Zone 5 von Markus Stromiedel
Der Tag, an dem der Kölner Dom einstürzt
Kann man als Kölner/in ein Buch, das mit dem Einsturz des Kölner Doms beginnt, nicht lesen wollen? Kaum vorstellbar. Beides. Umso schöner, dass einer hingeht und diese Unverfrorenheit zelebriert. Und damit seine Dystopie Zone 5 auch gleich eröffnet, obwohl es sich bei dieser Szene eigentlich um den großen Showdown handelt. Es gibt also mindestens einen guten Grund, sich den aktuellen Roman des deutschen (Drehbuch)-Autors Markus Stromiedel zu Gemüte zu führen.
Köln im Jahr 2060
Klimawandel und Energiekriege haben nicht nur die Stadt mit dem nunmehr Schwarzen Dom neu strukturiert. In Europa herrscht ein totalitäres Regime, das noch nicht verstanden hat, nur als Marionette der neuen G8, der acht führenden multinationalen Konzerne, zu dienen. Statt in Staaten ist Europa nun in fünf Zonen aufgeteilt, die hermetisch voneinander abgetrennt sind. Auf Köln bezogen bedeutet dies: Wer was hat, lebt in Zone 2 innerhalb des Kölner Rings. Wer noch mehr hat, lebt in der abgegrenzten Zone 1, einem kleinen Bereich in der Altstadt-Nord. Alle anderen der rund drei Millionen Einwohner hausen in Zone 4 fern einer gigantischen neuen Stadtmauer. Ehemalig florierende Veedel wie Ehrenfeld, Sülz oder die Südstadt kommen nun wie Slums daher. Komplett sich selbst überlassen, haben Einwohner und Flüchtlinge aus der Zone 5, den Gebieten fern der Großstädte, ihren Wohnraum in Form von Bruchbuden und Zelten zwischen Abbruchhäusern selbst erschaffen. Alleinherrscher über die Stadt ist der multinationale Pharmakonzern Medical Ind Corporation, dessen Kölner Produktionsstätte sich entlang des Rheins erstreckt und damit die Zone 3 ausmacht. Seine Arbeiter rekrutiert der Konzern aus Zone 4, seine Medikamente bleiben aber den Zonen 1 und 2 vorbehalten.
Zone 1 Anwalt trifft auf Zone 4 Aktivistin
Als Absolvent einer Frankfurter Eliteschule für Juristen hätte David Bachmann eigentlich wie seine Kommilitonen seine Karriere in einem der Großkonzerne starten können. Doch David hat sich für sein Anerkennungsjahr eine kleine Kölner Kanzlei ausgesucht. Schnell muss er allerdings feststellen, dass sein neuer, einst so genialer Chef zum Schatten seiner selbst geworden ist. Einzig sein Idealismus und die Begegnung mit Alex halten David davon ab, direkt wieder abzureisen. Dabei hat die junge Frau aus der Zone 4 alles andere als nette Absichten: Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen will sie David seiner Identität berauben. Die benötigt sie, um sich Zugang zu Medikamenten für ihre an Krebs erkrankte Zwillingsschwester zu beschaffen.
Identität entscheidet über Tod oder Leben
Identität, so lernen wir, trägt man in der Zukunft in Form eines Chips unter der Haut. Dieser Chip reglementiert das Leben eines jeden, entscheidet über Wohl und Wehe und macht seinen Träger natürlich auch jederzeit auffindbar. So sorgt der Chip dafür, dass ein Bewohner der Zone 4 nicht Zone 2 oder gar Zone 1 betreten kann und ganz bestimmt nicht an Medikamente herankommt, die den Privilegierten vorbehalten sind. Die Bestrafung für das Missachten dieser Regeln ist drastisch: Auf illegitimen Grenzübergang steht die Todesstrafe. Es braucht schon eine Menge Chuzpe, technischen Verstand, detaillierte Ortskenntnisse und viel Glück, um ohne den passenden Chip in die entsprechende Zone zu gelangen und sich dort unentdeckt zu bewegen. Als Alex das Glück verlässt, wird ihr David als Pflichtverteidiger zugewiesen. Nicht ahnend, dass im Hintergrund ein Konzern-Mitarbeiter seine Finger mit im Spiel hat, entwickelt der junge Anwalt zusammen mit seinem aus dem Tiefschlaf erwachten Chef aus der Verteidigung einen Angriff: Die Kanzlei verklagt den europäischen Präsidenten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ruft damit dessen Egowahnsinn auf den Plan, der in einer Kriegserklärung gegen sein eigenes Volk mündet und somit letztlich für den Einsturz des Doms sorgt.
Viel los im Köln der Zukunft
Markus Stromiedel zeichnet mit seiner Dystopie ein Köln, das bei aller Fiktion erschreckend realistisch wirkt. Aber das macht doch eine gute Dystopie aus, oder? Das dumme Gefühl, dass vieles des Erzählten auf die ein oder andere Weise längst Realität ist. Zonen, die die Welt in Privilegierte und den schäbigen Rest aufteilen? Multinationale Konzerne, die in Politikern bestenfalls Erfüllungsgehilfen sehen und für die Durchsetzung ihrer Interessen ganze Staaten verklagen? Menschen, die ein neues Zuhause suchen, sei es nun aus Gründen des Kriegs und des Terrors oder wie im Buch wegen der Vernichtung von Lebenswelten auf Basis des Klimawandels? Auch dieser weltweit anzutreffende seltsame Wunsch nach totalitären Strukturen, die sich schlimmstenfalls auch noch demokratisch nennen? Haben wir doch alles längst! Zone 5 bringt es – sicherlich überspitzt – auf den Punkt. Macht es spürbarer für Menschen wie mich, die das Glück hatten, in die Zone 2 hineingeboren worden zu sein und sich da irgendwie auch halten zu können.
Köln, das Zentrum der Welt
Der in Bremerhaven geborene Ex-Journalist kennt sein Köln gut. Gut genug auf jeden Fall, um zu wissen, dass es wahrscheinlich kaum eine zweite deutsche Stadt gibt, die derart charmant selbstverliebt daherkommt. Anstatt des Kölners Gegenpol Berlin als Handlungsort zu wählen oder sich Metropolen wie London oder Paris auszusuchen, verortet er das Schicksal ganz Europas an den Rhein. Denn welchem Berliner, Londoner oder Pariser würde seine Geschichte so nahe gehen wie den Einwohnern der schönsten Stadt der Welt? Und dann auch noch den Dom, unsere bedeutsamste Kathedrale der Welt, die bislang noch jede (auch von uns Kölnern selbst) herbeigeführte Katastrophe irgendwie überstanden hat, einfach einstürzen zu lassen – was ein herrlicher Affront! Diese Grundzutat stimmt also schon mal.
Das europäische Rumpelstilzchen
Auch gefällt mir die Zeichnung des europäischen Despoten im Kontrast zu den abgezockten, eiskalten Vertretern des Pharmakonzerns außerordentlich gut. Wenn ihn die Klage trifft, zeigt sich der Souverän so alles andere als souverän. Kommt einem auch irgendwie bekannt vor, oder? Sein europäischer Präsident erinnert mich jedenfalls sehr an Rumpelstilzchen, das erst zum Zweck der eigenen Vorteilnahme Unterstützung anbietet, dann seinen übermäßigen Sold einfordert und dabei als Narzisst die Möglichkeit der eigenen Durchschaubarkeit übersieht. Wenn es schließlich als das erkannt wird, was es ist – ein rumpeliges Stilzchen –, zeigt es sein wahres Gesicht als eher kleinwüchsiger Mensch, der durch cholerischen Auftritt (oder hanebüchene Argumentation) seinen Mangel an körperlicher oder menschlicher Größe zu kompensieren sucht. Vergleiche zu real existierenden Herrschern zu erkennen, dies sei geneigten Lesern selbst überlassen.
Bei aller Begeisterung für Zone 5 …
… sei die Kritik nicht vergessen. Ich hätte mir tiefere Figuren gewünscht, die weniger das Gefühl hinterlassen, für ihre Rolle am Reißbrett entstanden zu sein. Ja, es gibt ein wenig Liebe hier, etwas Sentimentalität da. Aber mir fehlt das Leben, die Ausdifferenzierung, sprich: die Tiefe. Ich nehme die Begeisterung des privilegierten Anwalts für die kämpferische Aktivistin hin, spüre sie aber nicht wirklich. So gibt es mehr Action: Hier ein wenig Flucht durch U-Bahn-Schächte oder über Häuserdächer, da ein vom Pharmakonzern eingesetzter Gegenspieler, der die Jagd liebt. Kann man machen, wäre aber mit mehr Charakterzeichnung sicherlich spannender.
Auch hatte ich in mancher Hinsicht Probleme mit der Erzählreihenfolge. Wenn Davids Chef zum Beispiel mit der Idee für seine Klage gegen Rumpelstilzchen daherkommt, zaubert er plötzlich Paragraphen aus dem Notstandsgesetz hervor und setzt sie in Zusammenhang mit den Leitlinien der »Organisation für die Zusammenarbeit und Entwicklung multinationaler Unternehmen«, kurz: OEMCD. Das ist schön, wirkt zu diesem Zeitpunkt irgendwie auch beeindruckend. Schöner wäre es allerdings, wüsste man zu diesem Zeitpunkt bereits, wie und warum es zu diesen Gesetzen und Leitlinien kommen konnte. Und welch üble Rolle der Präsident und die Konzerne dabei gespielt haben. Dann hätte man zumindest theoretisch selbst auf diese Idee kommen können, wüsste auf jeden Fall den Scharfsinn des Anwalts mehr zu schätzen.
Aber gut, ich hatte meinen Spaß. Der Dom stürzt ja nicht jeden Tag ein.