Victoria
Lasst uns über Gimmicks reden. Gimmicks sind in der Regel attraktive Beiwerke zu einem Produkt, die selbigem aber keinen zusätzlichen Wert verleihen. Bekanntestes Beispiel: In den 70er-Jahren revolutionierte das deutsche Yps-Heft das Gimmick, bot zu dem Heft jedes Mal ein anderes kleines Geschenk, seien es die berüchtigten Urzeitkrebse oder leicht zerbrechliches Plastikspielzeug. Mit anderen Worten: Sieht schick aus, bringt aber nichts.
Filme haben nun das „Problem“, dass sie nicht mit Urzeitkrebsen aufwarten können, um ihr Publikum in den Bann zu ziehen. Gimmicks in Filmen müssen also zwangsläufig formaler Natur sein. 3D ist da eines der moderneren Schlagworte. Kaum ein Blockbuster kann mittlerweile besucht werden, ohne dass man am Eingang zu unverschämten Preisen eine dieser Brillen ausgehändigt kriegt, mit denen man Filme, die nie darauf angewiesen wären, direkt vor der eigenen Nase erleben „darf“. Sieht schick aus, bringt aber nichts.
Und während diverse Filmgimmicks wie die „Found-Footage“-Machart allmählich abebben, gibt es ein Beispiel, das nach wie vor ein großer Seh- und Kaufanreiz bietet: Der One-Take.
One-Take, Baby
Plansequenzen, in denen lange Filmabschnitte ohne einen einzigen Schnitt gezeigt werden, sind bei weitem nicht neu. Wer erinnert sich nicht an die zweieinhalbminütige, meisterhaft choreographierte Krankenhaus-Schießerei aus John Woos Hard Boiled? Die ikonische Restaurant-Szene aus Martin Scorseses Goodfellas? Die Schützengraben-Kamerafahrt aus Stanley Kubricks Frühklassiker Wege zum Ruhm? Der Korridor-Hammer-Kampf aus dem südkoreanischen Oldboy?
Besonders in jüngerer Vergangenheit gab es eine kleine Renaissance des One-Take-Hypes: Fernsehserien wie True Detective oder Daredevil boten in ihren Schlüsselfolgen lange One-Take-Action-Sequenzen, die – wohlkalkuliert – das Internet in einen kollektiven Orgasmus trieben; Filme wie das Weltraumspektakel Gravity oder der Oscar-Preisträger Birdman faszinierten mit scheinbar endlosen Sequenzen, die wie aus einem Fluss wirkten und lediglich mit wenigen versteckten Schnitten und Übergängen arbeiteten.
Nun kommt ein kleiner deutscher Film daher, von dem bis dato kaum jemand gehört hat, noch dazu mit dem vollkommen nichts sagenden Titel Victoria – und nimmt Filmkritiker wie Publikum aus dem Nichts kommend völlig in Beschlag. Die Begeisterung scheint kein Ende zu finden. Zweieinhalb Stunden ohne einen einzigen Schnitt – ein Meisterwerk! Ambitioniert und über alle Maßen bewundernswert ist das Projekt Victoria allemal. Aber ist der 140-minütige One-Take wirklich so meisterhaft – oder am Ende doch nur wieder ein Gimmick?
Berlin, du bist so wunderbar
Victoria beginnt wie in Trance – helles Stroboskop-Licht (Warnung an alle Epileptiker), aus dem sich nur langsam ein erkennbarer Schemen schält, der sich schließlich als tanzende junge Frau herausstellt – unsere titelgebende Victoria. Von dieser Eröffnungsszene in einem Berliner Club an heftet sich die Kamera an ihre Fersen und lässt nicht mehr von ihr ab – die ganzen zweieinhalb Stunden bleibt der Zuschauer immer bei Victoria, sieht was sie sieht, folgt ihr durch die Nacht bis in den frühen Morgen – alles in Echtzeit. Dies erweist sich gerade in der ersten Hälfte des Filmes als größte Stärke des Films: Anstatt bloß schickes Beiwerk zu sein, hilft dieser schnittlose Aufbau dabei, die Figur Victoria wirklich kennenzulernen.
Gerade die Interaktionen mit Sonne, Blinker, Fuß und Boxer erweisen sich dabei als die größte Stärke des Films. Allzu viel passiert hier nicht, wir sehen nur fünf Gestalten, die betrunken durch das nächtliche Berlin ziehen und Blödsinn treiben, während Sonne mehr oder weniger unbeholfen mit Victoria flirtet – aber es ist die Authentizität des Ganzen, die hier eine besondere Faszination ausüben. Alle diese Charaktere wirken echt, sie wirken real, man hat das Gefühl, sie so oder ähnlich tatsächlich mal getroffen zu haben. Die Dialoge wirken natürlich und trotzdem interessant, die Interaktionen treffen da genau die richtige Balance.
Später in einem verlassenen Café erfährt der Zuschauer dann auch endlich mehr über Victoria selbst – eine tolle und sehr berührende Szene, die ganz den beiden Schauspielern Laia Costa und Frederick Lau gehört. Zwischen den beiden herrscht trotz (oder vielleicht gerade wegen) den überwiegend improvisierten Dialogen eine glaubhafte Chemie. Victorias tragischer Blick in die Vergangenheit bietet dann auch eine einigermaßen plausible Erklärung für die späteren, etwas unglaubwürdigen Momente des Films.
Zwischen Experimentalkino und schlechter Tatort-Folge
Die wahren Probleme von Victoria beginnen in der zweiten Hälfte – genauer: Der Bankraubplot. Nicht dass dieser schlecht wäre, im Gegenteil, hieraus zieht der Film einige seiner spannendsten Momente. Vielmehr schadet dieser doch sehr „filmische“ Plot der Glaubwürdigkeit des Filmes. Hier tritt wieder das auf, was ich so gerne den Gone Girl-Effekt nenne: Der Realismus und die Charaktere aus dem ersten Teil waren einfach zu gut, sodass die zweite Hälfte im Direktvergleich zu plötzlich kommt, zu radikal den Ton verändert und dadurch ein ganzes Stück konstruierter wirkt.
Tatsächlicher Tiefpunkt des Films ist die Tiefgaragenszene, in der unsere Protagonisten von dem zwielichtigen Gangster gebrieft werden. Die ganze Szene wirkt wie aus einem anderen Film, nein, dank der eher unterdurchschnittlichen Leistungen von André Hennicke, der viel zu hölzern und stereotyp den Gangsterboss mimen will, hat das ganze Geschehen kurzzeitig die Aura einer schlechten Tatort-Folge. Glücklicherweise dauert die Sequenz nicht allzu lange und nur wenige Minuten später sind wir auch wieder mit unseren Protagonisten alleine, die in ihrem unterschiedlichen Umgang mit der Situation darstellerisch besonders glänzen können.
Die Glaubwürdigkeit, die der Film zu Beginn noch so meisterhaft vermitteln konnte, ist ab diesem Moment leider dahin. Stattdessen tauchen oft gesehene Klischees auf, wie der pünktlich streikende Motor.
Damit der spannungsgeladene finale Akt einsetzen kann, entscheidet sich Regisseur Schipper zudem dafür, seine Charaktere zwischenzeitlich so strunzdumm zu sein, dass es wirklich wehtut. Ich weiß, dass die Handlung vorangetrieben werden muss, aber wer ist denn bitte so blöd und parkt sein Fluchtauto nur wenige Straßen vom Tatort entfernt in einer mehr als offensichtlichen Seitengasse – und geht danach erstmal lautstark in den Club nebenan??? Natürlich sind die vier Jungs und Victoria alles andere als Profis, natürlich sind es dumme Halbstarke, das ist ja Teil des gesamten Charmes von Victoria gewesen – aber es sind Momente wie diese, in denen man sich als Zuschauer wirklich nur noch die Handfläche mit voller Wucht ins Gesicht ballern kann. Einzig die charismatische Darstellung der Schauspieler verhindert, dass man den Figuren das Erwischtwerden tatsächlich WÜNSCHT!
Deutscher Genrefilm lebt!
Glücklicherweise kriegt der Film so grade nochmal die Kurve, was zu einem hochspannenden, dramatischen Schlussakt führt. Und da die Kamera wie eh und je an Victoria klebt, wird aus einem in anderen Filmen vielleicht eher klischeehaften Standard-Finale ein Fingernägelbeißer allererster Kajüte. Hier arbeitet die Form ein letztes Mal zum Vorteil des Films, denn man ist so nah dran, dass die Wucht des Geschehens spürbar ist. Vor allem Laia Costa gibt auf den letzten Metern ihrer zweieinhalbstündigen Odyssee nochmal richtig Gas und liefert eine der besten schauspielerischen Leistungen des ganzen Jahres ab. Plötzlich läuft dann der Abspann und man merkt, dass man die ganze letzte halbe Stunde angespannt am äußersten Rand des Kinosessels gekauert hat.
Ein ganzer Film in einem einzigen Take – das bedeutet zwar, dass die Kameraführung ein wenig auf Kosten der Ästhetik geht. Oft ist zudem der Bildaufbau ein wenig konfus und ganz scharf sind die Einstellungen auch nicht immer. Aber ein Gimmick ist der schnittlose Film trotzdem nicht – zumindest nicht nur. Man mag argumentieren, dass Victoria ohne seinen großen „Verkaufspunkt“ ein weitgehend unbeachteter Standard-Thriller wäre und man hätte vollkommen recht damit. Nichtsdestotrotz sorgen die grandiosen Schauspielleistungen (sieht man mal von André Hennicke ab) und die natürlich wirkenden Dialoge in Kombination mit Sebastian Schippers komplexer Inszenierung für ein beinahe rauschartiges Kinoerlebnis, das man in dieser Form sehr selten sieht. Vor allem aus Deutschland. Kein Meisterwerk, bei weitem nicht, aber nichtsdestotrotz hohe Filmkunst. Wer sagt jetzt noch, dass der Genrefilm in Deutschland tot ist?
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