Plan D von Simon Urban
Ein Akronym und eine Zahl
Mehr braucht es manchmal nicht für die Kaufentscheidung: Als ich »DDR 2011« auf der Rückseite von Simon Urbans Plan D las, musste ich dieses Buch sofort haben. Erklären kann ich das nur mit meiner Begeisterung für historische Utopien, also jene Erzählungen, die nach alternativen Verläufen der bekannten Geschichte fragen im Sinne des: »Was wäre, wenn…« Die mir bekannten beschäftigen sich mit dem Überdauern der Naziherrschaft. In der Utopie von Simon Urban ist die Mauer nur vorübergehend gefallen. Statt einer Wiedervereinigung gab es in seiner Welt eine Wiederbelebung. Somit existieren noch heute zwei deutsche Staaten, in denen die einen Benz fahren, während die anderen sich mit dem stinkenden Trabbi-Nachfolger Phobos begnügen müssen. Auch sonst weiß der Autor so einige Größen zu vergleichen, was allerdings für die an sich interessante und durchaus lehrreiche Geschichte nicht wirklich viel tut.
Grenzüberschreitender Mordfall
Martin Wegener ist Hauptmann der Volkspolizei, der es mit einem Mordfall von grenzüberschreitender Bedeutung zu tun bekommt: In einem Sperrgebiet in der Nähe von Ostberlin, durch das eine Interzonen-Gaspipeline führt, baumelt die Leiche eines über Achtzigjährigen. Aufgeknüpft mit einem achtfach geknoteten Galgenstrick, weist der Erhängte auch noch zusammengebundene Schnürsenkel auf. Wer macht so etwas? Die Antwort liegt schnell auf der Hand: Die Stasi habe vor der Wiederbelebung ihre eigenen Leute auf diese Weise liquidiert. Doch macht das Sinn? Kurz vor der Staatspleite kann nur noch der Verkauf sowjetischen Gases, das die Bundesrepublik nötig braucht, die Deutsche Demokratische Republik retten. Die entsprechenden Konsultationen stehen vor der Tür. Die Staatssicherheit wäre also schön blöd, dieses Geschäft durch einen Ritualmord an einem alten Mann zu gefährden. Irgendwas sickert bei der interdeutschen Bespitzelung ja doch durch, und im Zweifel weiß der Spiegel darüber zu berichten. Um den Gasabnehmer aus dem Westen zu besänftigen, überlässt die Stasi Martin Wegener die Ermittlungen und gestattet den BRD-Behörden, ihrerseits zwei Polizisten zu schicken, um Wegener auf die Finger zu schauen. Für den Ostberliner Polizisten alles andere als eine dankbare Aufgabe. Mehr noch als seine westdeutschen Kollegen Richard Brendel und Christian Kayser weiß Martin Wegener die Brisanz sehr wohl einzuschätzen: Die falschen Fragen zu stellen kann einen Polizisten im Dickicht von Informanten und Denunzianten schnell alles kosten.
Best of both worlds: Plan D
Allein herauszufinden, um wen es sich bei dem Mordopfer handelt, gestaltet sich bereits schwierig. Lebte der Ex-Berater des Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz nämlich auch noch unter der Identität eines Gärtners und Rosenliebhabers. Mit der Sicherheitsfreigabe für Zonen, die den Prominenten des Arbeiter- und Bauernstaates vorbehalten sind. Unter diesen tauchen eine Reihe von Personen auf, die wir alle kennen. Nur eben nicht unbedingt in ihrer hier benannten Funktion. Otto Schily zum Beispiel erleben wir in der Rolle des Ministers für Staatssicherheit. In die Position des Bundeskanzlers hat es Oskar Lafontaine geschafft. Gregor Gysi übernimmt den Part des putschenden Ministerratsvorsitzenden. Sahra Wagenknecht hingegen hat ihre Berufung im Schauspielfach gefunden. In einer solchen Welt mag es nicht wundern, dass der Ex-Berater des Staatsratsvorsitzenden ein übergelaufener westdeutscher Professor ist, der sich auch über zwanzig Jahre nach dem Wiederaufbau der Mauer noch immer der Vision von einem Deutschland hingibt, das aus den Fehlern beider Wirtschaftssysteme gelernt hat: Sein Plan D träumt von einem geeinten Deutschland unter dem Dach eines demokratischen, ökologischen und wohlhabenden Sozialismus.
Pflichtlektüre für alle, die nichts zu verbergen haben
Simon Urban beschreibt das Leben in seiner DDR 2.0 in derart klaren Farben, dass es einer, die fern der realen Deutschen Demokratischen Republik aufgewachsen ist, eine erschreckend deutliche Vorstellung davon gibt, was der Überwachungssumpf mit dem Individuum anrichten kann. Wenn alles und jeder ein Informant oder Denunziant sein kann – kann man dann überhaupt noch irgendjemandem vertrauen? Ist Misstrauen alles, was bleibt – gekrönt durch eine gute Portion Paranoia, die ihre Kreise im Beruflichen wie im Privaten zieht? Das ist kein Lebensziel, das einer erreichen möchte. So erscheint mir die Lektüre in dieser Hinsicht fast als Pflicht für all jene, die hierzulande schulterzuckend verkünden, Geheimdienste könnten gerne ihre Mails mitlesen, sie hätten ja nichts zu verbergen. Wenn das alles doch der Sicherheit diene, wer will da kleinlich sein. Vielleicht spüren eben diese den Atem der westlichen Staatssicherheit noch nicht genug in ihren Nacken, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass das mit dem Generalverdacht vielleicht doch nicht so eine gute Idee ist. Auch wenn sicherlich als Persiflage verstanden: Simon Urban trägt mit seinem Werk aus dem Jahr 2011 durchaus dazu bei, dem Bedürfnis nach der Unantastbarkeit der eigenen Privatsphäre eine noch tiefere Bedeutung zu verleihen. Oder es für manche überhaupt erst entstehen zu lassen.
Bleiwüsten voller Wortdurchfall
Wer aber mag Bücher, in denen ganze Seiten aus nur einem einzigen Satz bestehen? In denen reihenweise Doppelseiten nicht einen einzigen Absatz zeigen? In denen der Autor die volle Bandbreite seiner Sprachgewalt spielen lässt, mit Wortschöpfungen nur so protzt und Protagonisten in inneren Monologen und Zwiegesprächen mit verschwundenen, wahrscheinlich längst toten Vorgesetzten versacken lässt? Irgendwann hatte ich das Prinzip erkannt und wusste, dass ich großzügig über diese Wortdurchfälle hinweg scannen konnte: Je dichter die Bleiwüste, desto weniger Bedeutsamkeit für die eigentliche Handlung. Zumal diese so lähmenden Passagen im Wesentlichen nur dem ultimativen Lamentieren dienen. Lamentieren, so scheint es, ist eine echte Spezialdisziplin von Martin Wegener. Sein Lieblingsthema: dass sich seine Frau nach einem seiner Seitensprünge von ihm hat scheiden lassen und sich trotz intensiven Stalkings seinerseits nicht rückbesinnen mag. Wenn nun aber auch noch der attraktive West-Ermittler Richard Brendel mit seiner weltgewandten Art und der grundsätzlich vorgetragenen Freundlichkeit im Maßanzug und dem fetten Benz um die Ecke kommt – da muss sich das Ost-Würstchen in abgetragener Cordhose und dem nach Frittierfett stinkenden, weil Pflanzenöl verbrennenden Trabbi-Nachfolger natürlich in seiner Minderwertigkeit suhlen. Und wenn sich dann auch noch beim gemeinsamen Besuch auf dem FKK-Strand herausstellt, dass der Westler erheblich besser gebaut ist… Bitte, bleibt mir dann nur noch zu denken: Wer braucht das? Ich jedenfalls nicht.
Vorwarnung erwünscht: Explicit Content!
Immer wieder begegnen mir diese bevorzugt männlichen Schriftsteller in ihren mittleren bis späteren Jahren (Ausnahmen bestätigen die Regel), die offenbar glauben, ohne Schwanzvergleich käme keine Story aus – welchen Genres auch immer. Unerheblich, ob es die erzählte Handlung weiterbringt oder nicht: Die möglichst ordinäre Darstellung eigener sexueller Vorstellungen und Phantasien scheint in dieser Generation zum guten literarischen Ton zu gehören. Offenbar stößt dieses Vorgehen auch auf breite Gegenliebe: Sexuelle Phantasien steigern die Verkaufszahlen, die Anzahl der Auszeichnungen ebenso, selbst die Möglichkeit der Übersetzung in andere Sprachen. Nicht, dass ich grundsätzlich etwas gegen die Darstellung von Sexualität hätte. Nehmen wir zum Beispiel Sex and the City: Es wäre recht eigentümlich, wenn unter diesem Titel nicht ständig die Rede von Sex wäre (und das erledigen die vier Damen ja auch extrem unterhaltsam). Ich sehe nur im Zusammenhang mit einer Kriminalgeschichte im Rahmen einer historischen Utopie nicht ansatzweise die Notwendigkeit für ständige und lähmend lange Beschreibungen, was ein Polizist gerne mit seiner Ex oder einem russischen Barmädchen in der Kiste oder an sonstigen Orten treiben würde. Dummerweise gibt das der Titel nicht immer her. Plan D jedenfalls klingt jetzt nicht wirklich nach Pimpern, oder? Ebenso wenig der sonstige Text auf dem Cover. Können wir uns nicht auf eine Form der Vorwarnung einigen? Statt: »Im zerfallenden Ostberlin sucht Hauptmann Martin Wegener von der Volkspolizei nach den Schuldigen – und findet die Wahrheit über sein Land« könnte es doch auch heißen: »Im zerfallenden Ostberlin beschäftigt sich Volkspolizist Martin Wegener mit seinem unterentwickelten Selbstwerterleben, gibt sich sexuellen Phantasien hin und stalkt seine Ex-Frau. Außerdem sucht er nach den Schuldigen und findet die Wahrheit über sein Land.« Ein Aufkleber, wie er für Musikveröffentlichungen aus dem englischen Sprachraum bekannt ist (»Explicit Content« – hier allerdings als elterlicher Rat verstanden), würde im Zweifel aber auch schon das passende Zeichen setzen. Hey, das wäre echt hilfreich! Wem es gefällt, kann sich vorfreuen. Andere lassen vielleicht die Finger davon. So oder so: Immer gut, wenn drauf steht, was drinnen zu finden ist.