Wind – der Atem aller Welten
Zeit ist für Stephen King ein Schlüsselloch
»Wind« (»The Wind Through The Keyhole«) lag bereits bei Fischpotts unterm Weihnachtsbaum. Nun fand Band 4.5 des eigentlich siebenteiligen Dark-Tower-Zyklus von Stephen King seinen Weg auf meinen Nachttisch. Mit seinen circa 300 Seiten bleibt dieses Werk für Kingsche Verhältnisse ungewöhnlich überschaubar. Und doch erzählt der Meister des Schreckens hier gleich zwei ineinander verschachtelte Geschichten innerhalb eines neuen Segmentes seines Epos.
Der Dunkle Turm – Zentrum aller Welten
Tatsächlich setzt »Wind« keine Vorkenntnis voraus. Ein wenig Hintergrundwissen respektive Erinnerung kann aber auch nicht schaden: Roland Deschain ist Revolvermann und als solcher der letzte seiner Art. Bevor sich seine Mittwelt weiterbewegt hat, stellten Revolvermänner Verteidiger des Landes und seiner Kultur dar. Nun aber gibt es kein Land mehr, das er verteidigen könnte, und die Kultur ist untergangen. Übriggeblieben sind öde Wüsten, vom Mob terrorisierte Städte, Hightech mit Fehlfunktion und die Magie des Schwarzen. Chef dieser dunklen Magie ist der Scharlachrote König, der im obersten Stockwerk des Dunklen Turms eingesperrt ist. Diesen Turm zu finden ist Rolands Ziel, sein Schicksal, sein Ka. Das Zentrum aller Welten soll der Turm sein und auf sechs Balken lagern, den Verbindungspfaden zwischen zwölf Portalen, die Tiernamen tragen. Vier der sechs Balken sind bereits gebrochen, und dank stupide arbeitender Balkenbrecher werden die beiden verbleibenden auch nicht länger halten. Daran kann auch das Pendant des Turms, eine rote Rose auf einem verlassenen Grundstück inmitten vom New York unserer Welt, nichts ändern. Roland startet seine Suche alleine auf den Spuren von Walter, dem Mann in Schwarz. Bald stellt er aber fest, dass es mehr Welten gibt als diese. Durch drei magische Türen zieht er sich drei Gefährten aus einer offenbar völlig anderen Realität und wird damit vom unkommunikativen Einzelgänger zum Dinh, dem Anführer einer Schicksalsgemeinschaft, seinem Ka-tet. Als erstes trifft es Junkie Eddie Dean aus dem New York der Achtzigerjahre. Zu ihm gesellt sich die schizophrene Odetta Holmes, die so wenig von der in ihr tobenden Detta Walker weiß, wie sich Detta der sympathischen Rollstuhlfahrerin Odetta bewusst ist. Sie stammen aus dem New York der Sechzigerjahre und verschmelzen zu einer Person, die sich Susannah nennt und Eddies Frau wird. Der Dritte im Bunde ist der elfjährige Jake Chambers aus dem New York der Siebzigerjahre. Seine Rückkehr in die Geschichte stürzt nicht nur Roland in den Zustand paradoxer Verwirrung. Kennen gelernt hatten Roland und Jake sich zuvor schon in einer Zwischenstation. Für Roland war sie eine aufgegebene Raststätte und Jake eine Behinderung. Für Jake bedeutete die Station hingegen einen Halt auf dem Weg in den Tod, in den Roland ihn letztlich hatte fallen lassen. Das mehr oder weniger sprechende Tier, der reizende Billy-Bumbler Oy, vervollständigt schließlich das Ka-tet, das lernt, Khef und manch anderen fremden Begriff zu teilen.
Die Geschichte in der Geschichte in der Geschichte
Diesen fünf Figuren begegnen wir nun in »Wind« wieder. Im Großzusammenhang sind sie nach ihrem Intermezzo in einem Glaspalast (»Glas«) wieder auf dem Pfad des Balkens vom Bären zur Schildkröte unterwegs und werden in der Folge auf die Wölfe der Calla (»Wolfsmond«) treffen. Nun aber wundern sie sich über das Verhalten ihres kleinsten Gefährten: Oy scheint eine Gefahr zu wittern. Es braucht aber erst die Erläuterung eines Fährmannes, die Roland an eine Geschichte aus seiner Kindheit erinnert, in der Billy-Bumbler das Aufziehen gewaltiger Stürme totbringenden Ausmaßes vorhersagen. Das Märchen »The Wind Through The Keyhole« hatte Mutter Gabrielle dem kleinen Roland mehrfach erzählt. Der erzählt es nun seinen Gefährten und bettet es in eine Geschichte aus seiner Jugend ein, in der er als junger Revolvermann einem Gestaltwandler auf die Spur kam. Ausflüge in die Kindheit und Jugend von Roland sind ein wichtiger Bestandteil der Reihe, lernen wir so Mittwelt kennen, wie sie einst war. Die Geschichte des Gestaltwandlers liefert für Fans allerdings nur wenig neue Erkenntnis, kann für Neuleser aber durchaus ein guter Einstieg sein. Von Rolands Heimatbaronie Gilead geht es nach Debaria, einem Ort, den auch seine Mutter einst besuchte. Aktuell wird die von Landwirtschaft und Salzminen geprägte Region von bestialischen Morden (und auch von Wind) gebeutelt. Zeugenaussagen zufolge war der übermächtige Mörder entweder ein Bär, vielleicht aber auch eine Raubkatze oder ein Wolf. Als Rolands bester Zeuge erweist sich der einzige Überlebende des letzten Massakers, ein Junge namens Bill Streeter. Um an die für seine Ermittlungen wesentlichen Informationen heranzukommen, lässt Roland einmal mehr eine Revolverkugel über seine Fingerrücken tanzen und hypnotisiert so den Schwersttraumatisierten. Und zur Ablenkung beim Warten auf eine Gegenüberstellung gibt Roland das Märchen aus seiner Kindheit zum Besten.
Stephen King bleibt seinen Mustern treu
In diesem Märchen nun geht es um den elfjährigen Tim »Stoutheart« Ross aus dem armen Tree Village am Rande eines unfassbar großen, dunkel-gefährlichen Waldes, in dem sein Vater Big Ross ums Leben kam. Hinterlassen hat Big Ross seiner Familie neben seiner Axt und seiner Glücksmünze nur ein altes Haus auf einem wenig rentablen Stück Land. Das Schicksal der Hinterbliebenen ist nun so sicher wie das Amen in der Kirche: Wenn sie nicht fähig sind, dem einmal im Jahr auftauchenden Steuereintreiber Gileads ihre Abgaben zu zahlen, werden sie ihrer Heimat verwiesen. So lässt die geplagte Witwe ihr ungutes Bauchgefühl außer Acht und heiratet zur Existenzsicherung den ehemaligen Partner ihres Mannes. Und schon sind wir mitten in einer typischen Stephen-King-Geschichte, die viel mehr von zwischenmenschlichen Konflikten denn von Mumien, Monstren und Mutationen lebt. Vor allem, wenn sich der Steuereintreiber als eine Variation der so oft zitierten Figur »Randall Flagg« erweist. In der Dark-Tower-Reihe ist der finstere Manipulator als Marten Broadcloak und Walter O’Dim bekannt. Faszinierend ist diese Kingsche Standard-Figur immer wieder aufs Neue. So lässt sich auch Tim erst einmal von seinem dunklen Zauber täuschen. Aber da auch Tim letztlich eine Standard-Figur ist, nämlich die des vermeintlich Schwachen, der zum Helden wird, trotzt er diesem Zauber. Alleine macht er sich auf, seine Mutter zu retten. Dafür durchwandert er eine Vielzahl von abenteuerlichen Begegnungen, die einen Geringeren zur Strecke bringen würden. Nicht aber Tim, der sich hier seinen späteren Namen Stoutheart (tapferes Herz) hart erarbeitet und dabei auch für Fans der Reihe so manche Erkenntnis liefert.
Mehr Welten Fazit
Ich kann den Dunklen Turm als Lebensbegleiter bezeichnen, hat Stephen King ihn in den Achtzigerjahren begonnen und offenbar noch immer nicht fertiggestellt. Ich habe gelernt, die mich abstoßenden Splatter-Elemente und die mit meist albernen Namen gestraften Monster zu billigen, mich stattdessen von seiner Zeichnung zwischenmenschlicher Beziehungen, der Mythologie und der Hohen Sprache faszinieren zu lassen. Noch nie zuvor und auch nie wieder danach habe ich um fiktive Figuren so getrauert wie um die des Dunklen Turms. Umso mehr hat es mich gefreut, ihnen noch einmal zu begegnen, mit ihnen zusammen Zeit zu verbringen und durch dieses Schlüsselloch den Wind aller Welten zu spüren. Wer also keine Angst vor abgetrennten Körperteilen und dem verführerischen Handlanger der dunklen Magie hat: Unbedingt lesen und verstehen lernen, warum Ka ein Rad ist. Fans können diese wesentliche Erkenntnis hier noch einmal vertiefen.