Melanie Raabe über Lady Gaga
Sehr, sehr geil. Jugend hat ihren Sprech, gern nachgeplappert von Älteren mit Hang zur Profilneurose. Ausgerechnet der Lebensmittelriese EDEKA machte die Sehr-Sehr-Parole 2014 über Werbeclips zur YouTube-Kanone. Schließlich fand ein langer Tross aus Jugend und Jungrentnern die halbe Welt „sehr, sehr geil“. Solcher Sprachschrott kreist im Orbit, um irgendwann glücklich zu verglühen. Aber zu Beginn ihres neuen Buches ist für Melanie Raabe, Jahrgang 1981, vieles sehr, sehr geil, sehr, sehr früh, sehr, sehr lange, sehr, sehr hartnäckig. Es geht einem mitunter auf die Nudel, nicht sehr, sehr, nur ein bisschen.
Dafür braucht sich Raabe nicht zu schämen, sie hat ihren Erfolgsweg gemeistert. Wer die Schriftstellerin nur von Fotos kennt, meint auch schon das Rezept vor Augen zu sehen: Du musst mindestens schön sein, wenn du in dieser Welt etwas erreichen willst. Ihren wahren Debütroman schrieb Raabe 2014 unter Pseudonym und nannte ihn Die Hässlichen. Von solchem Etikettenschwindel wird ihr jemand abgeraten haben, ebenso von Negativzeilen, denn die Jahre, da man einen Roman ungestraft Der Idiot nennen dufte, sind sehr, sehr vorbei. Die Falle von 2015 ist dann auch Raabes offizieller Erstling und zugleich ein Kracher. Aber Moment mal – hatte nicht jemand was von Lady Gaga gesagt? Ganz richtig und doch nicht ganz einfach zu verstehen.
Mit einer ungewöhnlichen, sympathischen Musikbibliothek beschreitet der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch einen Weg, der mindestens so verwurstelt ist wie der Einstieg in diese Rezension. Die prächtige und doch simple Titelgestaltung erklärt den Charakter der Reihe: Der Schriftzug mit dem Namen der Autorin kreuzt den Namen ihrer Musikikone. Wie die Überschneidung ins Leben greift, dürfen Schreiberin respektive Schreiber auf knapp 120 kleinformatigen Seiten vor der Leserschaft ausbreiten und dafür ihre Erzählform wählen. So läuft Frank Goosen den Beatles über den Weg, Wolfgang Niedecken begegnet Bob Dylan, Thees Uhlmann den Toten Hosen.
Bleiben wir bei Melanie Raabe. Über die Hälfte des Buches quält sie sich mit sich selbst und mit ihrem frühen Werdegang voll pathologischer Bescheidenheit. Von Graitschen, was laut Wikipedia in Thüringen liegt und 395 Einwohner hat, machte sie rüber ins oberbergische Wiehl, als sei das schon sehr, sehr cool. Doch wer von diesem Ort unter der Autobahnbrücke der A 4 die Leipziger Buchmesse erobern möchte, benötigt eine gute Bauanleitung für die Karriereleiter. Und genau da kommt Lady Gaga ins Spiel – fast fünf Jahre jünger, aber allem Anschein nach Jahrzehnte weiter. Das kitzelt, das nervt, das schreit. Vor allem schreit es irgendwann nach der wesentlichen Erkenntnis: „Wir müssen uns nicht finden. Wir können uns erfinden!“ Und Melanie erfindet sich als Künstlerin. Übrigens hört sie auch mit der Sehr-Sehr-Floskel auf, ein erster Hinwies darauf, dass ihr handliches Gaga-Buch beachtlichen Tiefgang besitzt.
Und nun beginnt das Staunen. Ist das nicht ein vollendeter Spiegel der Rezeption, die Lady Gaga zuteilwurde? War „Poker Face“ der Pop-Hit, den man vor allem deshalb überstand, weil die schrille Optik der Sängerin reizte, so verstand man Zug um Zug, dass hinter dem Pokergesicht weitaus mehr als eine zweite Madonna steckte. So wie hinter „sehr, sehr“ ein prächtiges Erzähltalent steckt. Freilich ist es bei Lady Gaga so, dass man nicht zwingend gemocht wird, wenn man sie bewundert. Auch das macht uns die Erzählerin Raabe sympathisch: Sie glüht für eine musikalisch hochbegabte Persönlichkeit, die sich mit immer neuer Selbsterfindung über Klischeeurteile hinwegsetzt. Raabe benötigt nur wenige Eckpunkte, um Gagas Wesen zu charakterisieren. Sie schreibt in weiten Teilen über sich selbst, um sich dabei zugleich maßvoll zurückzunehmen, selbstkritisch zu bleiben. Das kleine Buch über die Begegnung zweier Menschen, die einander nicht kennen, ist mehr als ein wundervoller Lesegenuss. Es ist sehr, sehr geil.
„Melanie Raabe über Lady Gaga“. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2021, 128 Seiten, 10,- Euro