»Todesengel« von Andreas Eschbach
kontrovers as kontrovers can
Da eröffne ich hier kürzlich, dass mir kontroverse Geschichten gefallen – und schwupps habe ich ein Exemplar kontroversester Güte auf dem Tisch. Andreas Eschbachs »Todesengel« hat mir den Nachtschlaf geraubt. Nicht weil ich so gefesselt war von der spannenden Erzählung. Vielmehr hat mich der »Todesengel« innerlich zerrissen und reichlich entsetzt hinterlassen. Meinen eigenen Kriterien zufolge sollte ich allein deshalb nun jubeln und das Buch dringlich empfehlen. Aber so ist das mit den kontroversen Geschichten: Das Jubeln kann einem auch schnell einmal im Hals stecken bleiben.
Anwalt der Opfer
Fünfzehn Jahre ist es her, da drei gewaltbereite Jugendliche vier Kids auf dem Weg zur Schule bedrohten: Das Taschengeld sollten sie herausrücken, sonst gehe es ihnen an den Kragen. Ein Geschäftsmann mischte sich ein – und bezahlte seine Zivilcourage mit seinem Leben. Die drei Jugendlichen schlugen und traten so lange auf ihn ein, bis sich kaum ein Knochen noch an seinem Platz befand. Todesursache aber war ein Schädel-Hirn-Trauma wegen der brachialen Tritte gegen seinen Kopf. Posthum erhielt der Schutzengel das Bundesverdienstkreuz. Daran kann sich seither seine Witwe, die noch heute um ihre Fassung ringt, in einsamen Nächsten festhalten.
Die vier Kids von damals sind mittlerweile zu Erwachsenen herangewachsen und sehr unterschiedlich aus dem Trauma hervorgegangen. Was ihnen gemein ist: Sie leben in einer Zeit, in der solche Taten immer öfter die Schlagzeilen ausmachen. Doch nie ist von ihnen, den Opfern, die Rede. Immer geht es um die Täter. So auch bei der Geschichte, mit der Andreas Eschbach seinen neuesten Roman eröffnet: Ein älterer Mann, ehemaliger DDR-Grenzsoldat, sieht spätabends in einer U-Bahn-Station, wie zwei Jugendliche aus purer Zerstörungslust auf eine Sitzbank eintreten. Er geht zu ihnen und bittet sie, damit aufzuhören. Erinnert sie daran, dass es sich um Gemeineigentum handelt, das zu zerstören sie nicht das Recht haben. Woraufhin sich die beiden aus purer Zerstörungslust gegen ihn richten und so lange auf ihn eintreten, bis… Ja, bis scheinbar aus dem Nichts eine engelsgleiche Gestalt erscheint, zwei Pistolen zieht und die beiden Täter exekutiert. Der alte Mann überlebt und wird fortan von behördlicher Seite des sogenannten Notwehrexzesses beschuldigt: Der Staatsanwalt glaubt, das Opfer habe selbst die jungen Angreifer erschossen und somit das Maß der Notwehr überschritten, das er hätte anwenden dürfen. An Engel jedenfalls will der Staatsanwalt nicht glauben. An solche, die Selbstjustiz betreiben, schon mal gleich gar nicht.
Ganz anders der freie Journalist Ingo Praise. Als Hänfling unter Halbstarken war er einst beliebtes Mobbingopfer, leidet noch heute unter der Erfahrung körperlicher Gewalt, die ihm als Kind angetan wurde. Damals hat ihm keiner geholfen, noch nicht einmal sein eigener Vater. Immer wieder hieß es, er trage selbst zu seiner Situation bei. Nun von einem Racheengel zu hören, der die Schwachen verteidigt und die Gewalttäter tötet, trifft bei ihm auf dankbaren Nährboden. Entsprechend nennt er ihn auch Superheld. Nach anfänglichem Widerstand seines Chefredakteurs erhält Ingo Praise schließlich weitgehend freie Hand, die Hintergründe zu recherchieren und darzustellen. Er bekommt sogar im verlagseigenen TV-Sender die Chance einer eigenen Sendung. »Anwalt der Opfer« heißt diese und dient Ingo als Bühne für alle Aspekte rund um das Opferdasein, die er schon immer mal der Welt kundtun wollte. Dergleichen gibt es genug zu erzählen, denn der Todesengel taucht fortan immer wieder zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort auf, um Menschen in Not zu helfen und ihre Angreifer zu töten. Genug Gelegenheit für den Hänfling, sein Ego mal so richtig zu polieren und seine fünfzehn Minuten aufs Polemischste abzufeiern.
Zivilcourage und Selbstjustiz vs. staatliches Gewaltmonopol
Ein mächtiger Dorn im Auge ist es Ingo Praise schon lange, dass die deutsche Rechtsprechung Eigentumsdelikte stärker bestrafe als solche, die nach Leib und Leben trachten. Andreas Eschbach lässt ihn von dem Kunstfälscher berichten, einem Genie, das zwölf Jahre lang unerkannt unbekannte Kollegen kopiert hat. Jetzt sitzt er für sechs Jahre im Knast. Vier Jahre und sechs Monate gibt es für einen Steuerhinterzieher. Für schwere Körperverletzung, die sein Opfer ein Leben lang berufsunfähig sein lässt, bekommt ein 19-jähriger aber nur – nach Jugendstrafrecht – zwei Jahre auf Bewährung. Diese gefühlte Diskrepanz wirft Andreas Eschbach gleich zu Beginn seines Romans auf. Später erklärt er sie mit der Herkunft unserer Rechtsprechung. Sie beruhe auf dem Code Napeleon, sagt er, geht allerdings nicht genauer auf die Zusammenhänge ein, die dann wohl doch ein wenig komplexer sind. Ungewöhnlich für einen, der es ansonsten in seinen Werken mit der Wissensvermittlung eigentlich immer recht genau nimmt.
Mindestens genauso wichtig scheint Andreas Eschbach die gefühlte Absurdität zu sein, die es Opfern nahelegt, das geringstmögliche Maß an Gewalt zur Selbstverteidigung anzuwenden. Gleich welche Gefahr von deinem Angreifer ausgeht – du solltest nur zu Mitteln greifen, die dessen Leib und Leben möglichst geringfügig bedrohen. Also bitte kein Pfefferspray zur Selbstverteidigung nutzen, meine Damen, das könnte, als schwere Körperverletzung gewertet, euch teuer zu stehen kommen! Und auf gar keinen Fall sollte man als Erster zuschlagen, um den drohenden Schlägen oder Tritten des Angreifers zu entgehen. Eine zentrale Figur, die Eschbach zur Erläuterung der Problematik einführt, ist der Krav Maga-Trainer David Mann. Krav Maga, so lernen wir, die wir es noch nicht kannten, ist ein israelisches Selbstverteidigungssystem, das der Selbstbehauptung in Gefahrensituationen dient. Es geht von dem Erkennen der Gefahr aus und zeigt die Möglichkeiten der Deeskalation auf. Wenn es dann aber doch zum Angriff kommt, kennt Krav Maga keine falsche Zurückhaltung: „Also – es gehört zur Überlebensstrategie, in einem Kampf so hart zuzuschlagen, wie man nur kann. Denn man weiß nie, ob man noch die Chance für den nächsten Schlag bekommt“, lässt der Autor seine Figur sagen. Lee Childs Jack Reacher hätte es nicht treffender ausdrücken können. Andreas Eschbach jedenfalls scheint uns allen nahelegen zu wollen, die Techniken des Krav Maga zu erlernen.
Wenn der Standpunkt fehlt…
Nun, da ich ihn schon erwähnt habe: Wie komme ausgerechnet ich, die ich jedem neuen Reacher, der personifizierten Selbstjustiz, förmlich entgegenfiebere, eigentlich dazu, auf einen deutschen Rächer der Schwachen so empfindlich zu reagieren? Vielleicht weil es genau das ist: eine deutsche Geschichte. Wenngleich in einer fiktiven Stadt angesiedelt, die wie Berlin mit einer ordentlichen Prise Ba-Wü daherkommt, wirkt sie wie ein Bericht über Geschehnisse aus der direkten Nachbarschaft. Zu dem Eindruck trägt auch bei, dass die einzelnen geschilderten Übergriffe wie Versatzstücke bekannter realer Tathergänge wirken. Außerdem hat Andreas Eschbach, den ich wegen seiner sonst so charmanten Erzählweise schätze, bei aller für dieses Thema gebotenen Ernsthaftigkeit hier zudem eine wahrlich todernste Tonart angeschlagen. Ganz klar: Er will polarisieren, er will aufrütteln. Aber mir ist bis zum Schluss unklar geblieben, welchen Standpunkt er eigentlich vertritt. Oder wie seine Vision einer besseren Regelung aussieht. Ist er tatsächlich der Ansicht, das Jugendstrafrecht sollte verschärft, vielleicht sogar ganz abgeschafft werden? Glaubt er, dass höhere Strafen Asoziale von der Tat abhalten? Oder dass sich längere Gefängnisaufenthalte günstig auf die Resozialisierung auswirken? Warum hat er den Staatsanwalt genauso wie den die Gegenpartei ergreifenden Soziologie-Professor wie dümmliche Lackaffen gezeichnet? Und warum kommt die Hauptfigur, die letztlich für die finale Katastrophe sorgt, vergleichsweise gut bei allem weg? Letztlich langweilen Ingo Praise seine Opfergeschichten selbst, nicht nur die Quote seiner Sendung geht zurück. Und wenn wir dann am Ende erfahren, wer oder was der Todesengel ist, dreht sich letztlich doch wieder alles um den Täter. Ich gehe mit sehr vielen offenen Fragen aus dieser Lektüre hervor. Das kenne ich bei Andreas Eschbach in diesem Ausmaß gar nicht, und das irritiert mich sehr.
Es ist andererseits aber auch immer ein gutes Zeichen, wenn fiktive Geschichten einen dazu bringen, über das eigene Leben zu reflektieren. Grundsätzlich wirft Eschbach die Frage auf, inwieweit wir zu feige sind, unsere eigenen Regeln und Grenzen – auch völlig fern von (körperlichen) Gewaltübergriffen – zu verteidigen. Warum sollte ich es zulassen, dass andere sie ignorieren, überschreiten, gar mit Füßen treten – im übertragenen wie im konkreten Sinn? Mehr als ohnehin denke ich über Begriffe wie Respekt und Autorität nach und frage mich, ob es jemals eine Generation geben wird, die mit diesen Begriffen angstfrei umgehen kann. Ich denke darüber nach, wie viel einfacher das Leben sein kann, wenn ich die Regeln und Grenzen anderer genauso kenne wie die Konsequenzen, die aus meinem Brechen dieser Regeln und Grenzen folgen. Das Ganze setzt aber voraus, dass Grenzen und Regeln nicht willkürlich sind, dass sie einem nachvollziehbaren System folgen. Und dass der Urheber dieses Systems seine zugrundliegenden Standpunkte deutlich formuliert. Im Gegensatz zu manch anderen Rezensenten kann ich die Ansicht jedenfalls nicht vertreten, das Buch solle als Pflichtlektüre an Schulen genutzt werden. Für diesen Standpunkt hätte es mir für meinen Geschmack mehr Standpunkt seitens des Autoren gebraucht.
Disclaimer: Fischpott hat ein Rezensionsexemplar des Buches vom Verlag erhalten.