in dem Geister leben. Oder war das Hotel selbst der böse Geist? Eine Familie – Mutter, Vater, kleiner Junge –, die in diesem Hotel überwinterte. Der Vater hatte den Job als Hausmeister übernommen, weil er als Schriftsteller seine Familie nicht über Wasser halten konnte. Vielleicht hatte er den Job aber auch nur übernommen, um dort, abgeschieden vom Rest der Welt, seinem Alkoholismus und seinem Jähzorn zu frönen. Für ihn ging die Geschichte jedenfalls schlecht aus, irgendwas mit einer explodierenden Heizungsanlage. Sohn und Ehefrau hatten überlebt. Und das, obwohl der kleine Danny wegen seiner Hellsichtigkeit die wahren boshaften Ausmaße des Hotels und seiner untoten Bewohner mit ansehen musste. Immer wieder sei er gefragt worden, was aus Danny und Wendy Torrance geworden sei, erzählt Stephen King in seinen Anmerkungen. Und auch er selbst habe sich beim Duschen oder beim Autofahren immer wieder gefragt, wie alt der kleine Junge mit dem Shining heute wohl sei und wo er vielleicht lebe. Aus diesen Überlegungen heraus entstand schließlich »Doctor Sleep«.
Die Geister der Vergangenheit
»Doctor Sleep« ist der Spitzname des erwachsenen Danny Torrance, der sich ansonsten jetzt einfach Dan nennen lässt. Als ungelernter Altenpfleger arbeitet er in Hospizen und hilft dort Menschen, den Weg in den Tod angstfrei zu gehen. Im Helen-Rivington-Hospiz, dem Pflegeheim für Sterbenskranke in der fiktiven Kleinstadt Frazier im Bundesstaat New Hampshire, hilft ihm dabei der Kater Azzie, der Menschen meidet, bis sie dem Tode nahe sind. Vor dieser unheimlichen Allianz war der einzige Kater, den Dan Torrance kannte, der nach einem ausgiebigen Saufgelage. Denn allen kindlichen Schwüren zum Trotz, niemals so zu werden wie sein Vater, ist aus Dan genau das geworden: ein gewaltbereiter Alkoholiker, der sein Leben vor die Wand fährt. Ruhelos zieht er von Ort zu Ort, und ruhelos bleibt er immer nur so lange trocken, bis er genug Geld zusammen hat, um sich mal wieder ein Wochenende lang so richtig volllaufen zu lassen. Und wenn ihm dann einer querkommt, fackelt er nicht lange und schlägt direkt zu. Das hat schon zu so mancher Bekanntschaft mit den örtlichen Polizeibehörden geführt. Irgendwie ist er aber doch immer mit einem blauen Auge davongekommen. Wie oft hat er sich geschworen, dass ihm das nie wieder passiert. Um dann doch wieder in einem fremden Bett neben einer fremden Frau aufzuwachen, ohne jegliche Erinnerung daran, was in der Nacht zuvor passiert sein mag. Aber genau in dieser Erinnerungslosigkeit liegt auch der Grund für seine Alkoholbegeisterung: Noch immer toben ihn ihm die Geister der Vergangenheit. Zwar hat er gelernt, die Monster in seinem Kopf einzukerkern, aber sein Shining ist noch immer stark genug, um neue hinzukommen zu lassen. Eines Morgens wacht einmal mehr neben einer fremden Frau auf, für deren Koks-Bedürfnis er offenbar sein ganzes Geld ausgegeben hat. Gerade damit beschäftigt, sie seinerseits um ihre letzten 70 Dollar zu bringen, steht plötzlich ein kleiner Junge in Windeln hinter ihm. Der hat Spuren von Gewaltanwendung an seinen Armen und zeigt mit seinem kleinen dicken Finger auf die Koks-Reste auf dem Couchtisch, schreit dabei vergnügt: »Zucka!« Gerade noch räumt er das Koks weg, nimmt dann aber das Geld und lässt Kind und Mutter zurück. Damit hat Dan Torrance seinen Tiefpunkt erreicht. Es kann nur noch besser werden.
Des Menschen letzter Hauch
In Frazier trifft Dan Torrance nicht nur auf seinen Sponsor, der ihn mit zu den Anonymen Alkoholikern nimmt. Hier begegnet ihm auch Abra Stone. Die Kleine ist gerade zwei Monate alt und lebt mit ihrer Familie zwanzig Meilen weit entfernt, als sie erstmals mit ihm Kontakt aufnimmt. Bis die beiden sich das erste Mal von Angesicht zu Angesicht sprechen, vergehen über zwölf Jahre. Andere hätten in dieser Zeit vielleicht gemailt oder gesimst, um den Kontakt zu halten. Die beiden Telepathen aber benötigen für ihre Kommunikation keine technischen Hilfsmittel. Denn Abra hat wohl das stärkste Shining, das überhaupt nur vorstellbar ist. Und das bleibt auch den Jägern des Shinings nicht verborgen. »Wahrer Knoten« nennen sie sich und leben zum Teil schon seit Jahrhunderten. Ihre Tarnung als harmlose Rentner, die mit ihren Wohnmobilen niemals das Tempolimit überschreiten und in der Öffentlichkeit nur die besten Anzüge tragen, funktioniert perfekt. Sollte es dann doch mal zu Schwierigkeiten kommen, verfügt ein jeder von ihnen über mindestens eine präkognitive Fähigkeit. So sind auch sie Telepathen, können ihre Sichtbarkeit reduzieren oder andere Menschen zum sofortigen Einschlafen bewegen. Das Finden von Kindern mit Shining aber ist ihr wichtigstes Talent, denn deren Steam hält sie am Leben. Steam, so lernen wir, ist des Menschen letzter Hauch. Dan Torrance sieht ihn als matt-roten Dunst, der aus Nase, Mund und Augen aufsteigt, wenn Menschen in seiner Gegenwart sterben. Es ist aber nur der Steam von hellsichtigen Kindern, auf den es die Wahren abgesehen haben, und der muss vorher erst gereinigt werden. Um das zu erreichen, foltern sie ihre Opfer, bevor sie sie töten und die gewünschte Essenz mit ihren langen hässlichen Zähnen aufsaugen. Doch manchmal wird der Nachschub knapp, und die Konserven gehen langsam zur Neige. Einen Steamhead wie Abra in ihre Finger zu bekommen, könnte das Ende aller Sorgen für den Knoten bedeuten. Für Dan Torrance gilt es nun, seine junge Freundin vor diesen üblen Rentnern zu beschützen.
Die Geschichte eines Alkoholikers
Das klingt alles so, als wolle Stephen King seinen Kritikern beweisen, dass er noch immer der Meister des Schreckens ist (einige hatten nach seinem letzten Roman frevelhafterweise behauptet, er würde vielleicht dem Horror abschwören)? Kann sein. Aber wie immer sehe ich in seinen Geschichten großzügig über das Blutrünstige hinweg und konzentriere mich auf den ganz normalen Wahnsinn, wie wir ihn auch aus unserem realen Leben kennen. »Doctor Sleep« ist die Geschichte eines Alkoholikers. Eines Alkoholikers, wie Stephen King selbst einer ist. Irgendwie genesen in seinem Fall, ja, aber als Marcus Lanz ihn bei seinem ersten Auftritt im deutschen Fernsehen ständig mit dem Thema traktierte, antwortete der Schriftsteller sinngemäß: Wenn wir noch länger drüber reden, komme ich noch auf die Idee, direkt die nächste Kneipe aufzusuchen. Auch betonte er, wie schwer er sich damit getan habe, von der Arbeit der Anonymen Alkoholiker zu erzählen. Schließlich seien sie genau das, anonym, und da gehöre es eben nicht zum guten Ton, die eigenen Erfahrungen öffentlich auszuplaudern. Ohne eigene Erfahrung kann ich es sicherlich nicht wirklich beurteilen, aber mit »Doctor Sleep« vermittelt Stephen King den Eindruck, in diesem Punkt sehr authentisch zu sein. Und genau das ist es, was dieses Buch so lesenswert macht: Da weiß einer, wovon er spricht.
Ein Muss für Fans
Dass wir dann auch noch einmal mehr vermittelt bekommen, warum das Leben ein Rad ist, bei dem sich alles immer wieder auf Anfang stellt, lässt mein Herzchen zusätzlich mindestens genauso hüpfen wie Dialogausschnitte dieser Art:
»…Willst du eine Geschichte hören? Eine, die ich noch nie jemand erzählt habe? Aber ich warne dich, die ist ganz schön merkwürdig. Wenn du meinst, meine spezielle Gabe hätte nur mit so banalem Zeug wie Telepathie zu tun, dann irrst du dich gewaltig.« Er [Dan Torrance] hielt inne. »Es gibt andere Welten außer dieser hier.«
Ja, die gibt es. Im konkreten Fall führt uns die Geschichte zurück in die Zeit, als das Geistervolk im Overlook Hotel noch sein Unwesen trieb. Fans aber kennen die zentrale Bedeutung großer dunkler Gebäude im Kingschen Universum. Die haben immer irgendwie ihr Eigenleben und sind selten von guten Wesen bewohnt. Das ist mindestens so gewiss wie die Gesellen, die sich nachts in unseren Schränken oder unter unseren Betten tummeln. In diesem Sinne kann ich jedem Freund (und jeder Freundin) der neurotischen Angstlust nur empfehlen, noch kurzfristig Stephen Kings neuesten Output in die Weihnachtswunschliste aufzunehmen. Es geht doch nichts über ein paar schlaflose Nächte zwischen den Jahren.