Sterbenskalt im totengleichen Grabesgrün
Die Welt der Tana French
Manche Menschen schrecken vor Büchern zurück, die mehr als 600 Seiten haben. Manchen sind schon 300 zu viel. Wer Tana French lesen möchte, darf keine derartige Phobie haben. Schwer vorstellbar, dass die irische Autorin einst mit Kurzgeschichten angefangen hat. Ihre Qualität liegt vor allem in der Tiefe ihrer Figuren, und das braucht Platz. Das ist aber auch der Garant für das Abtauchen in eine Welt, die erschreckend und faszinierend zugleich ist.
Alles hat seinen Preis.
Sterbenskalt. Totengleich. Grabesgrün. Klingt nach Tod, Mord wahrscheinlich inbegriffen. Klingen diese Titel aber auch nach anspruchsvollen, tiefgründigen Kriminalromanen? Versuchen wir es mit den Originaltiteln: Faithful Place. The Likeness. In the Woods. Schon besser. »Faithful Place« (2010) ist der Name des Haupthandlungsortes (eine fiktive Straße in Dublin) in der Geschichte von Frank Mackey, dem zynischen Undercover-Cop aus »The Likeness« (2008). Da war er der Vorgesetzte von Cassie Maddox, die ihrerseits bereits bekannt war als Partnerin von Rob Ryan, dem Ich-Erzähler aus »In the Woods« (2007). Wie einen Staffelstab geben die Figuren die Erzählperspektive weiter. So ist es kein Wunder, dass die Hauptfigur des jüngst erschienen »Schattenstill« (Broken Harbour, 2012) bereits aus »Faithful Place« bekannt ist. Jede Geschichte steht dabei für sich; die Kenntnis der Vorgänger ist nicht nötig.
Im dunklen Wald
»What if three kids ran into that woods to play and only one came out and he had no memory of what had happened to the other two? What would that do to his mind? Then what if he became a detective and, 20 years later, another murder case brought him back to this wood?« beschreibt Tana French* ihre Grundidee für ihren preisgekrönten Erstling, in dem sie ihren Protagonisten Rob Ryan bei der Auflösung des Mordes an einer Zwölfjährigen zurück in sein Kindheitstrauma führt. Diesem Ansatz ist sie treu geblieben: Ihre Cops sind nicht nur Cops. Immer sind sie auch Opfer, werden zu Tätern oder denken zumindest über die Möglichkeit nach, zu Tätern zu werden. Normal, mag einer denken, die Zeiten der Männer mit den weißen und den schwarzen Hüten ist doch schon lange vorbei. Heutzutage hat jeder Cop, der was auf sich hält, zumindest eine Macke – wenn nicht gar eine Diagnose aus dem Bereich der Psych-Fächer. Tana Frenchs Figuren aber wirken in ihrer Verstörung sehr normal. Dabei erfahren wir mehr über sie als über so manchen nahestehenden Freund.
Das Bedürfnis, mehr über ihre Figuren zu erzählen als für die Geschichte notwendig ist, mag viel mit der Ausbildung der Autorin zu tun haben: Die gebürtige Amerikanerin, die in Irland, Italien und Malawi aufgewachsen ist, ist gelernte Schauspielerin. Charakteren auf der Bühne Leben einzuhauchen ist für sie Alltagsgeschäft. Sie zeichne ihre Figuren gerne dreidimensional, immer durch den Filter des Ich-Erzählers, sagt sie. So kann sie ihre Leser an den Vorstellungswelten, Grundsätzen und Selbsttäuschungen ihrer Protagonisten teilhalben lassen.
Faithful Place
Es wundert nicht, dass Frank Mackey ihre Lieblingsfigur ist. »The whole heart of his job is lying, being dishonest, and deceiving people«, sagt sie über ihn und betont, wie viel Spaß es ihr gemacht habe, ihn zu schreiben. Seine Geschichte war auch die erste, die mir in die Hände fiel. Schuld daran waren die Auslage in meiner Lieblingsbuchhandlung und der Aufmacher: Frank hat sein Zuhause vor mehr als zwanzig Jahren verlassen und ist nie wieder zurückgekehrt. Nun wird in der Nachbarschaft die Leiche seiner damaligen Freundin gefunden, der Liebe seines Lebens, mit der er seinerzeit zusammen nach England flüchten wollte. Angetrieben durch sein Bedürfnis, die Wahrheit ans Licht zu bringen, muss er sich seiner eigenen Vergangenheit stellen – einer gewalttätigen Familie, von der er dachte, ihr erfolgreich entflohen zu sein.
Zu einer guten Charakterzeichnung gehört auch das Vermögen, die Figuren glaubwürdig sprechen zu lassen. Diese Fertigkeit ist nicht jedem Schriftsteller gegeben. Tana French zeigt die grundsätzliche Tendenz zu Schlagfertigkeit und großem Wortwitz: Rob Ryan und Cassie Maddox liefern sich wahre Wortgefechte, Frank Mackey ist ein Zyniker vor dem Herrn. Das macht Spaß, liest sich flüssig, ist manchmal aber auch ein bisschen zu viel des Guten. Wirklich beeindruckend sind die Dialoge zwischen Frank und seiner neunjährigen Tochter Holly. Selbst in Kinderbüchern klingen Kinder oft eher so, wie Erwachsene sie sich wünschen. In »Sterbenskalt« erhält die kleine Holly eine tragende Rolle und erfüllt sie mit einer Eigenwilligkeit, die von dem großen psychopädagogischen Verständnis der Autorin spricht. Das hat sie auch bereits in »Grabesgrün« zum Ausdruck gebracht. Kinder ticken oft anders, als wir Erwachsene uns das vorstellen können; sie haben ihre eigene Verständniswelt, lässt sie Cassie Maddox dort sagen. Die Erkenntnis ist eins – sie glaubwürdig auf Papier zu bringen, etwas ganz anderes. Selten habe ich dies so gut gelöst gesehen.
Die Doppelgängerin
Bei so viel Charakterisierung besteht natürlich die Gefahr, dass die Handlung auf der Strecke bleibt. Und hier liegt sicherlich die Schwäche, die sich vor allem in »Totengleich« niederschlägt. Da gibt es einerseits die großartige Ausgangsidee: Cassie Maddox wird an einen Tatort gerufen, an dem sie die Leiche einer Frau vorfindet, die ihr bis aufs Haar gleicht. Und nicht nur das: Die Unbekannte benutzt den Namen, der für Cassie in ihrer Zeit als Undercover-Agentin einst erfunden worden war. Also schlüpft Cassie einmal mehr in ihre abgelegte, durch die Unbekannte in der Zwischenzeit angereicherte Identität, um herauszufinden, was der jungen Toten widerfahren ist. Bei dieser cleveren Ausgangsidee schreit die Geschichte nach einer noch clevereren Auflösung – doch die bleibt vergleichsweise unspektakulär. Tatsächlich beschäftigen sich zwei Drittel der insgesamt fast 800 Seiten hauptsächlich mit dem Zusammenleben von Cassie und den vier Mitbewohnern ihrer fiktiven Identität. Das ist durchaus interessant, denn Tana French versteht es sehr wohl, die große Bedeutung von kleinen zwischenmenschlichen Momenten aufzuzeigen. Und doch scheint es ihr wie ihrer Protagonistin zu gehen: Die verliebt sich in die Art des Zusammenlebens und die Verschrobenheit ihrer Mitbewohner und scheint dabei immer mehr zu vergessen, weshalb sie diese Situation überhaupt aufgesucht hat.
Die Welt der Tana French ist keine schnelle: Viele Seiten vergehen, bevor etwas für die Weiterentwicklung der Handlung relevant Neues passiert. Das Erzählte als solches ist aber zu jedem Zeitpunkt glaubwürdig und bleibt immer nachvollziehbar. Einzig sollte man sich bei aller gefühlten Realitätsnähe nicht daran stören, dass die Irish Garda Síochána tatsächlich ganz anders organisiert ist als beschrieben. Wer es tiefgründig mag und intelligente Dialoge bevorzugt, ist bei Tana French genau richtig. Ich werde sicherlich auch noch »Schattenstill« lesen – diesmal wohl im Original.
* Alle Zitate stammen aus ihrem Interview mit dem Mystery Scene Magazin