Helix von Marc Elsberg
Was haben ein US-Außenminister, ein ungeborenes Zwillingspaar, eine sehr junge Studentin und Maiskolben gemeinsam? Sie alle existieren auf Basis von Genen, und die lassen sich manipulieren. Für die einen mag dies von Vorteil sein. So wissen zum Beispiel die Eltern der Zwillinge bereits während der Planungsphase, wie »modern« ihre Kinder sein werden. Vielleicht so hochbegabt wie die junge Studentin oder so krankheitsresistent wie der Mais? Für den US-Außenminister hingegen gestaltet sich die Manipulation derart unerfreulich, dass er sicher darauf verzichtet hätte, hätte ihn vorher einer gefragt. Verbesserung trifft eben nicht jeden. Alles nur Science Fiction? Die Helix von Marc Elsberg ist ein Wissenschaftsthriller, das ist ein feiner Unterschied. In Helix geht es um die Gegenwart des Genom-Editierens, und die ist so erschreckend wie ein Science Fiction-Albtraum.
Der Außenminister und sein Totenschädel
Den US-Außenminister trifft es unvermittelt. Auf einer Sicherheitskonferenz bricht er während seiner Rede mit plötzlichem Herzstillstand zusammen. Da können auch die Wiederbelebungsmaßnahmen seiner Mitarbeiterin Jessica Roberts nicht helfen, sein Herz will nicht mehr schlagen. Bei der Obduktion jedoch zeigt sich, dass dies kein natürlicher Tod war: Auf seinem Herzen entsteht vor den Augen der Ärzte aus einem hellen Fleck die Fratze eines Totenschädels. Bald ergibt die Untersuchung, dass der Politiker Opfer eines auf seine Gene maßgeschneiderten Virus geworden ist. Das kann doch gar nicht sein!, schreit sein Umfeld auf. Einige wenige Wissenschaftler jedoch wissen, dass so ein Bioattentat praktisch zwar noch nicht geschehen, theoretisch hingegen möglich ist. Mit Vertretern der bekannten Organisationen, deren Namen aus drei Buchstaben bestehen, ermittelt Jessica in der Folge diesen mysteriösen Fall und erkennt dabei, dass sich auch andernorts Menschen mit Fragen der Genmanipulation herumschlagen.
Geister, die über Felder fliegen
Zeitgleich entdeckt ein Vertreter eines international agierenden Agrarkonzerns in Tansania eine Maissorte, die es so gar nicht geben dürfte. Während alle anderen Felder von Würmern vernichtet wurden, wachsen auf dem Feld einer Bäuerin die fettesten Kolben. Dabei ist die so arm, dass sie sich niemals überteuertes, genmanipuliertes Saatgut von Anbietern wie Monsanto leisten könnte. Auch ihren Boden hat sie nicht besonders gedüngt. Einzig weiß die alte Frau von Geistern zu berichten, die regelmäßig über ihre Felder fliegen. Offenbar sind die ihr sehr wohlgesonnen. Doch selbst, als sich die Mitarbeiter des Agrarkonzerns ein Bild von diesen Geistern machen können, erschließt sich ihnen nicht, wie die Manipulation funktioniert. Und warum da einer nicht nur in Tansania, sondern auch in Brasilien und in Indien seine hochentwickelte Gentechnologie offensichtlich verschenkt. Damit macht man sich wahrlich keine Freunde in Zeiten der Nutzpflanzenoptimierung.
Das Zeitalter moderner Kinder
Wer in der Zukunft noch mithalten können will, setzt moderne Kinder in die Welt. Diese Lektion lernt das Ehepaar Helen und Greg, das keine eigenen Kinder zeugen kann. Ihr Reproduktionsmediziner schickt sie auf einen Trip zu einer geheimen Einrichtung irgendwo im Mittleren Westen der USA. Mit ihnen fliegt das Versprechen, dort nicht nur endlich Eltern eines bestenfalls gesunden Kindes werden zu können. Vielmehr geht es um in mancherlei Hinsicht optimierten Nachwuchs. Helen ist derart von ihrem Kinderwunsch durchdrungen, dass sie ihre Zweifel weitgehend zu Hause lässt. Einmal mit den Möglichkeiten moderner Kinder konfrontiert, wirft dann selbst ihr skeptischer Mann alle Zweifel über Bord. Und so wird aus »Hauptsache gesund« schnell ein optimiertes Zwillingspaar im Rahmen eines Vertrages, der ihnen als sogenanntes Kommunikationspaket zudem einen millionenschweren Verdienst in Aussicht stellt. Dass das Leben als modernes Kind vielleicht gar nicht so toll ist, weiß hingegen die zehnjährige Jill. Um nicht noch mehr als nötig aufzufallen, besucht sie als vermeintlich bereits Fünfzehnjährige die Uni. Doch seit sie sich ihrer Herkunft bewusst ist, kümmert sich Jill um weit mehr als ihren Studienabschluss.
CRISPR/Cas9 – die Technik des Genom-Editierens
Nun könnte man meinen, dass das doch alles kalter Science Fiction-Kaffee sei. Ich musste während der Lektüre mehrfach an Gattaca denken, in dem Ethan Hawke als Vincent daran verzweifelt, ein »invalides Gotteskind« zu sein, also ein natürlich Gezeugter. Der entscheidende Unterschied der Helix von Marc Elsberg besteht nun aber darin, dass der österreichische Autor sich auf eine bereits real existente Technik des Genom-Editierens bezieht. Und die trägt die schöne Bezeichnung CRISPR/Cas9. Extrem vereinfacht gesagt, sorgt diese Technik für einem zielgerichteten Eingriff in das Erbgut, der sich hinterher nicht mehr nachweisen lässt. Denn hinterher sieht es so aus, als habe hier eine natürliche Mutation stattgefunden. Weshalb Wissenschaftler sich darüber streiten, ob man dieses Vorgehen überhaupt noch als Genmanipulation bezeichnen kann.
Breakthrough of the Year 2015
Noch nie davon gehört? Tja, so ging es mir auch. Umso aufschlussreicher erscheint mir der Zeit-Artikel von Thea Horn: Wo bleibt der Aufschrei?, in dem sie die Frage aufwirft, ob wir mittlerweile derart infantilisiert sind, dass uns nur noch technologische Neuerungen interessieren, wenn ihre Bezeichnung mit einem kleinen i beginnt. Nahezu völlig von der Öffentlichkeit unbemerkt, existiert nun also bereits seit 2012 die Kenntnis der sich in Bakterien wiederholenden DNA-Abschnitte (CRISPR), die gegen das Eindringen von fremdem Erbgut durch Viren resistent machen. Das Protein Cas9 hingegen wirkt wie eine Schere, die, an entsprechender Stelle in der DNA angesetzt, Platz schafft für das Einbinden des CRISPR-Segmentes. Verbleibt das Protein im Organismus, spricht man vom sogenannten Gene Drive. Der sorgt dafür, dass CRISPR sich auch in nachfolgenden Generationen einbauen kann. Das Verfahren scheint dabei auch noch so einfach zu sein, dass jedes Molekularbiologielabor, das damit arbeiten möchte, es auch problemlos kann. Zudem funktioniert es offenbar so toll, dass die wissenschaftliche Fachzeitschrift Science die CRISPR/Cas-Methode zum Breakthrough of the Year 2015 (via Wayback Machine) erklärte. In China und in Großbritannien ist man derart begeistert, dass bereits erste Experimente an menschlichen Embryonen stattfinden. Dabei geht es offenbar nicht nur um zum Beispiel die Resistenz gegen HIV-Viren, die sich ihrerseits sehr hartnäckig zeigen (siehe Nature).
Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Genau diesen Aspekt mag ich an dem Genre: dass es sich wissenschaftlicher Neuerungen annimmt und sie im fiktionalen Kontext weiterspinnt. Somit auch einem Publikum zugänglich macht, das ansonsten gar nicht auf die Idee käme, sich Gedanken um die spezielle Thematik zu machen. Wenn die Geschichte dann auch noch wie in seinem Erstling Black Out als realistische Erzählung daherkommt, also in Bezug auf das gültige Wirklichkeitskonzept als möglich erscheint, wird es umso spannender. Doch gerade hier sehe ich das Problem der vorliegenden Helix: Spätestens ab der Hälfte der rund 600 Seiten passt die Erzählung für mich nicht mehr in mein Wirklichkeitskonzept. Das mag ein innewohnendes Problem sein: Wir reden hier schließlich über die Konsequenzen eines derart weitgehenden Eingriffs in das Leben, über die sich nur mutmaßen lässt, die aber keiner vorhersehen kann. Also bleibt nur die Fiktion, die sich entweder sehr utopisch oder doch eher dystopisch zeigt. Aber auch hier stellt sich die Frage, wie weit es denn gehen soll. Schnell besteht die Gefahr, es zu weit zu treiben und damit dann nicht mehr glaubhaft zu wirken.
Aber es sind doch nur Kinder!
Marc Elsberg beschreitet mit seiner Helix den dystopischen Weg. Er erzählt von einer neuen Generation moderner Kinder, die uns klassischen Erwachsenen sowohl körperlich als auch intellektuell derart überlegen ist, dass wir es kaum glauben können. Einzig in Hinblick auf ihre psychosoziale Kompetenz erscheinen diese Wunderkinder eher unterdurchschnittlich begabt. Zudem leiden sie an ihrem Anderssein, das sie Menschen zu verdanken haben, die sich nicht mehr daran erinnern können, dass auch sie als Kinder einfach nur dazugehören wollten. Kein Kind möchte sich von der Masse abheben, ganz im Gegenteil. Da sich diese modernen Kinder nun selbst nicht dümmer machen können, als sie sind, bleibt für sie nur die Konsequenz, die Masse ihren Bedürfnissen anzupassen. Wir haben es also mit Kindern zu tun, die mehr von Gentechnik verstehen als die Wissenschaftler, die sie produziert haben. Die in der Lage sind, Trupps bestausgebildeter Soldaten zu übermannen. Helikopter zu fliegen. Wie Martial Arts-Kämpfer selbst zu fliegen. Staatsoberhäupter zu entführen. Mord zu begehen. Das ist in meinen Augen ein bisschen viel auf einmal. Ich brauche nicht die Hälfte all dieser Untaten, um zu wissen, dass die Verbesserung des menschlichen Erbgutes keine gute Idee ist. Ich gehöre aber auch nicht zu der Fraktion so mancher erzählter Figuren, die darauf immer wieder mit einem Aber das sind doch nur Kinder! reagieren.
Fehlende Identifikationsfigur
Zudem vermisste ich eine Identifikationsfigur in der Geschichte. Ermittlerin Jessica Roberts hätte es sein können, doch blieb sie für mich als Figur völlig flach. Da half auch nicht ihre, für die Story so unnötige, kleine Flirtgeschichte mit dem Herrn Wissenschaftler, den Sie sich eigentlich zu Zwecken der Beratung an die Seite gestellt hat. Zudem ist gerade sie eine Aber es sind doch nur Kinder!-Vertreterin, die trotz allem, was sie gesehen und am eigenen Körper erfahren hat, sehr hartnäckig an dem Konzept der Schutzbedürftigen festhält. Auch Helen, die Frau mit dem ausgeprägten Kinderwunsch, könnte es vielleicht sein. Sofern man der Rosemaries Baby-Typ ist und einem auch dann noch die Milch einspritzt, selbst wenn der Nachwuchs die Brut Satans ist. Doch hat allein der Umschwung von Hauptsache gesund über genoptimiert und mit Millionenvertrag bis hin zu Meine befruchtete Eizelle gebe ich nicht wieder her! bei mir dafür gesorgt, dass ich bereits auf der Hälfte der Strecke raus war. Vielleicht fehlt mir hier aber auch einfach nur das passende Gen.
Unterm Strich finde ich es sehr schade, dass die Geschichte – zumindest aus meiner Perspektive – so aus dem Ruder läuft. Weniger wäre hier für mich eindeutig mehr gewesen. Für den Hinweis auf die realen Vorgänge in Molekularbiologielaboren weltweit bin ich aber durchaus dankbar.
Fischpott-Disclaimer: Wir haben ein Rezensionsexemplar von Blanvalet, Verlagsgruppe Random House erhalten.