Jetzt von Leon Reiter
Zeitreisen gehen doch immer, oder?
»Sehen Sie, ich glaube nicht an Zeitparadoxien. Würde ich es tun, könnte ich es wohl kaum verantworten, ein Team von Menschen in andere Zeiten zu schicken. Ich glaube eher an die Selbstheilungskräfte der Zeit.« Professor Sanjay Sivamani redet sich sein Dilemma gerne schön. Dabei hat er mit seinem Project Pocket Light nichts Geringeres ausgelöst als die Zerstörung der Zeit und damit den Beginn des potentiellen Weltuntergangs. Den zu verhindern, so denkt sich der Professor, braucht vielleicht nicht mehr als eine kleine Zeitreise: Wenn ihn einer in der Vergangenheit davon abhält, sein fatales Experiment durchzuführen, dann ist für Gegenwart und Zukunft doch alles gut. Oder?
Wenn einer versucht, die Zeit auszuleuchten
Die Zeit wie mit einer Taschenlampe auszuleuchten, war das Ziel von Sivamani. Doch statt Licht ins Dunkel zu bringen, hat der Professor Chaos ausgelöst. Eine Reflektion in einer dieser fremden Zeiten soll den Lichtstrahl potenziert und damit für Haarrisse im Zeitgefüge gesorgt haben. Seitdem bilden sich in Aranjuez, einer kleinen Stadt südlich von Madrid, wabernde Zeitblasen. Diese sogenannten Pockets stellen Portale zu allen erdenklichen Zeiten dar, Vergangenheit wie Zukunft, und vermehren sich wie Karnickel. Aktuell ist das Problem noch auf einen Stadtteil begrenzt, und damit dort keiner versehentlich oder aus Gaudi so eine Pocket betreten kann, riegelt das Militär das Gebiet ab. Aber bald schon muss die gesamte Stadt evakuiert werden – und später vielleicht das gesamte Land, der Kontinent, der Erdball an sich?
Damit es nicht so weit kommt, hat Sivamani ein Team von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen zusammengestellt: Die französische Soziologie-Professorin namens Veronique Saccard soll mit der italienischen Historikerin Stefania Ambrosini und dem deutschen Landvermesser Ferdinand Grewe unter dem Schutz des britischen Elitesoldaten Lyle Usher auf Zeitreise gehen. Ihre Aufgabe: eine Zeit kurz vor dem Experiment zu finden, um dann den Professor von eben diesem abzuhalten, sprich: ihn zu sabotieren. Letztlich geht es also doch um eine dieser Zeitparadoxien: Wenn einer es in der Vergangenheit schafft, die Grundlage eines gegenwärtigen Zustands unmöglich zu machen, wird dieser nicht stattfinden, wird also niemand in die Vergangenheit reisen müssen, um ihn unmöglich zu machen. – Und schon bildet sich bei uns Zeitreise-Fans dieser geliebte Knoten im Hirn.
Sind wir nicht alle Zeitreise-Experten?
Schnell entwickelt sich der anfängliche Zweifel des Teams ob der Auswahl ihrer Mitglieder zu einem sehr begründeten: Was sollte sie zu Zeitreise-Experten machen? Warum ist unter ihnen kein Biologe, kein Archäologe, kein Astronom? Die Tücke ihrer Aufgabe liegt nämlich zuerst einmal darin, die Zeit zu bestimmen, in die die jeweilige Pocket sie bringt. Eine einsame Landschaft ohne jegliche Bevölkerung tierischer oder menschlicher Art, ohne Bebauung oder technische Errungenschaft lässt sich für eine Soziologin, eine Historikerin und einen Vermessungsingenieur aber nur sehr schwer einem Jahrhundert, geschweige denn einem Jahr oder Monat zuordnen. Sternkonstellationen können die Forscher jedenfalls nicht lesen. Der Professor hält aber an seinem Team und seiner Strategie fest, möglichst wenig Personen durch die Pockets zu schicken, um so den Einfluss auf die Zeit möglichst gering zu halten. Er hofft, schneller vorhersagen zu können, was sich hinter der jeweiligen Pocket verbirgt, und die Zielzeit besser eingrenzen zu können. Dass die Forscher rein räumlich immerhin davon ausgehen können, nicht irgendwo im Weltall zu landen, haben sie dem Effekt zu verdanken, dass sich die Pockets offensichtlich an die Gravitation halten. Die Fremdzeiten finden also immer entlang des 40. Breitengrades statt, auf dem auch Aranjuez liegt, und nicht irgendwo auf der Umlaufbahn der Erde um die Sonne. Oder irgendwo außerhalb des Sonnensystems, denn das bewegt sich ja auch ständig weiter.
Das mit der Rückkehr ist auch so eine Sache: Durch einen »Verwackeleffekt« entspricht der Eingang nicht dem Ausgang. Letzterer kann nur ein paar Meter oder aber auch mehrere Kilometer weit vom Eingang entfernt sein. Landet man beim Eintritt also an einem Strand, kann es passieren, dass die Rückkehr im Meer liegt. Zum Glück sorgt ein technisches Spielzeug für die Ortung, andernfalls gäbe es vielleicht gar kein Zurück oder zumindest ein ewig langes Suchen. Immerhin aber funktionieren die Pockets nicht bidirektional, die Rückkehrpocket ist dabei sogar nur selektiv permeabel. Sprich: Aus der Fremdzeit kann nichts in das Jetzt der Handlungsfiguren dringen, und durch den Ausgang kommt nur derjenige zurück, der die Fremdzeit durch den Eingang betreten hat. Dabei kann er oder sie auch nichts aus der Fremdzeit mitbringen, also keinen Stein, kein Tier, keinen anderen Menschen. Auch wenn sie sich wünschen würden, sie könnten Mitgebrachtes im Jetzt weiter erforschen und so die Zeit bestimmen, aus der es stammt, lehrt uns die Erfahrung der vier Forscher: Das ist auch gut so.
Es gibt mehr Zeiten als diese
Zeitreisen, legen andere Autoren uns nahe, sorgen doch immer irgendwie für zwischenmenschliche Begegnungen. Zumindest gilt das für die Geschichten, die ich kenne und immer geliebt habe. Jetzt von Leon Reiter aber geht davon aus, dass diese Zeitblasen in jede denkbare Zeit führen können und dass es dabei weder für die handelnden Figuren noch für uns Leser ersichtlich sein muss, ob es sich um eine extrem ferne Vergangenheit oder Zukunft handelt. Eine Landschaft kann also genauso das Zuhause eines urzeitlichen Raubtieres sein wie der Landeplatz eines futuristischen Fluggeräts. Bis das Team zum ersten Mal mit Sicherheit sagen kann, in welchem Jahrtausend oder Jahrhundert es gelandet ist, haben die vier Wissenschaftler bereits einige nicht identifizierbare Zeiten betreten und um ihr Überleben gekämpft. Zum Beispiel weil es nicht genug Sauerstoff gab. Oder weil die Rückkehrpocket mitten in einem tosenden Meer lag. Meist jedoch wissen sie gar nicht, wo sie gelandet sind. Oder wann. Und selbst wenn: Beim Zusammentreffen mit japanischen Soldaten des 15. Jahrhunderts ist Kommunikation kaum möglich. Da stellt sich nur noch die Frage, wie abergläubisch die Japaner seinerzeit wohl waren und ob man ihnen vormachen kann, ein Dämon oder Geist zu sein. Der Reiz der Erzählung liegt für mich also in der Erkenntnis, dass Zeitreisen manchmal noch nicht mal als solche realisierbar sind. Und wenn man die Fremdzeit als solche wahrnimmt, scheinen die touristischen Freuden tatsächlich nur für sehr wagemutige Überlebenskünstler erkennbar sein. Das alles kann einen Zeitreise-Fan wie mich aber nicht erschüttern: Zeitreisen gehen doch immer irgendwie, oder?
Nun ist das Buch nicht die Art von Thriller, die einen vom Einschlafen abhält und diverse Fingernägel kostet. Aber das muss ja auch nicht sein. Der Verlag bezeichnet den 2014 veröffentlichten Debütroman des Freiburger Autoren, der ein Großteil seines Lebens »mit diversen abgebrochenen Studiengängen und mies bezahlten Jobs verschwendet« habe, schlicht als Thriller. Ich hätte das Buch als Wissenschaftsthriller kategorisiert: Sowohl die Sprache, die Leon Reiter benutzt, als auch sein gewählter Handlungsaufbau haben viel von dem Vorgehen eines Forschers, der seine Hypothesen immer wieder an seine gewonnenen Erkenntnisse anpassen muss. Vielleicht mag das nicht jeder. Aber mir gefällt’s. Und dann kann ich auch gut damit leben, dass wir zum Schluss +++++ ACHTUNG: SCHLUSS-SPOILER +++++ nicht auf alle Fragen eine Antwort bekommen, dass so manches Wesentliche offen bleibt. Das mag den ein oder anderen enttäuschen. Aber so ist das mit der Wissenschaft: Ein kluger Mensch weiß ohnehin, dass er eigentlich nichts weiß. +++++ ENTWARNUNG: SCHLUSS-SPOILER VORBEI +++++